Ich muss gestehen, dass mir dieses Argument bis dato fremd war. Nach vertieften Einsteigen in die RWE-Historie bin ich jedoch zu der Überzeugung gekommen, dass der RWE-Chef nicht ganz unrecht hat. Im Nachfolgenden deshalb ein Schnelldurchlauf durch die Geschichte dieses Konzerns seit 1955.
50er Jahre: Skeptisches Beobachten
Im Gefolge der Genfer Atomkonferenz Mitte der 50er Jahre, beschloss die deutsche Bundesregierung im Oktober 1957 ihr erstes Atomprogramm. Zum Ärger des Bonner Atomministers Siegfried Balke beteiligte sich RWE, der damals größte Stromkonzern, daran nur ganz marginal. Das Unternehmen orientierte sich in Richtung Braunkohle; die Risiken der weithin unbekannten Kernkraftwerke waren ihr zu unübersichtlich. Ein dedizierter Gegner war das Vorstandsmitglied Helmut Meysenburg, damals zuständig für den Vertrieb von Strom. Zusammen mit seinem Kostenberater Oskar Löbl kam Meysenburg zu der Überzeugung, dass die Kapitalkosten der damals propagierten Atomkraftwerke schlicht zu hoch waren.
Helmut Meysenburg, RWE-Vorstandsmitglied 1957 - 1974
Aber RWE beobachtete die nukleare Szene ganz genau. Eine kerntechnische Abteilung wurde eingerichtet und der aus Prag kommende Dr. Heinrich Mandel mit der Leitung beauftragt. Und der ehemalige Technik-Vorstand bei RWE, Heinrich Schöller, ging nach seiner Pensionierung zum Kernforschungszentrum Karlsruhe, wo er als Geschäftsführer den Bau des Kernkraftwerks MZFR intensiv verfolgen konnte. Im Jahr 1958 wagte sich RWE sogar an die Bestellung eines kleinen 15 Siedewasserkernkraftwerks bei AEG und General Electric. Schöllers Kommentar: "Wenn der deutsche Staat durch übereilten Bau von Kernkraftwerken schon Dummheiten macht, dann machen wir diese Dummheiten lieber selber, um sie unter Kontrolle zu halten".
60er Jahre: Deutliches Bremsen
VAK wurde ein Erfolg. Das kleine Kernkraftwerk nahm 1961 den Betrieb auf und lief relativ störungsfrei bis zu seiner Stilllegung im November 1985. Dr. Mandel, inzwischen auf dem Weg zum Honorarprofessor, wurde vom Aufsichtsratsvorsitzenden der RWE, Bankier Hermann Joseph Abs, zum stellvertretenden Vorstandsmitglied ernannt. Die Bonner Ministerialbürokratie drängte RWE nun auch den nächsten Schritt zu gehen und das 250 MW Atomkraftwerk Gundremmingen A endlich (zusammen mit dem Bayernwerk) in Angriff zu nehmen. Aber Meysenburg und seine Braunkohlefraktion ließ sich nicht überrumpeln. Erst als der Bund schriftlich erklärte, alle, über ein normales fossiles Kraftwerk hinausgehende Mehrkosten und Risiken zu übernehmen, stimmte RWE dem Bau zu. In Bonn schäumte man, kostete dieser Deal der Regierung doch mehr als 200 Millionen DM.
Danach überließ RWE volle sieben Jahre lang (bis 1969) das kerntechnische Feld der Konkurrenz. Die Kernkraftwerke Lingen (225 MW-1964), Obrigheim (328 MW-1964), Stade (630 MW-1967) und Würgassen (640 MW-1967) gingen in Bau, ohne dass RWE ein eigenes Projekt auf Kiel legte. Gerhard Stoltenberg, inzwischen Atomminister, wurde ungeduldig und sandte im November 1966 einen Brief an RWE, worin er den Vorstand des Konzerns aufforderte, einen "Katalog mit Bedingungen" für Kernkraftaufträge zusammen zu stellen. Das Essener Antwortschreiben kam am 22. Dezember, rechtzeitig zum Weihnachtsfest, im Bonner Ministerium an. Es las sich wie ein Kompendium damaliger Anti-Kernkraftargumente. Zwar sei man an der Forschung zur Kernkraft "äußerst interessiert", aber die Braunkohle habe "eindeutig den Vorrang". Im übrigen leide man schon jetzt an "erheblichen Überkapazitäten". Minister Stoltenberg war stocksauer.
70er Jahre und folgende: Akzeptanz der Kernkraftwerke bei RWE
Die 70er Jahre waren das Jahrzehnt des Heinrich Mandel. Volle sieben Jahre hatte der Intimfeind Meysenburg seinen Aufstieg zum ordentlichen Vorstandsmitglied blockiert; 1968 musste dieser einknicken und Mandel hatte nun endlich die Gestaltungsfreiheit im kerntechnischen Bereich bei RWE. Für bloße 2 Milliarden DM insgesamt beschaffte er bei Siemens/KWU die Kernkraftwerke Biblis A und B, welche beide - erstmals - der 1300 MW-Klasse angehörten und sich viele Jahre lang als wahre "Gelddruckmaschinen" erweisen sollten. Die Ölkrise 1973 (und später 1979/80) kam den Intentionen von Mandel sicherlich entgegen. Es war tragisch für die Weiterentwicklung der Kernenergie bei RWE, dass Professor Heinrich Mandel im Januar 1979, im Gefolge einer Bagatelloperation, mit 59 Jahren sterben musste.
In den 80er Jahren riss die Erfolgssträhne bei RWE ab. Das 1300 MW Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich (bestellt bei Babcock/ABB) wurde zwar 1986 in Betrieb genommen, musste aber schon zwei Jahre danach wegen eines fehlerhaften Genehmigungsbescheids dauerhaft abgeschaltet werden. Klugerweise hatten die Kaufleute bei RWE zur Finanzierung dieses Projekts eine Leasinggesellschaft mit einigen Großbanken gegründet, sodass der Konzern nur einen Teil des Kostenrisikos zu tragen hatte. Von Erfolg gekrönt war der Bau des 1400 MW Kernkraftwerk Emsland durch KWU, bei dem E.ON mit 12,5 Prozent beteiligt ist und das im Jahr 2022 aufgrund der Energiewende-Beschlüsse abgeschaltet werden muss.
In den 90er Jahren wurde RWE von dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Gerhard Schröder und seinem grünen Umweltminister Jürgen Trittin veranlasst, aufgrund einer "halbfreiwilligen" Vereinbarung aus der Kernenergie (in den 2030er Jahren) auszusteigen. Die nachfolgende - sogenannte - konservative Kanzlerin Angela Merkel verschärfte diese Auflage im Jahr 2011 noch einmal sehr drastisch, indem sie RWE zwang (im Nachgang zu Fukushima) die KKW Biblis A und B sofort stillzulegen.
Fazit
Ein beinharter Gegner der Kernkraft war RWE mitnichten. Lediglich in den 60er Jahren betrieb der Konzern einen gewissen Attentismus gegenüber dieser Energieform. Der vorrangige Grund waren die hohen Investitionen, welche RWE tätigen musste, um die Braunkohle-Tagebaue zu öffnen und wirtschaftlich ausbeuten zu können. Beim Kernkraftwerk Gundremmingen A, das in jener Dekade errichtet wurde, hat sich RWE hinsichtlich aller Nuklearrisiken gegenüber der damaligen Bonner Regierung maximal abgesichert.
Ob dies die gegenwärtige Berliner Bundesregierung veranlassen könnte, RWE aus der Entsorgungspflicht zu entlassen, bleibt abzuwarten.
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