Samstag, 24. Juni 2017

Brexit à la Carte?

Theresa May, die britische Premierministerin (PM), hatte von ihrem Vorgänger David Cameron eine passable Mehrheit von 17 Abgeordnetenstimmen im Londoner Unterhaus übernommen. Aber Theresa wollte mehr und sie deutete die politische Stimmung im Vereinigten Königreich (UK) so, dass für sie eine Mehrheit von 50 bis 100 Parlamentssitzen durchaus möglich sein müsste. Deshalb veranstaltete sie am 8. Juni eine sog. "snap election", eine vorgezogene Wahl, welche die britische Verfassung dem PM ohne besondere Angabe des Grundes (also anders als in Deutschland) jederzeit gestattet. Dabei erlitt Theresa eine klassische Bauchlandung. Sie verlor nicht nur ihre bisherige Unterhausmehrheit, sondern auch noch einige Stimmen dazu, so dass es zu einem sog "hung parliament" kam - einem Parlament ohne klare Mehrheitsverhältnisse für jede der darin vertretenen Parteien.

PM May war gezwungen sich einen Koalitionspartner zu suchen, was im Mehrheitssystem des UK (ebenfalls anders als in Deutschland) relativ selten vorkommt. Ihr Blick fiel auf die nordirische Kleinpartei "Democratic Union Party" (DUP), mit deren parlamentarischer Unterstützung sie die Mehrheit im Unterhaus numerisch gerade noch bewerkstelligen konnte. Aber die DUP ist eine sehr inhomogene Gruppierung, die bei den anstehenden Brexit-Abstimmungen vermutlich schwer zu handhaben sein wird. Dass die DUP strikt gegen Abtreibung und Homosexualität ist, mag gerade noch angehen, da diese Themen beim Brexit eher eine untergeordnete Rolle spielen. Aber, dass die DUP beim Handel mit Irland und der Europäischen Union (EU) am liebsten alles beim alten belassen möchte, ist schon ein beträchtliches Hindernis. Hinzu kommt, dass - anders als England - die DUP nichts gegen ausländische Zuwanderung hat, weil es in Nordirland an Arbeitskräften mangelt. Man wird sehen, ob diese volatile Partei die Premierministerin wirklich unterstützen kann.

Die Verhandlungsziele

Inzwischen haben die (Rest-) Europäer und die Briten ihre Chefunterhändler benannt. Für die EU ist es der 66-jährige Franzose Michel Barnier, oftmaliger Minister in französischen Kabinetten. Für das Vereinigte Königreich tritt der 69-jährige David Davis an, zur Zeit Minister für den Brexit im Kabinett May. Davis gab sich bis vor Kurzem noch sehr kämpferisch. Er will mit drei großen Forderungen in die Brexitverhandlungen gehen. Diese sind der weiterhin mögliche Zugang zum Binnenmarkt der EU, die nationale Kontrolle der Einwanderung und die Unabhängigkeit von der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs. Insgesamt strebt er einen "harten Brexit" an - whatever that is.

Sein Counterpart Barnier ist da etwas vorsichtiger. Für ihn (und die 27 verbleibenden EU-Staaten) stellt sich nicht in erster Linie die Frage nach einem harten oder weichen Brexit. Er will zuerst drei konkrete Probleme angehen: das künftige Grenzregime zwischen Nordirland und der zur EU gehörigen Republik Irland, die Rechte der 3,2 Millionen EU-Bürger, welche derzeit in Großbritannien leben und die bilanzielle "Austrittsrechnung" für die Briten, welche auf 50 bis 100 Milliarden Euro geschätzt wird. Da das Vereinigte Königreich künftig als Beitragszahler für die EU ausfällt, ist diese Einmalzahlung für den Kontinent sehr bedeutsam.

Einig ist man sich darüber, dass die Verhandlungen in eindreiviertel Jahren, also bis zum Frühjahr 2019 abgeschlossen sein sollen. "Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne", heißt es in einem Gedicht von Hermann Hesse. Dies ist bei den Brexitverhandlungen eher nicht der Fall. Im Gegenteil: auf beiden Seiten herrscht beträchtliche Unsicherheit bis hin zur schieren Angst über einen vorzeitigen Kollaps der Gespräche.


Die EU geht auseinander

Modelle der Zusammenarbeit

Die 28 Staaten der EU arbeiten bereits seit vielen Jahren mit Ländern außerhalb der Union auf verschiedenen Gebieten zusammen. Großbritannien (GB) könnte den Verhandlungsprozess verkürzen, wenn es auf eines dieser Modelle zurückgreifen würde. Vor "Rosinenpickerei", also einseitiger Vorteilsnahme, hat die deutsche Kanzlerin allerdings bereits vor Monaten gewarnt.

1. Das Modell Norwegen:
Akzeptiert Großbritannien dieses Modell, so würde es sich, zusammen mit Island und Lichtenstein, im "Europäischen Wirtschaftsraum" (EWR) wiederfinden. Die Handelsregeln blieben weitgehend die gleichen - allerdings unter Ausschluss der Landwirtschaft, was die britischen Bauern am Wegfall der Agrarsubventionen spüren würden. GB hätte jedoch alle EU-Regeln zu akzeptieren, ohne diese in Zukunft beeinflussen zu können. Das Land müsste auch erhebliche Geldbeträge nach Brüssel überweisen und die EU-Gerichtsbarkeit als übergeordnet anerkennen. Hinzu käme die volle Freizügigkeit der Migration für Zu- und Abwanderung. Insbesondere letzteres wäre für die britischen Euroskeptiker sicherlich eine harte Nuss.

2. Das Modell Schweiz:
Dieses Modell kann man als eine Art "EWR minus" charakterisieren. Das Alpenland hat nur zu einigen Sektoren des EU-Binnenmarkts freien Zugang. Wie Norwegen muss es dafür zahlreiche EU-Regeln einhalten und erhebliche Geldsummen nach Brüssel überweisen. Der für London so wichtige Sektor der Bankdienstleistungen ist in diesem Modell nicht enthalten. Dafür wird von der Schweiz die volle Freizügigkeit der Menschen erwartet. Auch dieses Modell wird die Briten vermutlich nicht begeistern.

3. Das Modell Ukraine:
Die Zusammenarbeit der EU mit der Ukraine wurde im Januar 2016 beschlossen und könnte eine Basis für die Kooperation mit den Briten sein. Insbesondere deswegen, weil es die Bedingung zur freien personellen Migration nicht enthält. Es müsste allerdings auf verschiedenen Sektoren, zum Beispiel den Finanzdienstleistungen, "aufgebohrt" werden. Auch dafür müsste GB erhebliche Beiträge nach Brüssel überweisen.

4. Das Modell WTO:
Wenn sich die Parteien auf kein anderes Modell einigen können, dann könnte der zukünftige Handel nur noch nach den Regeln der Welthandelsorganisation WTO ablaufen. Der Zugang der Briten zum EU-Binnenmarkt wäre dann ähnlich beschränkt wie zum Beispiel der eines Landes wie Neuseeland. Vor allem für die englische Finanzbranche wäre dieses Modell eine Katastrophe.

5. Das Modell "No Deal":
Würde man sich auf gar keine Zusammenarbeit einigen können, dann gäbe es auch keinen "Deal". Das wäre der "GAU" für die Menschen außerhalb ihrer Heimatländer sowie für alle Wirtschaftsunternehmen auf der Insel. Bei entsprechendem Verantwortungsbewusstsein der beiden verhandelnden Seiten dürfte diese Situation nicht eintreten.

6. Das Modell "Abermaliges Referendum":
Nicht unwahrscheinlich ist, dass es abermals zu einem Referendum kommt, wenn die britischen Politiker (und die Bevölkerung) erkennen, dass der Brexit ein Eigentor war. In diesem Fall prognosziere ich eine satte 70:30 - Mehrheit für den Verbleib in der EU.


Englische Finessen

Geradezu anrührend ist - für Beobachter vom Kontinent aus - wie man in England an jahrhundertealten Gebräuchen geradezu eisern festhält, auch wenn man dadurch in extreme Zeitnot gerät. Ein Beispiel dafür ist die kürzliche Rede der Königin zur Beginn der jährlichen Sitzungen des Unterhauses, genannt "Queens Speech". Dabei liest die Königin eine Rede vom Blatt ab, welche ihr die Premierministerin vorher aufgeschrieben hat. Diese Woche kam Mrs. May aber in extreme Zeitnot, weil die 10-köpfige irische Minipartei DUP dem Text partout nicht zustimmen wollte. Dadurch verzögerte sich auch die Herstellung des Redemanuskripts, denn dieses musste traditionsgemäß von einem Kalligraphen auf Ziegenhaut geschrieben werden. Da der Trocknungsprozess dafür aber zwei volle Tage in Anspruch nimmt, konnte die Queen ihre Rede erst am vergangenen Mittwoch ablesen.

Mit manchen Passagen des Redetextes wird die Queen nicht einverstanden gewesen sein, so zum Beispiel beim beabsichtigten Austritt ihrer Briten aus der Europäischen Gemeinschaft. Da Her Majesty aber kein Komma ändern darf, hat sie ihre königliche Meinung wohl dadurch bekundet, dass sie sich für diesen Anlass in die blaue Farbe der Europafahne gekleidet hat. Diese symbolische Deklaration ist gerade noch statthaft und wird sicherlich keinem der 650 Abgeordneten des Unterhauses entgangen sein wird.


Ihre Majestät beim Vortrag der "Queens Speech" (am 21. Juni 2017)

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