Der Jahreswechsel ist für viele Medien ein willkommener Anlass, auf das abgelaufene Jahr zurück zu blicken - oder über die zukünftigen Jahre zu spekulieren. Letzteres hat die Wochenzeitung "DIE ZEIT" in ihrer Sylvesterausgabe getan. Acht bekannte Schriftsteller und Regisseure - also von Berufs wegen "Visionäre" - sollten sich zum Thema "Deutschland 2036" auslassen und ihren Blick in die Zukunft schweifen lassen. Nun, die Redaktion mag vom Ergebnis etwas enttäuscht gewesen sein. Schwadroniert haben die Promis zumeist über die allgegenwärtigen Großthemen Flüchtlinge, Klimawandel und Energiewende; die Zukunft 2036 erreichten sie quasi über ein angelegtes Lineal. Ergebnis: die Zukunft wird sein wie die jetzige Gegenwart - nur etwas schlechter.
Diese Methode funktioniert in aller Regel nicht. Versetzen wir uns 20 Jahre zurück - in das Jahr 1996 - und prognoszieren wir die
Ereignisse (zukünftig in Fett- und Schrägdruck) der nächsten zwei Dekaden, so hätten wohl die wenigsten von uns das Internet vorhergesagt und noch weniger das Smartphone und die Finanzkrise im Jahr 2007. Dabei war dieser Zeitbereich keineswegs der bislang ereignisreichste. Ich möchte für diesen Blog die zwanzig Jahre zwischen 1905 und 1925 des vorigen Jahrhunderts auswählen, deren vergangene Ereignisse uns aus der Geschichte ja bestens bekannt sind. Also, liebe Blogleser, stellen Sie sich vor, Sie wären zu Anfang des Jahres 1905 von einer Zeitung gebeten worden, über die anstehende Zukunft bis zum Jahr 1925 zu spekulieren. Ich möchte wetten, mit Verlaub, dass Ihnen nicht die Vielzahl der bevorstehenden Ereignisse (und die dazu gehörigen
Namen - in Schrägschrift) in den Sinn gekommen wären. Wir Menschen sind eben keine Propheten! Und dabei erleichtere ich diese Aufgabe noch, indem ich nur vier kumulierte Ereignisbereiche - nämlich Naturwissenschaften, bildende Kunst, Politik und Lebensgefühl - stärker ins Visier nehme.
Beginnen wir also unser Gedankenexperiment mit dem Jahr 1905. Für den normalen Beobachter der damaligen Zeit war es kein besonders herausstechendes Jahr: der deutsche Kaiser machte (wie alljährlich) seinen Flottenbesuch, diesmal beim Sultan von Marokko; die bayerische Abgeordnetenkammer debattierte (erfolglos) über die Einführung des Neun-Stunden-Arbeitstags und der Schriftsteller Ludwig Thoma veröffentlichte seine "Lausbubengeschichten". Und im brandenburgischen Ort Klein Luckow wurde einer Steuermannsfamilie ein Knäblein geboren, dem man den Namen Max gab und der später, unter seinem Vollnamen Max Schmeling, die deutschen Boxfans fast hundert Jahre lang bis zu seinem Tod im Februar 2005 entzückte.
Große Entdeckungen in den Naturwissenschaften
Der genannte Zeitbereich von 1905 bis 1925 war gekennzeichnet durch große Entdeckungen, vor allem in den Fächern Physik und Chemie. Der Kürze wegen seien nur die Fortschritte auf dem Gebiet der theoretischen Kernphysik
betrachtet. Ein Name dominiert alle übrigen:
Albert Einstein. Der gebürtige Württemberger und technischer Experte der 3. Klasse beim Schweizer Patentamt in Bern veröffentlichte 1905 (als 26-jähriger!) seine
Spezielle Relativitätstheorie. Noch heute leben die beim Publikum ausserordentlich beliebten "Star Wars"-Filme von seinen Erkenntnissen, wonach - für einen ruhenden Betrachter auf der Erde - die Zeit in einem schnell bewegten Körper (z. B. einer Rakete) langsamer abläuft und die Entfernungen (zu einem fernen Stern) kürzer werden. Darüberhinaus publizierte er erstmals die berühmte Formel
E=mc^2 gemäß welcher die Masse m und Energie E äquivalent sind über die konstante Lichtgeschwindigkeit c. Zehn Jahre später, im November 1015, veröffentlichte Einstein die sogenannte
Allgemeine Relativitätstheorie, welche zum Verständnis des Universums unerlässlich ist. Sie beschreibt die Wechselwirkung zwischen Materie sowie Raum und Zeit; die Schwerkraft (Gravitation) wird als geometrische Eigenschaft der gekrümmten vierdimensionalen Raumzeit definiert.
Nicht nur bei der Beschreibung des riesigen Weltraums, sondern auch bei der Deutung des subatomaren Bereichs war Einstein erfolgreich. Für die Entdeckung
Photoeffekts bekam er 1922 sogar den Nobelpreis der Physik, wobei er erstmals den Begriff des Lichtquants einführte. Daraus entwickelte sich (bis 1925) die
Quantenmechanik. Die herausragenden Forscher auf diesem Gebiet waren
Max Planck, Nils Bohr, Max Born und
Werner Heisenberg. Letzterer formulierte unter anderem die nach ihm benannte
Unschärferelation, wonach bestimmte Messgrößen eines Teilchens (etwa sein Ort oder seine Geschwindigkeit) nicht gleichzeitig beliebig genau bestimmbar sind.
Die mathematische Zusammenführung der beiden Relativitätstheorien mit der Quantenphysik ist der "Heilige Gral" der Physik. Trotz gigantischer Anstrengungen ist es bis heute nicht gelungen, die berühmte "
Weltformel" zu finden, welche sowohl den Makrokosmos als auch den Mikrokosmos beschreibt. Mit der Stringtheorie schien man auf dem richtigen Weg zu sein, aber inzwischen - wegen der Vermutung der Dunkelmaterie und der Dunkelenergie - ist die Astrophysik noch komplexer und undurchschaubarer geworden. Es scheint, als müsse die Welt auf einen zweiten Einstein warten.
Malerei: Explosion der Stilrichtungen
Große Umwälzungen gab es zu Anfang des 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Malerei. Ausgehend vom
Impressionismus löste sich die Farbe vom Gegenstand, wurde flächiger und drückte nun auch Empfindungen aus: der
Expressionismus (in Frankreich:
Fauvismus mit
Henri Matisse) war geboren. Beispielhaft dafür sind die sogenannten "Brücke"-Maler, wie
Ernst Ludwig Kirchner und
Erich Heckel in Dresden, sowie die Maler des "Blauen Reiters"
Franz Marc und
Wassily Kandinsky in München. Kandinsky löste allmählich den Gegenstand ganz auf und konzentrierte sich nur noch auf die Wechselwirkung von Form und Farbe, womit er zum Wegbereiter der
abstrakten Kunst wurde.
Bild 1 (Kandinsky, Komposition IV, 1911)
Eine andere Richtung beschritten in Frankreich die Maler des
Kubismus, wobei insbesondere
Pablo Picasso und
George Braque zu nennen sind. Die Farbe war ihnen weniger wichtig; stattdessen versuchten sie den Gegenstand (gleichzeitig) aus verschiedenen Sichtrichtungen zu malen und zu charakterisieren. Ein Krug wurde beispielsweise - auf dem gleichen Bild - von oben, von unten und im Profil dargestellt. Als Schlüsselbild hierfür gilt Picassos berühmtes Bild "
Les Demoiselles d´Avignon" vom Jahr 1907 - wobei nicht bekannt ist, ob die darauf portraitierten Damen (allesamt Prostituierte aus der südfranzösischen Stadt Avignon) Picassos Darstellung wirklich goutiert haben.
Bild 2 (Pablo Picasso, Les Demoiselles d´Avignon, 1907)
Noch einen Schritt weiter gingen die Vertreter des
Dadaismus, zum Beispiel
Marcel Duchamp, der praktischerweise auf die Malerei ganz verzichtete und den Gegenstand selbst zur Kunst erklärte. Man denke an den käuflichen "Flaschentrockner" oder das
"Urinal", welche als sogenannte "ready mades" 1914 in Ausstellungen präsentiert wurden. Anfang der zwanziger Jahre entstand daraus der
Surrealismus, der sehr stark von
Sigmund Freud und seinen Traumdeutungen beeinflusst war. Prominente Künstler dieser Richtung waren
Max Ernst, René Magritte und
Salvadore Dali.
Bild 3 (Marcel Duchamp, Urinal, 1914)
Der Erste Weltkrieg
Der Erste Weltkrieg war die
Urkatastrophe des frühen 20. Jahrhunderts. Wie die "Schlafwandler" (Christopher Clark) - und keineswegs legitimiert durch das Attentat von Sarajewo - stürzten sich die europäischen Großmächte in dieses Massaker. Zum Schluss waren
40 Staaten am Weltkrieg beteiligt und 70 Millionen Soldaten standen unter Waffen. Typisch für das Kampfgeschehen waren die
Stellungs- und Grabengefechte sowie die
Materialschlachten bei nur geringfügigen Geländegewinnen. Dies betraf vor allem die
Schlacht von Verdun, wo insgesamt 700.000 Soldaten ihr Leben ließen. Die Wende brachte der Einsatz der Tanks und der Bombenflugzeuge, aber insbesondere 1917 der
Kriegseintritt der USA. Eklatante Versorgungsmängel führten zu
Hungersnöten an der Heimatfront und letztlich zur
Kapitulation Deutschlands im November 1918. Der Erste Weltkrieg forderte
zehn Millionen Todesopfer, etwa 20 Millionen Verwundete und weitere 7 Millionen zivile Opfer. Im Zuge einer anschließenden weltweiten Epidemie ("
Spanische Grippe") starben weitere 25 Millionen Menschen.
Der verlorene Weltkrieg war begleitet von enormen politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen. Die
Monarchie wurde abgeschafft und der glücklose
Kaiser Wilhelm II ins Exil nach den Niederlanden abgeschoben. Gleichzeitig kam es zur
Abschaffung des Adels, was etwa 1 Prozent der Bevölkerung betraf, also ca. 60.000 Personen. Nach einigen regionalen, politischen Turbulenzen (Räte-Republiken) wurde verfassungsrechtlich die
Weimarer Republik eingeführt. Frankreich bestand auf hohen Reparationszahlungen (
Versailler Vertrag), die letztlich den Grundstein zum nächsten Weltkrieg legten. Die
Hyperinflation 1923 war eine Spätfolge des Ersten Weltkriegs, eine Blase, die fünf Jahre nach der Kapitulation platzte. Das Geld wurde in Schubkarren transportiert, die Bündel als Heizmaterial zweckentfremdet. Größter Profiteur war der deutsche Staat. Seine gesamten
Kriegsschulden in Höhe von 154 Milliarden Mark beliefen sich am 15. November 1923, als die
Rentenmark eingeführt wurde, auf gerade mal 15,4 Pfennige.
In Russland kam es 1917 zur
Oktoberrevolution. Der
Kommunist Lenin wurde - mit deutscher Unterstützung - Führer der Fraktion der Bolschewiki. Zar Nikolaus II hatte schon vorher abgedankt. Durch den
Friedensvertrag von Brest-Litowsk wurde die deutsche Ostfront entlastet.--- In München versuchte
Adolf Hitler, selbsternannter
Führer der NSDAP, im November 1923 einen Putsch, wurde aber vor der Feldherrnhalle gewaltsam in Schach gehalten und in der Festung Landsberg in Haft genommen. Dort schrieb er sein Buch
Mein Kampf. Darin kündigte er den späteren Anschluss Österreichs an das "Reich" an, forderte mehr "Lebensraum" für das deutsche Volk und verurteilte die "jüdische Weltherrschaft". Nur wenige glaubten damals, dass Hitler diese Vorstellungen verwirklichen würde.
Neues Lebensgefühl
Mit der Einführung der stabilen Rentenmark ab 1923 begannen in Deutschland die
Goldenen Zwanziger Jahre. Die Wirtschaft fing an zu blühen und die Menschen fassten wieder Lebensmut. Das war überraschend, denn eigentlich hätte, aufgrund des verlorenen Geldvermögens, die Bevölkerung auch in Depression verfallen können. Besonders in der
Hauptstadt Berlin manifestierte sich das neue positive Lebensgefühl.
Unter den Linden und über den
Ku-Damm spazierten die Damen mit Bubikopf, Perlenkette und Boa sowie endlos langer Zigarettenspitze. Die Herren trugen Tagesanzüge á la Stresemann, ihre Haare waren streng und nach hinten gekämmt, zuweilen mit Seitenscheitel. Kinobesuche waren sehr beliebt, ebenso wie die AVUS-Autorennen. Abends ging man zum Sechstagerennen oder zu Tanzveranstaltungen, bei denen der verruchte Charleston geübt wurde. Ehemalige Offiziere, nun arbeitslos, verdingten sich als Eintänzer (
"Schöner Gigolo, armer Gigolo...")
Eine bedeutsame Kunstrichtung der Goldenen Zwanziger bezeichnete man als
Neue Sachlichkeit. Vorrangige Themen waren das Leben in der Großstadt, die Kluft zwischen Arm und Reich und die selbstbewusste Frau. Das
Großstadt-Triptychon von
Otto Dix stellte unter anderem Prostituierte dar, in teils freimütiger Pose. Ein solches Motiv - in realistischer Darstellung - wäre wenige Jahre vorher noch undenkbar gewesen. Weitere berühmte Künstler waren
Max Beckmann, George Grosz, Paul Klee u.a.---Das
Staatliche Bauhaus wurde 1919 von
Walter Gropius in Weimar als Kunstschule gegründet. Es wollte Kunst und Handwerk zusammenführen und war jahrelang die einflussreichste Bildungsstätte im Bereich der Architektur und des Design. Einer der lehrenden Künstler am Bauhaus war
Oskar Schlemmer, der Schöpfer des
Triadischen Balletts. Einige seiner farbigen Kostüme aus dem Jahr 1923 sind heute noch als Figurinen in der Staatsgalerie Stuttgart zu besichtigen.---Die Neuerungen machten selbst vor der Musik nicht halt.
Arnold Schönberg führte 1923 die
Zwölftonmusik ein und revolutionierte damit die herkömmliche Harmonielehre. Alle Töne waren plötzlich gleichberechtigt; es gab keine Tonarten mehr. Zwölftonmusik klingt auch für heutige Ohren noch ziemlich "schräg".
Fazit
Das waren, im Schnelldurchlauf, nur einige bedeutsame Ereignisse und Namen der beiden Dekaden von
1905 bis 1925. Ich glaube, dass niemand diese Fülle zu Beginn vorher gesehen hätte, ganz sicherlich nicht den grausamen Einschnitt des Ersten Weltkriegs.
Es spricht wenig dafür, dass die Zeitspanne von
2016 bis 2036 weniger ereignisreich verlaufen wird, wobei uns hoffentlich ein Dritter Weltkrieg erspart bleiben möge. So gesehen sollte man den eingangs erwähnten acht Schriftstellern und Regisseuren der ZEIT-Umfrage wegen ihrer einsilbigen Statements nicht gram sein.
Ihr Auftrag war eine
mission impossible.