Freitag, 17. Juni 2016

Pippi Langstrumpf und ihre Kriegsberichtserstatterin

Jedermann kennt Astrid Lindgren, insbesondere die Kinder. Die Schwedin ist die wichtigste Kinderbuchautorin des 20. Jahrhunderts. Ihre Bücher wurden in 96 Sprachen übersetzt und mehr als 150 Millionen Mal verkauft. Berühmt sind u. a. Pippi Langstrumpf, die Brüder Löwenherz und Michel aus Lönneberga. Der Michel faszinierte unseren Sohn Michael so sehr, dass ihm seine Mutter Brigitte das Buch drei Mal hintereinander vorlesen musste. Und immer wieder lachte Michael schallend, wenn sein Namensvetter Michel - um die Reste der Suppe auszuschlürfen - seinen Kopf in einen Kochtopf zwängte, aus dem ihn der Doktor befreien musste.

Aber Astrid war nicht nur eine Kinderbuchautorin, sondern - was wenige wissen - auch eine Chronistin des Zweiten Weltkriegs. In einem guten Dutzend Tagebüchern  beschrieb sie die Ereignisse dieser weltumspannenden Katastrophe von 1939 bis 1945, vom Überfall auf Polen bis zur Kapitulation der Japaner - und zwar parallel zu ihrem Hauptwerk Pippi Langstrumpf. Erst nach ihrem Tod im Jahr 2002 wurden diese Kriegstagebücher unter dem Titel "Die Welt hat den Verstand verloren" veröffentlicht; in Deutschland vom Verlag Ullstein (576 Seiten, 25 Euro). Meinen Bloglesern seien sie sehr empfohlen.



Astrid Lindgren und Pippi Langstrumpf (Schauspielerin)

Mehr als 70 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs herrscht an Büchern darüber kein Mangel. Viele sind von sehr kundigen Historikern verfasst. Was Lindgrens Werk jedoch auszeichnet ist die persönliche und emotionale Authentizität; sie hat alles selbst beobachtet und erlebt.  Bei Kriegsausbruch war Astrid 32 Jahre alt und arbeitete als Sekretärin beim "Königlichen Automobilclub". Kurze Zeit darauf wurde sie in die "Abteilung für Briefzensur" des schwedischen Nachrichtendienstes versetzt. Lindgren hatte in der Schule Deutsch gelernt, konnte die deutsche Post lesen und sollte sie auf "landeskritische Inhalte" durchsehen. Diese Arbeit gab ihr die Anregung und gleichzeitig genügend Zeit für die Dokumentation des Kriegsgeschehens in ihren Tagebüchern. Immer wieder spricht sie darin die heikle politische Situation Schwedens an, ein Land das - ähnlich wie die Schweiz - zur Neutralität verpflichtet war, sich aber der Kollaboration mit den Nazis nicht ganz entziehen konnte, weil es sonst von Hitler überrollt worden wäre.

Die Zeit der Blitzkriege

Am 1. September 1939 beginnt Astrid Lindgren ihre Tagebuchaufzeichnungen mit: Heute hat der Krieg begonnen. Niemand wollte es glauben. (Zitate in Schrägschrift). Die deutsche Wehrmacht hatte zur Nachtzeit die Ostgrenze überschritten und das Nachbarland Polen angegriffen. Zwei Tage darauf erklärten England und Frankreich (aufgrund wohlbekannter Beistandsverpflichtungen) der deutschen Regierung den Krieg. Schon eine Woche später besetzen Hitlers Truppen die polnische Hauptstadt Warschau. Am 17. September marschieren, ganz unerwartet, die Russen von Osten her in Polen ein - angeblich um die Rechte der russischen Minderheit zu wahren. Am 3. Oktober 1939 kapituliert Polen. Lindgren: Deutschland und Russland haben das Land zwischen sich aufgeteilt. Man kann kaum glauben, dass so etwas im 20. Jahrhundert passiert. (Lindgren spricht in ihren Tagebüchern nie von den "Sowjets" sondern immer nur von den "Russen". Diese Diktion wird hier übernommen.

Am 30. November 1939 fällt Russland in Finnland ein. Die Russen haben heute Helsinki und einige andere Orte in Finnland bombardiert. Man würde am liebsten nicht mehr leben. In Schweden wird die Rationierung eingeführt; selbst Schmierseife ist nur noch in Kleinstmengen erhältlich. (Von nun an beschreibt Lindgren immer wieder mit peinlichster Genauigkeit die Nahrungsmittelbestände in ihrem Kühlschrank). In einem harten Winterkrieg wehren sich die tapferen Finnen aufs heftigste, müssen aber der russischen Übermacht weichen und am 13. März 1940 kapitulieren. Russland nimmt sich einige strategisch wichtige Teile von Finnland, u. a. die eisfreien Häfen.  Im Juli 1940 überfällt Russland die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen und gliedert sie der Sowjetunion ein. Im November 1918 hatte der Völkerbund noch deren Selbstständigkeit proklamiert.

Auch Hitler richtet seinen Blick auf Skandinavien. Am 9. April 1940 wird Dänemark - ohne Widerstand zu leisten - von den Deutschen besetzt. Gleichzeitig wird auch Norwegen angegriffen, um die Eisenerztransporte von Narvik nach Deutschland zu sichern, wie Lindgren vermutet. Schweden mobilisiert, wobei Astrids Ehemann Sture  als Landsturmmann eingezogen wird. Viele norwegische Städte werden durch  Bombenangriffe zerstört und es herrscht große Verbitterung gegenüber England, wegen der mangelnden Hilfe. Ohne Verbündete (die Engländer waren abgezogen) legte Norwegen einen Monat später die Waffen nieder.

In der Zwischenzeit, am 10. Mai 1940, sind deutsche Truppen in breitester Front in Holland, Belgien und Luxemburg eingedrungen. Gemäß Hitlers Tagesbefehl soll dieser Kampf das Schicksal der deutschen Nation für die nächsten tausend Jahre entscheiden. Fünf Tage später kapitulierte Holland, die weitflächige Flutung des Landes war kein Erfolg. Am 18. Mai wird Brüssel besetzt und die Wehrmacht steht (nach dem Durchbruch der Maginotlinie) zehn Meilen vor Paris. Als auch die Festung Verdun fällt - welche im 1. Weltkrieg so tapferen Widerstand geleistet hatte - vermerkt Lindgren in ihrem Tagebuch: Pauvre France! Gestern hat die französische Armee kapituliert. Die Hakenkreuzfahne flattert vom Eiffelturm.

Auch der Achsenverbündete Italien wollte seine Stärke beweisen und griff ohne Grund im Oktober 1940 das neutrale Griechenland an. Aber die Griechen wehrten sich erfolgreich und trieben die Italiener innerhalb eines Monats aus ihrem Land. Im April des folgenden Jahres nahm die deutsche Wehrmacht Revanche und besiegte Griechenland sowie einige weitere Balkanstaaten innerhalb weniger Wochen in harten Kämpfen. Lindgren am 3. Mai 1941: Der deutsche Feldzug in Griechenland ist beendet. Den Engländern ist wiederum "die Einschiffung" gelungen. Das konnten sie schon immer gut.

In der Tat: England hatte sich nicht nur in Griechenland (ruhmlos) aus dem Staube gemacht, sondern vorher schon in Norwegen und Dünkirchen, wo sie ungeheure Verluste an Kriegsmaterial  erlitten hatten. So war der Austausch des englischen Premierministers keine Überraschung mehr. Am 9. Mai 1941 musste der friedliebende, aber auch etwas naive Neville Chamberlain dem Kriegsherrn Winston Churchill weichen. Die Bombenkriege auf die englischen und deutschen Städte wurden immer härter.

Die Niederlage in den Weiten Russlands

Am 22. Juni 1941 schreibt Lindgren in ihr Kriegstagebuch: Heute morgen, um einhalb fünf, haben die deutschen Truppen die russische Grenze überschritten. Unvorstellbare Truppenmassen stehen sich jetzt beiderseits der Grenzen vom Eismeer im Norden bis zum Schwarzen Meer im Süden gegenüber. Anfangs November befanden sich die deutschen Soldaten bereits vier Kilometer vor Moskau. Im Süden hatten sie die Krim und den Hafen Sewastopol eingenommen, wenn auch unter ungeheuren Verlusten an Menschen und Material. Astrid: Der WELTKRIEG Nr. 2 ist jetzt eine Tatsache. Kurz vor Weihnachten 1941erklärte Japan, nach den Angriffen auf Pearl Harbour, den USA den Krieg. Die deutsch-italienischen Achsenmächte zogen mit und gaben ihrerseits die verhängnisvolle Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten ab.

Im eiskalten Winter 1941/42 geriet die deutsche Offensive ins Stocken. General von Brauchitsch musste als Sündenbock herhalten und wurde von Hitler entlassen. Der ehemalige Gefreite im 1. Weltkrieg übernimmt nun selbst das Kommando. Aber die Festung Stalingrad will nicht fallen. Lindgren schreibt in ihr Tagebuch: Die armen Deutschen frieren in ihren Erdlöchern, deren Ausgänge von russischen Scharfschützen bewacht werden. Ich habe Mitleid mit den deutschen Soldaten. Aber der Oberbefehlshaber Hitler verfügt, dass die Sechste Armee in ihren Stellungen aushalten muss. Und zudem hungert ganz Europa. Astrid: In Belgien fallen die Menschen auf der Straße vor Hunger in Ohnmacht. In Griechenland sterben täglich tausende von Menschen vor Hunger. Man hat keine Kraft sie zu beerdigen, sondern wirft sie einfach auf einen Friedhof.

Ich überspringe jetzt die folgenden zwei Jahre grausamer Kriegsführung samt der permanenten Luftangriffe auf die deutsche Bevölkerung. Aber am 6. Juni 1944 jubelt Astrid geradezu: INVASION, endlich! Die alliierten Truppen sind an Land gegangen. Stalin hatte diesen Schritt immer wieder gefordert: die zweite Front, um seine Ostfront zu entlasten. Die weiteren Eintragungen bis zur Kapitulation Deutschlands  (7 Mai 1945: Das ist der Tag des Sieges, der Krieg ist aus) werden immer spärlicher - und das hat seinen Grund. Astrids geliebter Ehemann Sture hatte beim Automobilclub Karriere gemacht und sich bei dieser Gelegenheit eine Freundin zugelegt. Lindgren leidet unter dieser Situation, die Ehe ist in Gefahr. Ein Erdrutsch ist über mein Leben hereingebrochen und ich bleibe einsam und frierend zurück. Sture kam ein halbes Jahr lang kaum nach Hause und verfiel immer mehr dem Alkohol, was 1952 zu seinem frühen Tod führte.

Es grenzt an ein Wunder, dass in dieser schweren Kriegszeit  Lindgren sich auch mit Kindergeschichten beschäftigen konnte.  Die Romanfigur der "Pippi Langstrumpf" schwirrte Astrid  seit 1941 im Kopf herum. Immer wieder erzählte sie - häufig aus dem Stegreif - Pippis fiktive Abenteuer ihren Kindern Lars und Karin sowie deren  Freunden aus der Nachbarschaft. Im Jahr 1944 getraute sie sich endlich die Geschichten aufzuschreiben. Das Manuskript sandte sie an den renommierten schwedischen Kinderbuchverlag Albert Bonniers Förlag A/B in Stockholm. Zur großen Enttäuschung erhielt sie eine glatte Absage. Die Erlebnisse der Pippi, eines kleinen frechen "Übermenschen  in Kindsgestalt", kamen dort nicht gut an. Angesichts des späteren Welterfolgs der Pippi Langstrumpf bei vielen anderen Buchverlagen werden sich einige im Bonniers-Verlag wohl in sonstwas gebissen haben.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Impressum

Angaben gemäß § 5 TMG:

Dr. Willy Marth
Im Eichbäumle 19
76139 Karlsruhe

Telefon: +49 (0) 721 683234

E-Mail: willy.marth -at- t-online.de