Sonntag, 8. November 2015

1989: Kanzler Kohl kurz vor dem Sturz

 Soweit ich die Weltgeschichte kenne, gibt es darin nur zwei Persönlichkeiten, deren knapp formulierte Ausprüche große Weltreiche zum Einsturz brachten. Der eine ist der römische Senator und Feldherr Marcus Porcius Cato der Ältere, welcher jede seiner Reden mit dem Satz beendete: "Cetero censeo Carthaginem esse delendam." (Im übrigen bin ich dafür, dass Karthago zerstört werden muss). Cato erlebte die Erfüllung seines Herzenswunsches nicht mehr, da sich Rom erst im Dritten Punischen Krieg dazu aufraffen konnte, seinem afrikanischen Erzrivalen den Garaus zu machen, als der Senator bereits 149 v. Chr. gestorben war.


Der zweite Promi dieser Art war der hochrangige DDR-Politiker Günther Schabowski, der am 9. November 1989 bei einer internationalen Pressekonferenz nach dem Zeitpunkt der Öffnung der Berliner Mauer gefragt wurde und darauf antwortete: "Nach meiner Kenntnis sofort, unverzüglich". Mit dieser Bemerkung löste er umgehend einen riesigen Strom von DDR-Bürgern über die bislang streng gehütete Stadtgrenze aus, was binnen weniger Monate zum Zerfall des sowjetischen Weltreichs führte. "Schabi", wie ihn seine zahlreichen Freunde nannten, wurde zwar 1999 zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, aber bereits ein gutes Jahr später begnadigt. Er ist vor wenigen Tagen im Alter von 86 Jahren in Berlin verstorben.


Der Kanzler im Sinkflug


Das rasche Handeln von Helmut Kohl nach dem Mauerfall und seine Verdienste um die Wiedervereinigung sind allgemein bekannt. Aber wer erinnert sich noch daran, dass der Kanzler - nur zwei Monate vor der Öffnung der Berliner Mauer - vor dem politischen Sturz stand? Seit der nur knapp gewonnenen Bundestagswahl im Januar 1987 sah sich Kohl einer starken Phalanx hochrangiger Gegner in der eigenen Partei gegenüber, an deren Spitze ausgerechnet sein eigener Generalsekretär Heiner Geißler agierte. Eigentlich zur Loyalität verpflichtet, kritisierte ihn sein pfälzischer Landsmann subtil bis offen in den überregionalen Medien ZEIT und SPIEGEL, ja sogar in der konservativen Zeitung FAZ, wofür er den bekannten Journalisten Karl Feldmeyer gewann. Kohl konnte dies nicht entgehen und er ermahnte Geißler schriftlich zu mehr Kooperation. Als dies keinen Erfolg zeitigte, ließ er seinen Generalsekretär kommen und teilte ihm mit, dass er ihn beim bevorstehenden CDU-Parteitag in Bremen nicht mehr zur Wiederwahl vorschlagen werde. Geißler, der diesen Posten seit 12 Jahren inne hatte, war ob dieser Ankündigung so perplex, dass er nur noch "das kannst du nicht tun, Helmut", hervorbrachte, bevor er aus Kohls Büro hinaus rauschte.


Nachdem das Tischtuch zwischen diesen beiden Granden zerschnitten war, betrieb Geißler ganz offen die Abwahl Kohls als Parteivorsitzender beim bevorstehenden Parteitag am 11. September 1989 in Bremen. Heiner Geißler konnte prominente Mitstreiter in der CDU gewinnen, wovon vor allem Lothar Späth, Rita Süssmuth und Kurt Biedenkopf zu nennen sind. Die Strategie dieser "Verschwörer" sah vor, beim Parteitag den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth zum CDU-Vorsitzenden küren zu lassen und diesen bei der nächsten Bundestagswahl im Jahr 1990 als Bundeskanzlerkandidaten aufzustellen. Die Ära Kohl wäre dann, nach damals weit verbreiteter Meinung, zu Ende gewesen.


Helmut Kohl blieb die Hetzjagd seines (Noch-)Generalsekretärs gegen ihn nicht verborgen. Der Kanzler brauchte dringend Erfolge, um die Delegierten beim Parteitag auf seine Seite zu ziehen. Und das Glück kam ihm entgegen. Der Bundeskanzler erfuhr, über vertrauliche Kanäle, dass der ungarische Ministerpräsident Miklos Nemeth demnächst vorhatte, die Grenzen seines Ostblocklandes gegenüber dem westlichen Österreich zu öffnen. Kohl konnte Nemeth - unter Zusage einiger Kredite - bewegen, diesen Grenzzaun exakt einen Tag vor dem Bremer Parteitag unter großer Medienbeteiligung aufzuschneiden. Damit war ein weltweites Signal zum künftigen Abbau des Eisernen Vorhangs gegeben.


Es kam, wie es kommen musste. Kohl nutzte dieses Großereignis beim Parteitag als Beweis für die Richtigkeit seiner bisherigen Politik. Er hielt - trotz heftiger akuter Prostataschmerzen - eine seiner bislang besten Reden und konnte damit die Delegierten auf seine Seite ziehen. Sie wählten, ohne zu zögern, Volker Rühe zum Nachfolger von Geißler als Generalsekretär und gingen sogar so weit, dass sie Lothar Späth zur Strafe aus dem Parteipräsidium kippten. Die übrigen der oben genannten Parteirivalen wurden ebenfalls heftig sanktioniert. Endgültig aus dem Rennen war Lothar Späth, als ihm 1991 nachgewiesen werden konnte, dass er auf Kosten von Industriefirmen auf der Ägäis herumschipperte ("Traumschiff"-Affäre), was ihm sogar den Posten des Ministerpräsidenten kostete. Helmut Kohl war wieder obenauf und wäre, auch ohne Wiedervereinigung, 1990 zum Kanzlerkandidaten aufgestellt worden.


Die Väter der Wiedervereinigung


Mit der Wiedervereinigung wurde in wenigen Monaten eine Aufgabe gelöst, von der man jahrzehntelang sagte, dass sie zu den kompliziertesten Problemen der Weltpolitik gehören würde. Wer waren die "Väter" (bzw. die "Mütter") der deutschen Wiedervereinigung? Nun, sicherlich nicht die Regierungschefs unserer Nachbarländer Frankreich und Großbritannien. Mitterand ließ in französischer Finesse und mit beträchtlichem Zynismus verlauten: "Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich lieber zwei als eines davon habe". Und von der Lady Margret Thatcher, die 1989 schon nicht mehr ganz gesund war und bei Konferenzen häufig einnickte, konnte man hören: "Zweimal haben wir die Deutschen geschlagen und jetzt sind sie schon wieder da". Auch Uwe Ronneburger, FDP-Abgeordneter und Genschers Intimfeind, gehörte nicht zu den Befürwortern der Wiedervereinigung. Er konnte sich nicht entblöden, Ende 1989 nach Moskau zu reisen um dort gegen den Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten zu intrigieren.


Auf deutscher Seite gehört der Ehrentitel "Vater der Wiedervereinigung" ohne Zweifel Helmut Kohl. Er hat, beginnend mit seinem 10-Punkte-Programm am 28 November 1989, bis zur formalen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 - also in weniger als einem (!) Jahr - praktisch alles richtig gemacht. Und das Tempo war notwendig, denn schon 1991 änderte sich die internationale politische Szene total mit dem Golfkrieg, der Absetzung von Gorbatschow und dem Aufkommen von Boris Jelzin - und zwar zu Ungunsten von Deutschland. Wichtig war in diesen ereignisreichen Monaten, dass der amerikanischen Präsident George Bush (und sein Außenminister James Baker) politischen Flankenschutz gewährte.


Die überragende Persönlichkeit war zu jener Zeit jedoch der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow. Er hatte die Kraft, das System, in dem er groß geworden war, in Frage zu stellen und seine Schwächen zu erkennen. Es ist tragisch, aber ungerecht, dass ihn seine politischen Gegner zum Totengräber der UdSSR stempeln wollen. Nicht zu übersehen war allerdings der damalige wirtschaftliche Bankrott der Sowjetunion, den Kohl mit 20 Milliarden DM zu lindern versuchte. (Vermutlich hätte er für die DDR auch 100 Milliarden bezahlt).


Und wie ist der Stellenwert der Bürgerbewegung um Thierse & Co, die in Ostdeutschland zu jener Zeit auf die Straße gingen mit dem Ruf: "Wir sind das Volk". Nun, sie waren sicherlich ein bedeutsames Rädchen in diesem großen politischen Getriebe. Aber wenn Gorbatschow, nach dem Fall der Mauer, seine Panzer am Checkpoint Charlie hätte auffahren lassen, dann hätten die Hardliner in Ostberlin die Grenzübergänge sicherlich ganz schnell wieder geschlossen und die allermeisten Ostbürger wären in ihre DDR zurückgekehrt.



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen