Sonntag, 31. Januar 2016

RWE als Kernkraftgegner? - Jein!

Die überbordende Diskussion um die Flüchtlinge lässt ein Thema etwas in den Hintergrund treten, das gleichwohl wichtig ist und deshalb auch seit Monaten von einer hochrangigen Parlamentarierkommission beraten wird: die Entsorgung der stillgelegten Kernkraftwerke. Im Kern soll diese Atomkommission Vorschläge dazu erarbeiten, ob der Rückbau der deutschen Atomkraftwerke sowie die Endlagerung der radioaktiven Abfälle durch die Betreiber oder durch eine staatliche Stiftung organisiert werden soll. An den Kosten wollen sich die Betreiber Eon, RWE und EnBW allerdings beteiligen. Die Kraftwerksbetreiber sind für das Stiftungsmodell und bringen dazu allerhand Gründe vor. Die originellsten kommen von der RWE, deren Vorstandvorsitzender Peter Terium nicht müde wird, in etwa folgendes zu behaupten:  Der deutsche Staat soll sich selbst um die Entsorgung kümmern, weil er in der Vergangenheit die RWE praktisch dazu gezwungen hat, in die Kernkraft einzusteigen.

Ich muss gestehen, dass mir dieses Argument bis dato fremd war.  Nach vertieften Einsteigen in die RWE-Historie bin ich jedoch zu der Überzeugung gekommen, dass der RWE-Chef nicht ganz unrecht hat. Im Nachfolgenden deshalb ein Schnelldurchlauf durch die Geschichte dieses Konzerns seit 1955.

50er Jahre: Skeptisches Beobachten

Im Gefolge der Genfer Atomkonferenz Mitte der 50er Jahre, beschloss die deutsche Bundesregierung im Oktober 1957 ihr erstes Atomprogramm. Zum Ärger des Bonner Atomministers Siegfried Balke beteiligte sich RWE, der damals größte Stromkonzern, daran nur ganz marginal. Das Unternehmen orientierte sich in Richtung Braunkohle; die Risiken der weithin unbekannten Kernkraftwerke waren ihr zu unübersichtlich. Ein dedizierter Gegner war das Vorstandsmitglied Helmut Meysenburg, damals zuständig für den Vertrieb von Strom. Zusammen mit seinem Kostenberater Oskar Löbl kam Meysenburg zu der Überzeugung, dass die Kapitalkosten der damals propagierten Atomkraftwerke schlicht zu hoch waren.


Helmut Meysenburg, RWE-Vorstandsmitglied 1957 - 1974

Aber RWE beobachtete die nukleare Szene ganz genau. Eine kerntechnische Abteilung wurde eingerichtet und der aus Prag kommende Dr. Heinrich Mandel mit der Leitung beauftragt. Und der ehemalige Technik-Vorstand bei RWE, Heinrich Schöller, ging nach seiner Pensionierung zum Kernforschungszentrum Karlsruhe, wo er als Geschäftsführer den Bau des Kernkraftwerks MZFR intensiv verfolgen konnte. Im Jahr 1958 wagte sich RWE sogar an die Bestellung eines kleinen 15 Siedewasserkernkraftwerks bei AEG und General Electric. Schöllers Kommentar: "Wenn der deutsche Staat durch übereilten Bau von Kernkraftwerken schon Dummheiten macht, dann machen wir diese Dummheiten lieber selber, um sie unter Kontrolle zu halten".

60er Jahre:  Deutliches Bremsen

VAK wurde ein Erfolg. Das kleine Kernkraftwerk nahm 1961 den Betrieb auf und lief relativ störungsfrei bis zu seiner Stilllegung im November 1985. Dr. Mandel, inzwischen auf dem Weg zum Honorarprofessor, wurde vom Aufsichtsratsvorsitzenden der RWE, Bankier Hermann Joseph Abs, zum stellvertretenden Vorstandsmitglied ernannt. Die Bonner Ministerialbürokratie drängte RWE nun auch den nächsten Schritt zu gehen und das 250 MW Atomkraftwerk Gundremmingen A endlich (zusammen mit dem Bayernwerk) in Angriff zu nehmen. Aber Meysenburg und seine Braunkohlefraktion ließ sich nicht überrumpeln. Erst als der Bund schriftlich erklärte, alle, über ein normales fossiles Kraftwerk hinausgehende Mehrkosten und Risiken zu übernehmen, stimmte RWE dem Bau zu. In Bonn schäumte man, kostete dieser Deal der Regierung doch mehr als 200 Millionen DM.

Danach überließ RWE volle sieben Jahre lang (bis 1969) das kerntechnische Feld der Konkurrenz. Die Kernkraftwerke Lingen (225 MW-1964), Obrigheim (328 MW-1964), Stade (630 MW-1967) und Würgassen (640 MW-1967) gingen in Bau, ohne dass RWE ein eigenes Projekt auf Kiel legte.  Gerhard Stoltenberg, inzwischen Atomminister, wurde ungeduldig und sandte im November 1966 einen Brief an RWE, worin er den Vorstand des Konzerns aufforderte, einen "Katalog mit Bedingungen" für Kernkraftaufträge zusammen zu stellen. Das Essener Antwortschreiben kam am 22. Dezember, rechtzeitig zum Weihnachtsfest, im Bonner Ministerium an. Es las sich wie ein Kompendium damaliger Anti-Kernkraftargumente. Zwar sei man an der Forschung zur Kernkraft "äußerst interessiert", aber die Braunkohle habe "eindeutig den Vorrang". Im übrigen leide man schon jetzt an "erheblichen Überkapazitäten". Minister Stoltenberg war stocksauer.

70er Jahre und folgende:  Akzeptanz der Kernkraftwerke bei RWE

Die 70er Jahre waren das Jahrzehnt des Heinrich Mandel. Volle sieben Jahre hatte der Intimfeind Meysenburg seinen Aufstieg zum ordentlichen Vorstandsmitglied blockiert; 1968 musste dieser einknicken und Mandel hatte nun endlich die Gestaltungsfreiheit im kerntechnischen Bereich bei RWE. Für bloße 2 Milliarden DM insgesamt beschaffte er bei Siemens/KWU die Kernkraftwerke Biblis A und B, welche beide - erstmals - der 1300 MW-Klasse angehörten und sich viele Jahre lang als wahre "Gelddruckmaschinen" erweisen sollten. Die Ölkrise 1973 (und später 1979/80) kam den Intentionen von Mandel sicherlich entgegen. Es war tragisch für die Weiterentwicklung der Kernenergie bei RWE, dass Professor Heinrich Mandel im Januar 1979, im Gefolge einer Bagatelloperation, mit 59 Jahren sterben musste.

In den 80er Jahren riss die Erfolgssträhne bei RWE ab. Das 1300 MW Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich (bestellt bei Babcock/ABB) wurde zwar 1986 in Betrieb genommen, musste aber schon zwei Jahre danach wegen eines fehlerhaften Genehmigungsbescheids dauerhaft abgeschaltet werden. Klugerweise hatten die Kaufleute bei RWE zur Finanzierung dieses Projekts eine Leasinggesellschaft mit einigen Großbanken gegründet, sodass der Konzern nur einen Teil des Kostenrisikos zu tragen hatte. Von Erfolg gekrönt war der Bau des 1400 MW Kernkraftwerk Emsland durch KWU, bei dem E.ON mit 12,5 Prozent beteiligt ist und das im Jahr 2022 aufgrund der Energiewende-Beschlüsse abgeschaltet werden muss.

In den 90er Jahren wurde RWE von dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Gerhard Schröder und seinem grünen Umweltminister Jürgen Trittin veranlasst, aufgrund einer "halbfreiwilligen" Vereinbarung aus der Kernenergie (in den 2030er Jahren) auszusteigen. Die nachfolgende - sogenannte - konservative Kanzlerin Angela Merkel verschärfte diese Auflage im Jahr 2011 noch einmal sehr drastisch, indem sie RWE zwang  (im Nachgang zu Fukushima) die KKW Biblis A und B sofort stillzulegen.

Fazit

Ein beinharter Gegner der Kernkraft war RWE mitnichten. Lediglich in den 60er Jahren betrieb der Konzern einen gewissen Attentismus gegenüber dieser Energieform. Der vorrangige Grund waren die hohen Investitionen, welche RWE tätigen musste, um die Braunkohle-Tagebaue zu öffnen und wirtschaftlich ausbeuten zu können. Beim Kernkraftwerk Gundremmingen A, das in jener Dekade errichtet wurde, hat sich RWE hinsichtlich aller Nuklearrisiken gegenüber der damaligen Bonner Regierung maximal abgesichert.

Ob dies die gegenwärtige Berliner Bundesregierung veranlassen könnte, RWE aus der Entsorgungspflicht zu entlassen, bleibt abzuwarten.

Sonntag, 24. Januar 2016

Hoppla! Wie sicher ist mein Geld auf der Bank?

Dieser Tage bekam ich von meiner Bank, der "Badischen Beamtenbank Karlsruhe", einen dreiseitigen DIN A4 "Informationsbogen Einlagesicherung". Darauf stand vermerkt, dass sich der Einlegerschutz für meine Bankeinlagen - also für Guthaben in Festgeld und Giro - verändert habe, und zwar wegen der "Harmonisierung in Europa". Im übrigen bräuchte ich mir aber um meine Bankguthaben keine Sorgen zu machen.

Die Bankmitteilung war so verschroben formuliert, dass auch meine noch vorhandenen Betriebswirtschaftskenntnisse nicht ausreichten, um sie wirklich zu verstehen und zu werten. Deshalb habe ich angefangen zu recherchieren und bin schließlich zu nachfolgenden Blog gelangt.

Status quo und Pläne der EU

Im Grunde bräuchte man in Deutschland überhaupt nichts zu veranlassen. Bereits nach den bestehenden Richtlinien sind die Geldeinlagen von bis zu 100.000 Euro überall gesetzlich geschützt. Das gilt für die privaten Banken, die Sparkassen und die Genossenschaftsbanken, wozu auch die o. g. Badische Beamtenbank gehört. Auf den Konten dieser Institute liegen mit 3,4 Billionen Euro bei weitem die meisten Einlagen in Europa. Das Risiko eines Bankencrash wird über einen "Einlagensicherungsfonds" abgedeckt. Anders als in Deutschland existieren in etlichen europäischen Ländern diese Fonds aber gar nicht, oder sind nicht ausreichend gefüllt.

Die EU-Kommission in Brüssel beabsichtigt von 2017 an einen gemeinsamen Einlagensicherungsfonds für ganz Europa einzurichten. Er soll bis 2024 die nationalen Sicherungssysteme ersetzen und - ganz wichtig! - bis dahin voll gefüllt sein. Im Kontext der geplanten "Bankenunion" stellt man sich folgende Haftungskaskade vor: Bricht in Zukunft eine europäische Bank zusammen, so sollen deren Verluste zuerst aus dem Eigenkapital, den Anleihen und den Einlagen über 100.000 Euro abgedeckt werden. Danach tritt ein "Insolvenzfonds" in Kraft, der mit 55 Milliarden Euro bestückt sein soll. Und zum Schluss, erst dann, soll der europäische Einlagenfonds greifen. Das klingt ganz beruhigend, ist es aber nicht. Man erinnere sich nur, dass am 15. September 2008, als die amerikanische Investmentbank Lehmann Brothers bankrott ging, weltweit Vermögensverluste in der Höhe von 15.000 Milliarden Dollar entstanden.

Die Pleitebanken der Südländer

Das Problem bei der Europäisierung der Einlagensicherung sind die Südländer. Deren Banken, vor allem in Griechenland und Italien, sind allesamt sehr wackelig. Besonders schlimm ist es in Griechenland. Die Kunden der dortigen Banken ziehen jede Woche den Maximalbetrag von 4 - 500 Euro aus den Geldautomaten und gehen damit nach Hause. Dort werden die Euros aber nicht in einen Tresor versteckt, was viel zu riskant wäre. Nein, Usus ist es bei den Griechen, die Geldscheine -eingewickelt in Ölpapier- an einer diskreten Stelle im heimischen Garten zu vergraben. Da die Banken ohnehin kaum Guthabenszinsen gewähren, entsteht dadurch kein nennenswerter Verlust. Kein Wunder, dass die griechischen Banken bei diesem Geschäftsgebaren ihrer Einleger weder Eigenkapital bilden noch Gewinne erzielen können.

In Italien befinden sich seit Anfang des Jahres die Monte die Paschi di Siena, die älteste Bank der Welt und die Carige Bank in einer prekären Finanzlage. Die Aktienkurse der beiden Kreditinstitute sanken bis zu 30 Prozent ihres Marktwertes. Darüber hinaus versucht die italienische  Regierung seit Dezember vier weitere Banken vor dem Konkurs zu retten. Dafür fordert der Premierminister Matteo Renzi händeringend Stützungsgelder aus Brüssel ein. Dort zeigt man sich jedoch hartleibig, da Italien bereits mit 132 Prozent seines Bruttosozialprodukts verschuldet ist. Tendenz steigend. Es leuchtet ein, dass in einer derartigen finanziellen Schieflage die oben beschriebene Haftungskaskade sofort auf Stufe 3 durchrauschen würde. Mit der Folge, dass die einzigen solventen Institute, nämlich die deutschen Sparkassen und Genossenschaftsbanken, massiv in Anspruch genommen würden.

Angela Merkel als Retterin

Bei den Sitzungen des Europäischen Rats in Brüssel steht das Thema "Harmonisierung der Einlagesicherung" immer ganz oben auf der Tagesordnung. Bisher hat die deutsche Bundeskanzlerin dieses Ansinnen der klammen Europäer stets strikt abgelehnt. Aber das wird ihr nicht mehr lange gelingen. Denn die cleveren Chefs der Südländer wollen diese Frage in Zukunft nicht mehr als Einzelproblem behandeln, sondern in ein Problempaket verschnüren. Dafür bietet sich das hochaktuelle Flüchtlingsproblem an. So hat der italienische Premier Renzi bereits angekündigt, dass er seinen Beitrag von 300 Millionen Euro zur 3-Milliarden-Türkeihilfe nur auszahlen werde, wenn gleichzeitig über den europäischen Einlagensicherungsfonds entschieden würde. In seinem Sinne, selbstredend. Ähnliches führt der Grieche Tsypras mit seinen "Hot Spots" im Schilde.

Die deutschen Bankkunden werden zwischenzeitlich durch unverständlich formulierte "Informationsbögen" ruhig gestellt. Wenn in einigen Jahren der Einlagefonds europäisiert sein wird und sich daraus - wegen der maroden Südbanken - weit höhere Risiken ergeben, werden die erfahrenen Bankmanager an verborgenen Stellen Zinsen und Gebühren entsprechend erhöhen.

Bis dahin sei dem braven deutschen Bankkunden geraten, nicht allzu sehr auf das 100.000-Euro-Limit zu vertrauen, sondern seine ersparten Groschen auf mehrere Geldinstitute zu verteilen. Oder sie im Garten zu verbuddeln.

Donnerstag, 21. Januar 2016

Hommage an Motörhead und Frontmann Lemmy

Die Welt der Musikfreunde musste über den Jahreswechsel den Tod von zwei außergewöhnlichen Künstlern beklagen: David Bowie starb 69-jährig, und nur ein Jahr älter wurde "Lemmy" Kilmister, der Gründer, Frontmann und Leadsänger der Musikgruppe Motörhead. Während Bowie keinen persönlichen Musikstil pflegte, sondern als Genie und "musikalisches Chamäleon" galt, ist Lemmy mit seiner Band wohl eher dem harten Rock zuzuordnen. Er wurde 1945 in England geboren und starb am 26. Dezember 2015, als 70-Jähriger, in Los Angeles, wo er auch beerdigt ist. (Bowie´s Urnenplatz wird, seinem Wunsch gemäß, geheim gehalten.)

Lemmy hatte keine Musikausbildung genossen, sondern hielt sich in den siebziger Jahren in London mit allerlei Gelegenheitsjobs über Wasser, unter anderem als "Roadie" bei Jimi Hendrix. Nachdem er als Bassist bei der Gruppe Hawkwind scheiterte, gründete er seine eigene Band und gab ihr den Namen Motörhead. Bald kannte man ihn als den Mann in Schwarz mit den hohen Cowboystiefeln, dem Eisernen Kreuz oder Indianerkunstwerk um den Hals und dem unverwechselbaren Westernbackenschnauzer. Seine Konzerte begann er immer mit der Ansage: "We are Motörhead, we Play Rock ´n´Roll".



Foto von Lemmy

Als Bassist pflegte Lemmy einen ungewöhnlichen Stil. Er spielte zwar Bassgitarre, behielt aber die Technik der Rhythmusgitarren bei. Seinen typischen Bassklang erreichte er, indem er auf seiner Gitarre sämtliche Regler auf die höchste Stufe stellte. Die Musik seines Trios vereinte die Einflüsse von Punk, Hard Rock, Rock ´n´Roll sowie Blues Rock. Vor allem galt er als Vorläufer und Begründer der Heavy Metal Musik. Wie zum Beweis haben hunderttausende von Menschen eine Internet-Petition eingereicht, wonach ein kürzlich entdecktes superschweres Metallatom im Transuranbereich nach ihm als "Lemmium" benannt werden soll. Mal sehen, ob die weltweiten Chemieinstitutionen da mit spielen; es wäre ein einmaliger Vorgang im wissenschaftlichen Bereich.

Die Musik der Motörhead gilt für viele als eine Fortschreibung der Musik von Richard Wagner. Im ersten Akt seiner Nibelungenoper "Siegfried" sind die gleichen harten Schlagrhythmen erkennbar, wie beispielsweise in den Ace of Spades, ein Album, das 1980 kreiert wurde und- z. B. für AC/DC -  wegweisend für den Heavy Metal Sound geworden ist. Das anliegende Youtube Video soll dies veranschaulichen. Weitere Alben von der Gruppe Motörhead wird es nicht mehr geben. Schon einen Tag nach dem Tod von Lemmy Kilmister erklärte Mikkey Dee das Ende dieser Band.

Sonntag, 17. Januar 2016

20 Jahre in die Zukunft

Der Jahreswechsel ist für viele Medien ein willkommener Anlass, auf das abgelaufene Jahr zurück zu blicken - oder über die zukünftigen Jahre zu spekulieren. Letzteres hat die Wochenzeitung "DIE ZEIT" in ihrer Sylvesterausgabe getan. Acht bekannte Schriftsteller und Regisseure - also von Berufs wegen "Visionäre" - sollten sich zum Thema "Deutschland 2036" auslassen und ihren Blick in die Zukunft schweifen lassen. Nun, die Redaktion mag vom Ergebnis etwas enttäuscht gewesen sein. Schwadroniert haben die Promis zumeist über die allgegenwärtigen Großthemen Flüchtlinge, Klimawandel und Energiewende; die Zukunft 2036 erreichten sie quasi über ein angelegtes Lineal. Ergebnis: die Zukunft wird sein wie die jetzige Gegenwart - nur etwas schlechter.

Diese Methode funktioniert in aller Regel nicht. Versetzen wir uns 20 Jahre zurück - in das Jahr 1996 - und prognoszieren wir die Ereignisse (zukünftig in Fett- und Schrägdruck) der nächsten zwei Dekaden, so hätten wohl die wenigsten von uns das Internet vorhergesagt und noch weniger das Smartphone und die Finanzkrise im Jahr 2007. Dabei war dieser Zeitbereich keineswegs der bislang ereignisreichste. Ich möchte für diesen Blog die zwanzig Jahre zwischen 1905 und 1925 des vorigen Jahrhunderts auswählen, deren vergangene Ereignisse uns aus der Geschichte ja bestens bekannt sind. Also, liebe Blogleser, stellen Sie sich vor, Sie wären zu Anfang des Jahres 1905 von einer Zeitung gebeten worden, über die anstehende Zukunft bis zum Jahr 1925 zu spekulieren. Ich möchte wetten, mit Verlaub, dass Ihnen nicht die Vielzahl der bevorstehenden Ereignisse (und die dazu gehörigen Namen - in Schrägschrift) in den Sinn gekommen wären. Wir Menschen sind eben keine Propheten! Und dabei erleichtere ich diese Aufgabe noch, indem ich nur vier kumulierte Ereignisbereiche - nämlich Naturwissenschaften, bildende Kunst, Politik und Lebensgefühl - stärker ins Visier nehme.

Beginnen wir also unser Gedankenexperiment mit dem Jahr 1905. Für den normalen Beobachter der damaligen Zeit war es kein besonders herausstechendes Jahr: der deutsche Kaiser machte (wie alljährlich) seinen Flottenbesuch, diesmal beim Sultan von Marokko; die bayerische Abgeordnetenkammer debattierte (erfolglos) über die Einführung des Neun-Stunden-Arbeitstags und der Schriftsteller Ludwig Thoma veröffentlichte seine "Lausbubengeschichten". Und im brandenburgischen Ort Klein Luckow wurde einer Steuermannsfamilie ein Knäblein geboren, dem man den Namen Max gab und der später, unter seinem Vollnamen Max Schmeling, die deutschen Boxfans fast hundert Jahre lang bis zu seinem Tod im Februar 2005 entzückte.

Große Entdeckungen in den Naturwissenschaften

Der genannte Zeitbereich von 1905 bis 1925 war gekennzeichnet durch große Entdeckungen, vor allem in den Fächern Physik und Chemie. Der Kürze wegen seien nur die Fortschritte auf dem Gebiet der theoretischen Kernphysik  betrachtet. Ein Name dominiert alle übrigen: Albert Einstein. Der gebürtige Württemberger und technischer Experte der 3. Klasse beim Schweizer Patentamt in Bern veröffentlichte 1905 (als 26-jähriger!) seine Spezielle Relativitätstheorie. Noch heute leben die beim Publikum ausserordentlich beliebten "Star Wars"-Filme von seinen Erkenntnissen, wonach - für einen ruhenden Betrachter auf der Erde - die Zeit in einem schnell bewegten Körper (z. B. einer Rakete) langsamer abläuft und die Entfernungen (zu einem fernen Stern) kürzer werden. Darüberhinaus publizierte er erstmals die berühmte Formel E=mc^2 gemäß welcher die Masse m und Energie E äquivalent sind über die konstante Lichtgeschwindigkeit c. Zehn Jahre später, im November 1015, veröffentlichte Einstein die sogenannte Allgemeine Relativitätstheorie, welche zum Verständnis des Universums unerlässlich ist. Sie beschreibt die Wechselwirkung zwischen Materie sowie Raum und Zeit; die Schwerkraft (Gravitation) wird als geometrische Eigenschaft der gekrümmten vierdimensionalen Raumzeit definiert.

Nicht nur bei der Beschreibung des riesigen Weltraums, sondern auch bei der Deutung des subatomaren Bereichs war Einstein erfolgreich. Für die Entdeckung Photoeffekts bekam er 1922 sogar den Nobelpreis der Physik, wobei er erstmals den Begriff des Lichtquants einführte. Daraus entwickelte sich (bis 1925) die Quantenmechanik. Die herausragenden Forscher auf diesem Gebiet waren Max Planck, Nils Bohr, Max Born und Werner Heisenberg. Letzterer formulierte unter anderem die nach ihm benannte Unschärferelation, wonach bestimmte Messgrößen eines Teilchens (etwa sein Ort oder seine Geschwindigkeit) nicht gleichzeitig beliebig genau bestimmbar sind.

Die mathematische Zusammenführung der beiden Relativitätstheorien mit der Quantenphysik ist der "Heilige Gral" der Physik. Trotz gigantischer Anstrengungen ist es bis heute nicht gelungen, die berühmte "Weltformel" zu finden, welche sowohl den Makrokosmos als auch den Mikrokosmos beschreibt. Mit der Stringtheorie schien man auf dem richtigen Weg zu sein, aber inzwischen - wegen  der Vermutung der Dunkelmaterie und der Dunkelenergie - ist die Astrophysik noch komplexer und undurchschaubarer geworden. Es scheint, als müsse die Welt auf einen zweiten Einstein warten.

Malerei:  Explosion der Stilrichtungen

Große Umwälzungen gab es zu Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Malerei. Ausgehend vom Impressionismus löste sich die Farbe vom Gegenstand, wurde flächiger und drückte nun auch Empfindungen aus: der Expressionismus (in Frankreich: Fauvismus mit Henri Matisse) war geboren. Beispielhaft dafür sind die sogenannten "Brücke"-Maler, wie Ernst Ludwig Kirchner und Erich Heckel in Dresden, sowie die Maler des "Blauen Reiters" Franz Marc und Wassily Kandinsky in München. Kandinsky löste allmählich den Gegenstand ganz auf und konzentrierte sich nur noch auf die Wechselwirkung von Form und Farbe, womit er zum Wegbereiter der abstrakten Kunst wurde.


Bild 1 (Kandinsky, Komposition IV, 1911)

Eine andere Richtung beschritten in Frankreich die Maler des Kubismus, wobei insbesondere Pablo Picasso und George Braque zu nennen sind. Die Farbe war ihnen weniger wichtig; stattdessen versuchten sie den Gegenstand (gleichzeitig) aus verschiedenen Sichtrichtungen zu malen und zu charakterisieren. Ein Krug wurde beispielsweise - auf dem gleichen Bild - von oben, von unten und im Profil dargestellt. Als Schlüsselbild hierfür gilt Picassos berühmtes Bild "Les Demoiselles d´Avignon" vom Jahr 1907 - wobei nicht bekannt ist, ob die darauf portraitierten Damen (allesamt Prostituierte aus der südfranzösischen Stadt Avignon) Picassos Darstellung wirklich goutiert haben.



Bild 2  (Pablo Picasso, Les Demoiselles d´Avignon, 1907)

Noch einen Schritt weiter gingen die Vertreter des Dadaismus, zum Beispiel Marcel Duchamp, der praktischerweise auf die Malerei ganz verzichtete und den Gegenstand selbst zur Kunst erklärte. Man denke an den käuflichen "Flaschentrockner" oder das "Urinal", welche als sogenannte "ready mades" 1914 in Ausstellungen präsentiert wurden. Anfang der zwanziger Jahre entstand daraus der Surrealismus, der sehr stark von Sigmund Freud und seinen Traumdeutungen beeinflusst war. Prominente Künstler dieser Richtung waren Max Ernst, René Magritte und Salvadore Dali.



Bild 3 (Marcel Duchamp, Urinal, 1914)

Der Erste Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg war die Urkatastrophe des frühen 20. Jahrhunderts. Wie die "Schlafwandler" (Christopher Clark) - und keineswegs legitimiert durch das Attentat von Sarajewo - stürzten sich die europäischen Großmächte in dieses Massaker. Zum Schluss waren 40 Staaten am Weltkrieg beteiligt und 70 Millionen Soldaten standen unter Waffen. Typisch für das Kampfgeschehen waren die Stellungs- und Grabengefechte sowie die Materialschlachten bei nur geringfügigen Geländegewinnen. Dies betraf vor allem die Schlacht von Verdun, wo insgesamt 700.000 Soldaten ihr Leben ließen. Die Wende brachte der Einsatz der Tanks und der Bombenflugzeuge, aber insbesondere 1917 der Kriegseintritt der USA. Eklatante Versorgungsmängel führten zu Hungersnöten an der Heimatfront und letztlich zur Kapitulation Deutschlands im November 1918. Der Erste Weltkrieg forderte zehn Millionen Todesopfer, etwa 20 Millionen Verwundete und weitere 7 Millionen zivile Opfer. Im Zuge einer anschließenden weltweiten Epidemie ("Spanische Grippe") starben weitere 25 Millionen Menschen.

Der verlorene Weltkrieg war begleitet von enormen politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen. Die Monarchie wurde abgeschafft und der glücklose Kaiser Wilhelm II  ins Exil nach den Niederlanden abgeschoben. Gleichzeitig kam es zur Abschaffung des Adels, was etwa 1 Prozent der Bevölkerung betraf, also ca. 60.000 Personen. Nach einigen regionalen, politischen Turbulenzen (Räte-Republiken) wurde verfassungsrechtlich die Weimarer Republik eingeführt. Frankreich bestand auf hohen Reparationszahlungen (Versailler Vertrag), die letztlich den Grundstein zum nächsten Weltkrieg legten. Die Hyperinflation 1923 war eine Spätfolge des Ersten Weltkriegs, eine Blase, die fünf Jahre nach der Kapitulation platzte.  Das Geld wurde in Schubkarren transportiert, die Bündel als Heizmaterial zweckentfremdet. Größter Profiteur war der deutsche Staat. Seine gesamten Kriegsschulden in Höhe von 154 Milliarden Mark beliefen sich am 15. November 1923, als die Rentenmark eingeführt wurde, auf gerade mal 15,4 Pfennige.

In Russland kam es 1917 zur Oktoberrevolution. Der Kommunist Lenin wurde - mit deutscher Unterstützung - Führer der Fraktion der Bolschewiki. Zar Nikolaus II hatte schon vorher abgedankt. Durch den Friedensvertrag von Brest-Litowsk wurde die deutsche Ostfront entlastet.--- In München versuchte Adolf Hitler, selbsternannter Führer der NSDAP, im November 1923 einen Putsch, wurde aber vor der Feldherrnhalle gewaltsam in Schach gehalten und in der Festung Landsberg in Haft genommen. Dort schrieb er sein Buch Mein Kampf. Darin kündigte er den späteren Anschluss Österreichs an das "Reich" an, forderte mehr "Lebensraum" für das deutsche Volk und verurteilte die "jüdische Weltherrschaft". Nur wenige glaubten damals, dass Hitler diese Vorstellungen verwirklichen würde.

 Neues Lebensgefühl

Mit der Einführung der stabilen Rentenmark ab 1923 begannen in Deutschland die Goldenen Zwanziger Jahre. Die Wirtschaft fing an zu blühen und die Menschen fassten wieder Lebensmut. Das war überraschend, denn eigentlich hätte, aufgrund des verlorenen Geldvermögens, die Bevölkerung auch in Depression verfallen können. Besonders in der Hauptstadt Berlin manifestierte sich das neue positive Lebensgefühl. Unter den Linden und über den Ku-Damm spazierten die Damen mit Bubikopf, Perlenkette und Boa sowie endlos langer Zigarettenspitze. Die Herren trugen Tagesanzüge á la Stresemann, ihre Haare waren streng und nach hinten gekämmt, zuweilen mit Seitenscheitel. Kinobesuche waren sehr beliebt, ebenso wie die AVUS-Autorennen. Abends ging man zum Sechstagerennen oder zu Tanzveranstaltungen, bei denen der verruchte Charleston geübt wurde. Ehemalige Offiziere, nun arbeitslos, verdingten sich als Eintänzer ("Schöner Gigolo, armer Gigolo...")

Eine bedeutsame Kunstrichtung der Goldenen Zwanziger bezeichnete man als Neue Sachlichkeit.  Vorrangige Themen waren das Leben in der Großstadt, die Kluft zwischen Arm und Reich und die  selbstbewusste Frau. Das Großstadt-Triptychon von Otto Dix stellte unter anderem Prostituierte dar, in teils freimütiger Pose. Ein solches Motiv - in realistischer Darstellung -  wäre wenige Jahre vorher noch undenkbar gewesen. Weitere berühmte Künstler waren Max Beckmann, George Grosz, Paul Klee u.a.---Das Staatliche Bauhaus wurde 1919 von Walter Gropius in Weimar als Kunstschule gegründet. Es wollte Kunst und Handwerk zusammenführen und war jahrelang die einflussreichste Bildungsstätte im Bereich der Architektur und des Design. Einer der lehrenden Künstler am Bauhaus war Oskar Schlemmer, der Schöpfer des Triadischen Balletts. Einige seiner farbigen Kostüme aus dem Jahr 1923 sind heute noch als Figurinen in der Staatsgalerie Stuttgart zu besichtigen.---Die Neuerungen machten selbst vor der Musik nicht halt. Arnold Schönberg führte 1923 die Zwölftonmusik ein und revolutionierte damit die herkömmliche Harmonielehre. Alle Töne waren plötzlich gleichberechtigt; es gab keine Tonarten mehr. Zwölftonmusik klingt auch für heutige Ohren noch ziemlich "schräg".

Fazit

Das waren, im Schnelldurchlauf, nur einige bedeutsame Ereignisse und Namen der beiden Dekaden von 1905 bis 1925. Ich glaube, dass niemand diese Fülle zu Beginn vorher gesehen hätte, ganz sicherlich nicht den grausamen Einschnitt des Ersten Weltkriegs.

Es spricht wenig dafür, dass die Zeitspanne von 2016 bis 2036 weniger ereignisreich verlaufen wird, wobei uns hoffentlich ein Dritter Weltkrieg erspart bleiben möge. So gesehen sollte man den eingangs erwähnten acht Schriftstellern und Regisseuren der ZEIT-Umfrage wegen ihrer einsilbigen Statements nicht gram sein.

Ihr Auftrag war eine mission impossible.