Sonntag, 21. August 2016

Wagner Festspiele Bayreuth 2016: "Parsifal" zwischen Werkstatt und Werktreue

Diesmal war in Bayreuth, meiner oberfränkischen Heimat, vieles anders. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel kam (angeblich wegen der Terroranschläge in Würzburg und Ansbach) nicht zur Eröffnung der Wagner-Festspiele. Als Folge wurde kein roter Teppich ausgerollt, es kam kein Fernsehen und konsequenterweise blieben die Promis von Seehofer bis Gottschalk der Premiere zum "Parsifal" fern. Das bescherte manchem Musikstudenten eine (wohl verbilligte) Eintrittskarte, weil auch die Industriekapitäne, welche üblicherweise mit angemietetem Rolls-Royce den Hügel empor fahren, ganz plötzlich nach Dubai oder Schanghai mussten, um dort einen Großauftrag zu verhandeln.

Trotzdem: die Erwartung beim (kenntnisreichen) Premierenpublikum war die Gleiche wie eh und je. Man war gespannt auf die die Neuartigkeit der Inszenierung (im Sinne der Bayreuther "Werkstatt"), erwartete aber bei der Musik absolute Werktreue nach den Vorgaben des Komponisten. Für den echten Wagnerianer bestehen die 10 Opern von Richard Wagner - Tristan, Holländer, Tannhäuser, Lohengrin, Meistersinger, Parsifal sowie Rheingold, Walküre, Siegfried und Götterdämmerung - die traditionsgemäß auf dem Festhügel gespielt werden, nur aus drei Dingen: den Regieanweisungen, dem Text und der Musik samt Gesang.

Dabei gelten verschiedene Regeln. Die Regieanweisungen, welche jedermann aus den gelben Reklamheftchen kennt (und welche viele Festspielbesucher immer mit sich tragen!), dürfen nicht nur, sondern müssen negiert werden. Der Regisseur und seine engsten Mitarbeiter, der Bühnenarchitekt und der Kostümbildner, haben da viel Gestaltungsfreiheit. Sie dürfen die Handlung von den mythologischen Zeiten bis in die Gegenwart verlegen, den Fliegenden Holländer mit Rollkoffer und den Lohengrin mit Laptop ausstatten - aber nur so weit, wie das kritische Bayreuther Publikum bereit ist mitzugehen. Das ist dort immer ein Wagnis. Wer traditionelles (und langweiliges) Theater will, muss die Aufführungen der Met in New York besuchen. Immerhin: Veränderungen am Text und an der Partitur sind jedoch in Bayreuth tabu! Von daher gesehen, laufen Sänger, Orchester und vor allem der Dirigent  geringere Gefahr, zum Schluss ausgebuht zu werden.



Das Festspielhaus auf dem Grünen Hügel

Die Inszenierung des Parsifal

Die "Story" für den Parsifal hat Richard Wagner über 30 Jahre hinweg beschäftigt. Die Handlung basiert auf dem Leben der historischen Gestalt des "Parzival", beschrieben in den mittelalterlichen Epen des Wolfram von Eschenbach. Demnach haben Engel dem Ritter Titurel den Speer überbracht, der Jesus Christus nach der Kreuzigung in die Seite gestoßen wurde, sowie die Schale - den Heiligen Gral - in der das Blut aufgefangen wurde. Titurel sammelte Gralsritter um sich in der spanischen Gralsburg Monsalvat, um diese Reliquien zu hüten. Nebenan war das Reich des Zauberers Klingsor und der geheimnisvollen Frau Kundry. Amfortas, der Sohn Titurels, wollte Klingsors Reich vernichten. Dieser entriss ihm jedoch den heiligen Speer und schlug ihm eine Wunde, welche sich nicht mehr schließen wollte. Hilfe konnte, gemäß einer Prophezeihung, nur von einem "reinen Tor", nämlich Parsifal, kommen, der den Speer zurückholen würde. Dies gelang auf vielen Umwegen und ist die eigentliche Geschichte der Oper.

Regisseur des 2016er Parsifal in Bayreuth war Uwe Eric Laufenberg, nachdem Katharina Wagner den Vorgänger Jonathan Meese kurzfristig gefeuert hatte, weil dieser Provokateur sich nicht enthalten konnte immer wieder mal den Hitlergruß zu zeigen und die Gralsritter als "Penner" auftreten lassen wollte. Laufenberg verortete die Ritter vom Heiligen Gral in den Nahen Osten, der Wiege des Christentums und dort in eine zerschossene Kirche. Klingsor, der sich einst wegen seiner starken Lüste selbst entmannte, präsentiert er als Sammler von Kruzifixen. Die berühmte Szene, in der Klingsor den Heiligen Speer auf Parsifal schleudert, wirkt enttäuschend und ulkig gleichermaßen. Während der Speer in Wagners Libretto in der Luft zum Stehen kommt, windet der junge Recke in Bayreuth dem alten Zauberer die Waffe aus der Hand und zerbricht den Speer. Klingsors Reich ist als Harem gestaltet, die verführerischen Blumenmädchen sind logischerweise Haremsdamen. Nach Jahren der Reifung kehrt Parsifal als moderner Kämpfer zurück mit Kalaschnikow und schusssicherer Weste. Amfortas darf nun sterben. In seinen Sarg wandern gleich alle Symbole der Christen, Juden, Muslime und Buddhisten mit. Parsifal wird der neue Chef der Gralsritter. Jesus Amfortas Superstar!

Laufenbergs Inszenierung fand nur den geteilten Beifall des Premierenpublikums. Vereinzelte Buhrufe waren unüberhörbar. Aber das ist Tradition in Bayreuth; die Regisseure haben es dort schwer. Nach Ablauf einiger Jahre wird deren Präsentation aber zumeist wohlwollend hingenommen, ja manchmal sogar überschwenglich gelobt. Eine Ausnahme bildet aber die Ring-Inszenierung von Frank Castorf. Der Transfer von den mythologischen Wäldern zu einem Bistro in Berlin-Alexanderplatz war zu krass. Erstmals bleiben in Bayreuth die Zuschauer fern. Kein Wunder, dass der Castorf-Ring 2017 abgesetzt werden soll.


Musik und Dirigent

Für die Inszenierung einer Oper ist der Regisseur zuständig, für die Musik der Dirigent. Beim Bayreuther Parsifal 2016 benötigte Laufenberg für die Etablierung der Regie zwei Jahre, beginnend mit der  Durchdringung des bei Wagner sehr verschraubten Libretto-Textes, der Konzeption und Realisierung der Bühnenbilder, den Stellproben der Sänger, bis hin zu den Kostümen und Masken. Für die Proben mit dem Festspielorchester und den Sängern standen diesmal nur zwei Wochen zur Verfügung - und es klappte. Woher diese Unterschiede? Nun, es war ein Sonderfall. Am 8. Juli, nachdem man schon vier Wochen intensiv mit dem Orchester geprobt hatte, kam es offensichtlich zum Krach zwischen  zwei "Alpha-Tieren" , dem Dirigenten Andris Nelsons und dem Künstlerischen Leiter Christian Thielemann. Der Lette Andris fühlte sich zu sehr gegängelt, schmiss hin und entschwand. Ein neuer Dirigent wurde benötigt, und zwar schnell. Katharina brachte die Telefondrähte zum Glühen, aber weder Daniel Barenboim noch Sir Simon Rattle wollten einspringen. So verfiel man auf den 73-jährigen Hartmut Haenchen, einen formidablen Dirigenten, gewiss, aber in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Zudem hatte er keinerlei Bayreuth-Erfahrung. Am 11. Juli traf er auf dem Grünen Hügel ein; zwei Wochen darauf, am 25. Juli sollte die Premiere des Parsifal stattfinden.

Maestro Haenchen durfte deshalb keine weitere Zeit verlieren, weswegen er von früh bis Mitternacht probte. Insgesamt absolvierte er in dieser relativ kurzen Zeit zwei Orchesterproben, zwei Bühnenproben mit Orchester für den ersten Aufzug, je eine für den zweiten und dritten Aufzug, eine Korrekturprobe sowie Hauptprobe und Generalprobe. Hinzu kamen weitere Proben mit dem Chor sowie den Solisten, letzteres auch noch nach der Generalprobe. Dabei blieb Haenchen werktreu - buchstäblich bis zum letzten Halbton. Dafür ein Beispiel: im dritten Aufzug, Takt 1068, spielte ein Teil des Orchesters ein C, der andere ein Cis. Als man sich nicht einigen konnte, ging der Dirigent ins Wagner-Archiv, studierte dort die Uraufführungspartitur und stellte fest, dass man in Bayreuth an dieser Stelle ein Cis intonieren sollte. Der Streit war geschlichtet. Ob es viele im Publikum gehört hätten, mag bezweifelt werden. Als Orchesterleiter hat man allerdings im Graben des Festspielhauses auch den schlechtesten Platz; man kann oft nur ahnen, wie die Musik im Saal ankommt. Gewisse Freiheiten nehmen sich die Dirigenten nur bei den Tempi. So hat Haenchen den Parsifal wesentlich schneller dirigiert als sein Vorgänger Arturo Toscanini. Zum Schluss erhielt der Maestro - im Gegensatz zu seinem Regiekollegen Uwe Laufenberg - vom Premierenpublikum und den allermeisten Kritikern rauschenden Beifall. Im Sinne von Parsifal war er zum "Erlöser" geworden.


Der Jahrhundert-Ring

Das kurzfristige Auswechseln von künstlerischem Führungspersonal hat in Bayreuth schon Tradition. In besonderer Erinnerung bleibt der sogenannte Jahrhundert-Ring. Im Jahr 1976, zum hundertjährigen Bestehen der Bayreuther Festspiele, wollte der damalige Intendant und Wagnerenkel Wolfgang Wagner den  Ring der Nibelungen aufführen lassen. Als Regisseur hatte er Peter Stein, damals Leiter der Berliner Schaubühne, ausersehen. Stein, politisch weit links stehend, stellte seine Forderungen: die Bayreuther Bühne und der Zuschauerraum sollten nach seinen Vorstellungen umgebaut werden - außerdem wollte Stein keinesfalls den damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Joseph Strauß beim Premierenempfang treffen. Der fränkisch-konservative Wolfgang Wagner lehnte ab und verpflichtete stattdessen den noch weitgehend unbekannten Patrice Chéreau mit Pierre Boulez als Dirigent.

Dem jungen Schauspielregisseur gelang ein Meisterstück. Er stützte sich in der Konzeption auf den Briten George Bernard Shaw und seine hellsichtige Analyse des Rings The Perfect Wagnerite - A Commentary of the Niblung Ring, welche bereits 1889 in London erschienen war. Darin deutet Shaw den Ring als Parabel auf die sozio-ökonomischen Umbrüche des 19. Jahrhunderts und interpretiert ihn als Drama der frühindustriellen Gegenwart. Chéraeu und sein Bühnenbildner Richard Peduzzi folgten diesem Grundsatz und kreierten einprägsame Bilder von einem Stauwehr am Rhein zu Beginn des Rheingolds.

Trotzdem: die Premiere schockierte große Teile des Publikums und führte zu gewaltigen Protestaktionen auf dem Grünen Hügel. Es kam zur Verteilung von Flugblättern gegen diese Inszenierung, ja sogar zu Schlägereien. Chéraeau erschien weiten Teilen des Publikums als "linker Revoluzzer". Aber bald legte sich die Aufregung und die Einsicht in die hohe szenische und darstellerische Intensität gewann die Oberhand. Bei der letzten Aufführung, 1980, gab es nur noch frenetischen Jubel. Mit einem Applaus von neunzig Minuten Länge und der eindrucksvollen Zahl von 101 Vorhängen (beides Rekorde in Bayreuth) wurde die Inszenierung verabschiedet.

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