Sonntag, 17. Januar 2016

20 Jahre in die Zukunft

Der Jahreswechsel ist für viele Medien ein willkommener Anlass, auf das abgelaufene Jahr zurück zu blicken - oder über die zukünftigen Jahre zu spekulieren. Letzteres hat die Wochenzeitung "DIE ZEIT" in ihrer Sylvesterausgabe getan. Acht bekannte Schriftsteller und Regisseure - also von Berufs wegen "Visionäre" - sollten sich zum Thema "Deutschland 2036" auslassen und ihren Blick in die Zukunft schweifen lassen. Nun, die Redaktion mag vom Ergebnis etwas enttäuscht gewesen sein. Schwadroniert haben die Promis zumeist über die allgegenwärtigen Großthemen Flüchtlinge, Klimawandel und Energiewende; die Zukunft 2036 erreichten sie quasi über ein angelegtes Lineal. Ergebnis: die Zukunft wird sein wie die jetzige Gegenwart - nur etwas schlechter.

Diese Methode funktioniert in aller Regel nicht. Versetzen wir uns 20 Jahre zurück - in das Jahr 1996 - und prognoszieren wir die Ereignisse (zukünftig in Fett- und Schrägdruck) der nächsten zwei Dekaden, so hätten wohl die wenigsten von uns das Internet vorhergesagt und noch weniger das Smartphone und die Finanzkrise im Jahr 2007. Dabei war dieser Zeitbereich keineswegs der bislang ereignisreichste. Ich möchte für diesen Blog die zwanzig Jahre zwischen 1905 und 1925 des vorigen Jahrhunderts auswählen, deren vergangene Ereignisse uns aus der Geschichte ja bestens bekannt sind. Also, liebe Blogleser, stellen Sie sich vor, Sie wären zu Anfang des Jahres 1905 von einer Zeitung gebeten worden, über die anstehende Zukunft bis zum Jahr 1925 zu spekulieren. Ich möchte wetten, mit Verlaub, dass Ihnen nicht die Vielzahl der bevorstehenden Ereignisse (und die dazu gehörigen Namen - in Schrägschrift) in den Sinn gekommen wären. Wir Menschen sind eben keine Propheten! Und dabei erleichtere ich diese Aufgabe noch, indem ich nur vier kumulierte Ereignisbereiche - nämlich Naturwissenschaften, bildende Kunst, Politik und Lebensgefühl - stärker ins Visier nehme.

Beginnen wir also unser Gedankenexperiment mit dem Jahr 1905. Für den normalen Beobachter der damaligen Zeit war es kein besonders herausstechendes Jahr: der deutsche Kaiser machte (wie alljährlich) seinen Flottenbesuch, diesmal beim Sultan von Marokko; die bayerische Abgeordnetenkammer debattierte (erfolglos) über die Einführung des Neun-Stunden-Arbeitstags und der Schriftsteller Ludwig Thoma veröffentlichte seine "Lausbubengeschichten". Und im brandenburgischen Ort Klein Luckow wurde einer Steuermannsfamilie ein Knäblein geboren, dem man den Namen Max gab und der später, unter seinem Vollnamen Max Schmeling, die deutschen Boxfans fast hundert Jahre lang bis zu seinem Tod im Februar 2005 entzückte.

Große Entdeckungen in den Naturwissenschaften

Der genannte Zeitbereich von 1905 bis 1925 war gekennzeichnet durch große Entdeckungen, vor allem in den Fächern Physik und Chemie. Der Kürze wegen seien nur die Fortschritte auf dem Gebiet der theoretischen Kernphysik  betrachtet. Ein Name dominiert alle übrigen: Albert Einstein. Der gebürtige Württemberger und technischer Experte der 3. Klasse beim Schweizer Patentamt in Bern veröffentlichte 1905 (als 26-jähriger!) seine Spezielle Relativitätstheorie. Noch heute leben die beim Publikum ausserordentlich beliebten "Star Wars"-Filme von seinen Erkenntnissen, wonach - für einen ruhenden Betrachter auf der Erde - die Zeit in einem schnell bewegten Körper (z. B. einer Rakete) langsamer abläuft und die Entfernungen (zu einem fernen Stern) kürzer werden. Darüberhinaus publizierte er erstmals die berühmte Formel E=mc^2 gemäß welcher die Masse m und Energie E äquivalent sind über die konstante Lichtgeschwindigkeit c. Zehn Jahre später, im November 1015, veröffentlichte Einstein die sogenannte Allgemeine Relativitätstheorie, welche zum Verständnis des Universums unerlässlich ist. Sie beschreibt die Wechselwirkung zwischen Materie sowie Raum und Zeit; die Schwerkraft (Gravitation) wird als geometrische Eigenschaft der gekrümmten vierdimensionalen Raumzeit definiert.

Nicht nur bei der Beschreibung des riesigen Weltraums, sondern auch bei der Deutung des subatomaren Bereichs war Einstein erfolgreich. Für die Entdeckung Photoeffekts bekam er 1922 sogar den Nobelpreis der Physik, wobei er erstmals den Begriff des Lichtquants einführte. Daraus entwickelte sich (bis 1925) die Quantenmechanik. Die herausragenden Forscher auf diesem Gebiet waren Max Planck, Nils Bohr, Max Born und Werner Heisenberg. Letzterer formulierte unter anderem die nach ihm benannte Unschärferelation, wonach bestimmte Messgrößen eines Teilchens (etwa sein Ort oder seine Geschwindigkeit) nicht gleichzeitig beliebig genau bestimmbar sind.

Die mathematische Zusammenführung der beiden Relativitätstheorien mit der Quantenphysik ist der "Heilige Gral" der Physik. Trotz gigantischer Anstrengungen ist es bis heute nicht gelungen, die berühmte "Weltformel" zu finden, welche sowohl den Makrokosmos als auch den Mikrokosmos beschreibt. Mit der Stringtheorie schien man auf dem richtigen Weg zu sein, aber inzwischen - wegen  der Vermutung der Dunkelmaterie und der Dunkelenergie - ist die Astrophysik noch komplexer und undurchschaubarer geworden. Es scheint, als müsse die Welt auf einen zweiten Einstein warten.

Malerei:  Explosion der Stilrichtungen

Große Umwälzungen gab es zu Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Malerei. Ausgehend vom Impressionismus löste sich die Farbe vom Gegenstand, wurde flächiger und drückte nun auch Empfindungen aus: der Expressionismus (in Frankreich: Fauvismus mit Henri Matisse) war geboren. Beispielhaft dafür sind die sogenannten "Brücke"-Maler, wie Ernst Ludwig Kirchner und Erich Heckel in Dresden, sowie die Maler des "Blauen Reiters" Franz Marc und Wassily Kandinsky in München. Kandinsky löste allmählich den Gegenstand ganz auf und konzentrierte sich nur noch auf die Wechselwirkung von Form und Farbe, womit er zum Wegbereiter der abstrakten Kunst wurde.


Bild 1 (Kandinsky, Komposition IV, 1911)

Eine andere Richtung beschritten in Frankreich die Maler des Kubismus, wobei insbesondere Pablo Picasso und George Braque zu nennen sind. Die Farbe war ihnen weniger wichtig; stattdessen versuchten sie den Gegenstand (gleichzeitig) aus verschiedenen Sichtrichtungen zu malen und zu charakterisieren. Ein Krug wurde beispielsweise - auf dem gleichen Bild - von oben, von unten und im Profil dargestellt. Als Schlüsselbild hierfür gilt Picassos berühmtes Bild "Les Demoiselles d´Avignon" vom Jahr 1907 - wobei nicht bekannt ist, ob die darauf portraitierten Damen (allesamt Prostituierte aus der südfranzösischen Stadt Avignon) Picassos Darstellung wirklich goutiert haben.



Bild 2  (Pablo Picasso, Les Demoiselles d´Avignon, 1907)

Noch einen Schritt weiter gingen die Vertreter des Dadaismus, zum Beispiel Marcel Duchamp, der praktischerweise auf die Malerei ganz verzichtete und den Gegenstand selbst zur Kunst erklärte. Man denke an den käuflichen "Flaschentrockner" oder das "Urinal", welche als sogenannte "ready mades" 1914 in Ausstellungen präsentiert wurden. Anfang der zwanziger Jahre entstand daraus der Surrealismus, der sehr stark von Sigmund Freud und seinen Traumdeutungen beeinflusst war. Prominente Künstler dieser Richtung waren Max Ernst, René Magritte und Salvadore Dali.



Bild 3 (Marcel Duchamp, Urinal, 1914)

Der Erste Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg war die Urkatastrophe des frühen 20. Jahrhunderts. Wie die "Schlafwandler" (Christopher Clark) - und keineswegs legitimiert durch das Attentat von Sarajewo - stürzten sich die europäischen Großmächte in dieses Massaker. Zum Schluss waren 40 Staaten am Weltkrieg beteiligt und 70 Millionen Soldaten standen unter Waffen. Typisch für das Kampfgeschehen waren die Stellungs- und Grabengefechte sowie die Materialschlachten bei nur geringfügigen Geländegewinnen. Dies betraf vor allem die Schlacht von Verdun, wo insgesamt 700.000 Soldaten ihr Leben ließen. Die Wende brachte der Einsatz der Tanks und der Bombenflugzeuge, aber insbesondere 1917 der Kriegseintritt der USA. Eklatante Versorgungsmängel führten zu Hungersnöten an der Heimatfront und letztlich zur Kapitulation Deutschlands im November 1918. Der Erste Weltkrieg forderte zehn Millionen Todesopfer, etwa 20 Millionen Verwundete und weitere 7 Millionen zivile Opfer. Im Zuge einer anschließenden weltweiten Epidemie ("Spanische Grippe") starben weitere 25 Millionen Menschen.

Der verlorene Weltkrieg war begleitet von enormen politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen. Die Monarchie wurde abgeschafft und der glücklose Kaiser Wilhelm II  ins Exil nach den Niederlanden abgeschoben. Gleichzeitig kam es zur Abschaffung des Adels, was etwa 1 Prozent der Bevölkerung betraf, also ca. 60.000 Personen. Nach einigen regionalen, politischen Turbulenzen (Räte-Republiken) wurde verfassungsrechtlich die Weimarer Republik eingeführt. Frankreich bestand auf hohen Reparationszahlungen (Versailler Vertrag), die letztlich den Grundstein zum nächsten Weltkrieg legten. Die Hyperinflation 1923 war eine Spätfolge des Ersten Weltkriegs, eine Blase, die fünf Jahre nach der Kapitulation platzte.  Das Geld wurde in Schubkarren transportiert, die Bündel als Heizmaterial zweckentfremdet. Größter Profiteur war der deutsche Staat. Seine gesamten Kriegsschulden in Höhe von 154 Milliarden Mark beliefen sich am 15. November 1923, als die Rentenmark eingeführt wurde, auf gerade mal 15,4 Pfennige.

In Russland kam es 1917 zur Oktoberrevolution. Der Kommunist Lenin wurde - mit deutscher Unterstützung - Führer der Fraktion der Bolschewiki. Zar Nikolaus II hatte schon vorher abgedankt. Durch den Friedensvertrag von Brest-Litowsk wurde die deutsche Ostfront entlastet.--- In München versuchte Adolf Hitler, selbsternannter Führer der NSDAP, im November 1923 einen Putsch, wurde aber vor der Feldherrnhalle gewaltsam in Schach gehalten und in der Festung Landsberg in Haft genommen. Dort schrieb er sein Buch Mein Kampf. Darin kündigte er den späteren Anschluss Österreichs an das "Reich" an, forderte mehr "Lebensraum" für das deutsche Volk und verurteilte die "jüdische Weltherrschaft". Nur wenige glaubten damals, dass Hitler diese Vorstellungen verwirklichen würde.

 Neues Lebensgefühl

Mit der Einführung der stabilen Rentenmark ab 1923 begannen in Deutschland die Goldenen Zwanziger Jahre. Die Wirtschaft fing an zu blühen und die Menschen fassten wieder Lebensmut. Das war überraschend, denn eigentlich hätte, aufgrund des verlorenen Geldvermögens, die Bevölkerung auch in Depression verfallen können. Besonders in der Hauptstadt Berlin manifestierte sich das neue positive Lebensgefühl. Unter den Linden und über den Ku-Damm spazierten die Damen mit Bubikopf, Perlenkette und Boa sowie endlos langer Zigarettenspitze. Die Herren trugen Tagesanzüge á la Stresemann, ihre Haare waren streng und nach hinten gekämmt, zuweilen mit Seitenscheitel. Kinobesuche waren sehr beliebt, ebenso wie die AVUS-Autorennen. Abends ging man zum Sechstagerennen oder zu Tanzveranstaltungen, bei denen der verruchte Charleston geübt wurde. Ehemalige Offiziere, nun arbeitslos, verdingten sich als Eintänzer ("Schöner Gigolo, armer Gigolo...")

Eine bedeutsame Kunstrichtung der Goldenen Zwanziger bezeichnete man als Neue Sachlichkeit.  Vorrangige Themen waren das Leben in der Großstadt, die Kluft zwischen Arm und Reich und die  selbstbewusste Frau. Das Großstadt-Triptychon von Otto Dix stellte unter anderem Prostituierte dar, in teils freimütiger Pose. Ein solches Motiv - in realistischer Darstellung -  wäre wenige Jahre vorher noch undenkbar gewesen. Weitere berühmte Künstler waren Max Beckmann, George Grosz, Paul Klee u.a.---Das Staatliche Bauhaus wurde 1919 von Walter Gropius in Weimar als Kunstschule gegründet. Es wollte Kunst und Handwerk zusammenführen und war jahrelang die einflussreichste Bildungsstätte im Bereich der Architektur und des Design. Einer der lehrenden Künstler am Bauhaus war Oskar Schlemmer, der Schöpfer des Triadischen Balletts. Einige seiner farbigen Kostüme aus dem Jahr 1923 sind heute noch als Figurinen in der Staatsgalerie Stuttgart zu besichtigen.---Die Neuerungen machten selbst vor der Musik nicht halt. Arnold Schönberg führte 1923 die Zwölftonmusik ein und revolutionierte damit die herkömmliche Harmonielehre. Alle Töne waren plötzlich gleichberechtigt; es gab keine Tonarten mehr. Zwölftonmusik klingt auch für heutige Ohren noch ziemlich "schräg".

Fazit

Das waren, im Schnelldurchlauf, nur einige bedeutsame Ereignisse und Namen der beiden Dekaden von 1905 bis 1925. Ich glaube, dass niemand diese Fülle zu Beginn vorher gesehen hätte, ganz sicherlich nicht den grausamen Einschnitt des Ersten Weltkriegs.

Es spricht wenig dafür, dass die Zeitspanne von 2016 bis 2036 weniger ereignisreich verlaufen wird, wobei uns hoffentlich ein Dritter Weltkrieg erspart bleiben möge. So gesehen sollte man den eingangs erwähnten acht Schriftstellern und Regisseuren der ZEIT-Umfrage wegen ihrer einsilbigen Statements nicht gram sein.

Ihr Auftrag war eine mission impossible.

1 Kommentar:

  1. Bernhard Steinmetz20. Februar 2016 um 17:15

    Ich fand den Blog unter dem Titel "20 Jahre in die Zukunft" mit der Auswahl des Zeitraums von 1905 bis 1925 ganz großartig. Sie haben anhand dieses Beispiels gezeigt, wie außerordentlich schwierig bis hin zu gänzlich unmöglich es ist, in die Zukunft zu schauen und hierfür verlässliche Prognosen zu treffen. Es passieren eben neben einigen rational bestimmten Handlungen viel zu viele irrationale bzw. aus unserer mitteleuropäischen Sicht nicht vorhersehbare Dinge in dieser Welt. Seit einigen Jahren fällt es ja sogar schwer, die Absichten und Handlungen der eigenen Regierung nachzuvollziehen, geschweige denn, sie vorherzusagen. Wollen wir hoffen, dass wenigstens der mühsam erreichte Frieden in Europa noch einige Jahrzehnte hält und uns eine Inflation wie Anfang der 20er Jahre erspart bleibt....

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