Die Astrophysik, sprich Kosmologie, befindet sich in der Krise. Und mit ihr die Teilchenphysik. Seit Jahrzehnten gibt es kaum nennenswerte Fortschritte. Und selbst das sogenannte Higgsteilchen - vor wenigen Jahren erst am Beschleuniger des CERN entdeckt - wird von manchem Kernphysiker mit Skepsis beäugt: wegen seiner unerwartet großen Masse passt es so gar nicht in das wohlproportionierte Tableau der 25 Kernteilchen und Kräfte in der Standardtheorie.
Das war von einem guten Jahrhundert noch ganz anders. Zu jener Zeit gab es am Berner Patentamt in der Schweiz noch einen hierarchisch ganz tief angesiedelten "Experten 3. Klasse", der - neben seiner Haupttätigkeit, der Prüfung eingereichter Patentanträge - in dem einzigen Jahr 1905 gleich zwei Entdeckungen (nebenher) machte, die man heute noch als "weltbewegend" bezeichnen darf.
Albert Einstein hieß der 25-Jährige, welcher in diesem Wunderjahr der Physik den "Photoeffekt" entdeckte und noch dazu die "Spezielle Relativitätstheorie" (SRT) aufstellte. Für den erstgenannten Effekt erhielt er 1921 den Nobelpreis der Physik; die spezielle Relativitätstheorie postulierte richtig, dass die Insassen einer abfliegenden Rakete weniger schnell altern als die Zurückgebliebenen.
Aber damit hatte der junge Mann sein Pulver noch nicht verschossen. Nur zehn Jahre später, nun Professor (ohne Lehrverpflichtung) an der Universität Berlin, veröffentlichte Einstein dort sein Hauptwerk, die "Allgemeine Relativitätstheorie" (ART). Sie deutet die Schwerkraft als geometrische Eigenschaft des gekrümmten vierdimensionalen Raums und beschreibt das Wechselspiel zwischen Materie sowie Raum und Zeit.
Beide Relativitätstheorien wurden bis heute mehr als hundert Mal experimentell bestätigt und bilden die Säulen der modernen Physik. Bemerkenswert ist, dass Einstein jede Unterstützung durch Doktoranden oder Assistenten ablehnte. Seine Theorien erarbeitete er selbstverständlich ohne Mithilfe von Computern, sondern nur durch Bleistift, Papier - und eigenem Grips.
Beispiel: Dunkle Materie
Diese Blütezeit der Physik hat nun ein Ende gefunden. Seit mehr als vierzig Jahren forschen tausende von Astrophysikern daran, beispielsweise die Struktur der Dunklen Materie aufzudecken. Ohne Erfolg. Dabei gibt es von dieser Art der Materie sechs Mal so viel wie von der uns bekannten sichtbaren Materie. Und sie muss existieren, denn sonst würden die Galaxien - wie unsere Milchstraße - infolge der Fliehkräfte auseinander gerissen werden. Schöne Theorien, wie die Supersymmetrie (wonach jedes bekannte Teilchen einen spiegelbildlichen Partner besitzt) haben sich bislang als nicht ergiebig erwiesen. Ebenso wie die Postulation der sogenannten "WIMP"-Teilchen, welche die beträchtliche Masse eines Goldatoms besitzen, aber beim Durchfliegen unseres Planeten Erde kaum einen einzigen Zusammenstoß erleiden sollen.
Die schiere Anzahl der Astrophysiker lässt jedes Jahr hunderte von Artikeln in den Zeitschriften Science, Nature und Physical Review entstehen. Jeder kleine Ausschlag in irgendwelchen Messdaten wird beäugt - und erweist sich bald darauf doch nur als Schwankung in der Statistik. Immer schneller wird publiziert und doch stellt sich alles später als "ambulance chasing" heraus: die konkurrierenden Kollegen jagen hinter dem "Rettungswagen" her wie Anwälte, die hoffen, dass es am "Unfallort" jemanden zu verklagen gibt. Publish or perish!
Stringtheoretiker unter sich
Die unterhaltsamsten (und billigsten) unter den theoretischen Kosmologen sind die "String"-Physiker. Nach ihren Vorstellung besteht das Universum nur aus winzigen schwingenden Fädchen. Ihren Rechnungen zufolge haben diese aber nicht nur drei Dimensionen, sondern neun oder zehn. Da unsere sichtbare Welt aber nun mal nur drei Raumdimensionen hat, haben die String- Rechenkünstler damit ein Problem. Um aus dem Dilemma herauszukommen, behaupten sie kühn, dass die überschüssigen Dimensionen "eingerollt" seien, ähnlich wie bei den japanischen Papierfiguren Origami.--- Besonders beeindruckend für Laien ist ihr Weltmodell "Multiversum". Die Stringleute postulieren nicht nur ein einziges Universum- nämlich das Unsrige - sondern deren viele. Mehr als unser Weltall Atome besitzt. Wow! Mit solchen Theorien kann man den physikalischen Amateuren besonders imponieren; leider lassen sie sich experimentell nicht verifizieren. Aber: man kann damit Preise gewinnen, wie den "Breakthrough"-Preis, den ein reicher Sponsor gestiftet hat. In der Höhe von drei Millionen Dollar, also etwa dem Dreifachen des Physik-Nobelpreises.
Beispiel: KATRIN
Auch am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) erlitt man schmerzhafte Erfahrungen beim Einstieg in die (experimentelle) Astrophysik. Der damalige Geschäftsführer Dr. Popp (nach einer verlorenen Hessenwahl als ehemaliger Ministerialbeamter ins Kernforschungszentrum Karlsruhe entsandt) machte dort eine Reihe erfolgreicher kerntechnischer Projekte (wie KNK II) platt und betrieb den Programmwechsel auf Nanotechnik und Astrophysik. Mit dem Experiment KATRIN wollte man die Ruhemasse des elektronischen Neutrinos messen. Der Experimentablauf wurde schon um das Jahr 2000 konzipiert und in einem "letter of intent" war der Sachaufwand auf 17 Millionen Euro beziffert. Die Bauphase sollte 2005 beendet sein; die Inbetriebnahme und erste Messungen waren für 2006 angesetzt. Just in diesem Jahr verließ der Initiator des Vorhabens, der genannte Dr. Popp, das Forschungszentrum und begab sich in den Ruhestand. Der abrupte Abgang überraschte einige Beobachter, nicht aber die Kenner der Situation.
Der Bau des 75 Meter langen Experiments erwies sich als komplizierter und zeitaufwendiger als vorbedacht. Er besteht aus einer hochintensiven und fensterlosen Tritiumquelle, einer Tritiumpumpstrecke sowie zwei Spektrometern. Eine wesentliche technische Herausforderung war das hohe Vakuum von 10 hoch minus11 Millibar. Im Jahr 2009 musste der Industriehersteller für den Kryostaten das Handtuch werfen und den Auftrag zurückgeben. Mit "Bordmitteln" d. h. einer Vielzahl von Diplom- und Doktorarbeiten wurde diese Klippe schließlich in Eigenregie überwunden. Logischerweise hatte sich die Inbetriebnahme des Experiments, die für 2012 angesetzt war, wieder mal entsprechend verzögert.
Nun ist der Beginn der Messungen für 2019 anberaumt; das Ende ist für 2023 geplant. Voraussetzung ist, dass der beschriebene 4-stufige Versuchsaufbau über diesen langen Zeitraum auch fehlerfrei funktioniert. Zur Energieanalyse werden in dem kleinen Spektrometer zunächst alle langsamen Elektronen aussortiert; im Hauptspektrometer wird dann die Energie nahe am Endpunkt präzise bestimmt. Dafür ist das genannte Ultrahochvakuum erforderlich und die Stabilität der Gegenspannung von 18,6 kV darf nur um weniger als ein Millionstel schwanken. Hohe Anforderungen!
Tiefe Skepsis beim Physiker-Nachwuchs
Vier Jahrzehnte permanenter Misserfolge hinterlassen ihre Spuren auch beim Physikernachwuchs. Die jungen Physikerinnen und Physiker, welche lange Zeit vom Gebiet der Astrophysik fasziniert waren (gemäß "Faust":
Sehen was die Welt im Innersten zusammenhält) sind tief verunsichert. Für sie stellt sich die Frage, ob sie auf diesem nebulösem Gebiet promovieren oder eine Postdoc-Tätigkeit aufnehmen sollen. Oder ob sie gar ihr ganzes Leben auf der Uni damit zubringen wollen - um schließlich im schlecht bezahlten akademischen "Mittelbau" zu enden.
Mehr und mehr nehmen davon Abstand, insbesondere seit vor wenigen Monaten der negative Ausgang des "Xenon Dark Matter Projekt" bekannt wurde. Dort wollte man mit 1.300 Kilogramm flüssigem Xenon die Wechselwirkung der WIMPs bestimmen - und fand nichts. Mittlerweile gibt es gewichtige Stimmen, welche die Dunkle Materie (und die Dunkle Energie) für ein Phantom halten, das in Wirklichkeit gar nicht existiert. Diese Annahme würde jedoch ein alternatives kosmologisches Modell erzwingen, das bereits unter dem Namen MOND (=Modifizierte Newtonsche Mechanik) heftig diskutiert wird. Darin wäre der Gravitationswert ortsabhängig und auch Teile der Einsteinschen Allgemeinen Relativitätstheorie würden ihr zum Opfer fallen. Für viele Physiker ein grauenhafter Gedanke, weshalb sie sich bislang scheuen, den "Reset"-Knopf zu drücken.
Auch die schiere Länge einzelner astrophysikalischer Experimente lässt die jungen Physiker nachdenklich werden. Beispiel: KATRIN. Falls dieses Vorhaben, optimistisch gerechnet, in fünf Jahren mit der Messphase zu Ende gehen sollte, dann hat es sich fast über ein Vierteljahrhundert hingezogen.Und dem Projektleiter Professor Guido Drexlin muss man das Beste wünschen, damit er das Ergebnis seiner langen Bemühungen noch in der Berufsphase erleben darf.
Denn: im Jahr 2023 geht der Professor in den Ruhestand.