Sonntag, 30. August 2015

Die Rosenthal Story

Jedermann kennt die Porzellanmarke Rosenthal. Bei einer Umfrage in den achtziger  Jahren lag die Firma im Bekanntheitsgrad der deutschen Unternehmen an dritter Stelle (hinter Mercedes und BMW). Dabei machte die Rosenthal AG damals gerade mal eine halbe Milliarde DM Umsatz und ihre Belegschaft bestand aus nur 8.400 Angestellten und Arbeitern. Zum Firmenimage beigetragen haben sicherlich die Stimmen der vielen deutschen Hausfrauen, für die ein festlich gedeckter Tisch ohne Rosenthal-Porzellan schlechterdings nicht möglich war.

Mein Anlass, über Rosenthal zu bloggen, war erstens, weil ich rd. 20 Kilometer entfernt vom Stammsitz dieser Firma in Selb geboren wurde und zweitens, weil die persönliche Geschichte der beiden Hauptpersonen des Unternehmens so facettenreich ist, wie in keinem der vielen Porzellanunternehmen in Deutschland.

Philipp Rosenthal, der Gründer und Geheimrat

Abraham hieß der Urvater der beiden Rosenthal-"Porzellan-Könige" Philipp und Philip-letzterer mit einem "p" geschrieben. Nicht der biblische Abraham war es, sondern ein wohlhabender Tuchweber und Vorstand der Synagoge in Werl bei Soest, im heutigen Nordrhein-Westfalen. Philipp war einer seiner drei Söhne (nebst weiteren drei Töchtern) und er sollte das elterliche Geschäft übernehmen. Doch Philipp hatte daran wenig Interesse. Er büxte als 17-jähriger im Jahr 1872 nach Nordamerika aus und nach der klassischen Karriere als Laufbursche, Tellerwäscher und Fahrstuhlführer in New York zog er weiter westwärts und brachte es zum Postreiter in Texas. Mit 24 Jahren tauchte er wieder in Deutschland auf, weil er bei Hutschenreuther in Selb (Fichtelgebirge) Porzellan für seine amerikanischen Auftraggeber einkaufen sollte. Dabei machte er die Erfahrung, dass er um Porzellan geradezu betteln musste. Kurzerhand beschloss er: "Ich mache das Zeug selber".

Offenbar hatte er in Amerika genug Geld gespart, um 1879 im ehemaligen markgräflichen Schloss Erkersreuth, drei Kilometer von Selb entfernt, eine Porzellanmalerei einrichten zu können. Das unbemalte Rohporzellan, "Weißware" genannt, kaufte er bei Hutschenreuther ein und ließ es von einem Gehilfen und seiner jungen Frau Mathilde dekorieren. Mit einem vierrädrigen Handkarren brachte er es eigenhändig zum nahen Bahnhof Plößberg zur späteren Verschiffung in die USA. Die Anfänge müssen hart gewesen sein, so mühsam, dass der Selber Konditormeister, in dessen Haus Philipp Rosenthal mit Mathilde wohnte, ihm den Vorschlag machte, doch bei ihm als Geselle einzutreten und Konditor zu werden.

Den wirtschaftlichen Durchbruch brachte schließlich der legendäre Aschenbecher mit der Aufschrift "Ruheplätzchen für brennende Cigarren", ein Artikel, der wie wild gekauft wurde. Das merkte auch der alte Lorenz Hutschenreuther, der sich fortan weigerte, Rosenthal mit Weißware zu beliefern. Kurz entschlossen gründete Philipp 1889 seinen eigenen Betrieb zur Produktion von weißem Porzellan in Selb und schon bald darauf beschäftigte er dort 60 Mitarbeiter. Durch diverse Aufkäufe und Neugründungen entstand 1897 die Philipp Rosenthal & Co, Aktiengesellschaft. Der nächste Verkaufschlager war das 8- und 12- eckige Porzellanservice mit Namen "Maria", das heute noch zur Rosenthalkollektion gehört. Maria war der Name seiner zweiten (35 Jahre jüngeren) Frau, die Tochter des königlichen Advokaten Josef Frank. Von Mathilde hatte er sich vorher scheiden lassen.

Von nun an ging es nur noch aufwärts. Nach Aufkauf der bislang konkurrierenden Porzellanfabriken  Bauer, Thomas und Zeidler gründete er 1910 in Selb eine Kunstabteilung für höherwertige Dekore. Als erster "Porzelliner" erkannte er auch die Bedeutung der damals aufkommenden Starkstromtechnik für die Keramikbranche. In der Abteilung "E" entwickelte er elektrische Widerstände und Isolatoren, wofür er 1912 eigens ein Hochspannungsprüffeld für 500.000 Volt aufbaute. Als die Rosenthal AG 1929 das 50-jährige Firmenjubiläum feierte, hatte der Konzern schon mehr als 7.000 Mitarbeiter. Für seine Verdienste wurde Philipp Rosenthal zum Geheimrat ernannt, ein Titel, mit dem er sich gerne ansprechen ließ.


Philipp Rosenthal, Vater, (1855 - 1937)

In der Nazizeit wurde (der Katholik!) Rosenthal wegen seiner jüdischen Abstammung aus dem Unternehmen verdrängt. Im Jahr 1934 musste er den Vorstandsvorsitz in seiner Aktiengesellschaft niederlegen. Bald darauf kam es zu Erbstreitigkeiten, weil die Töchter aus erster Ehe befürchteten, bei der Aufteilung des Familienvermögens zu kurz wegzukommen. Die Nazis nutzten diese Gelegenheit und ließen im Februar 1937 Philipp "wegen Altersveränderung im Gehirn" entmündigen und für geschäftsunfähig erklären.  Wenig später musste die Familie ihr gesamtes Aktienpaket unter Wert verkaufen. Sechs Wochen darauf starb der fast 82-jährige Philipp Rosenthal in einem Bonner Sanatorium. Seinem Wunsch gemäß wurde er in Bozen, Südtirol, begraben. Die damals 47-jähige Witwe Maria Rosenthal verlegte ihren Wohnsitz an die französische Riviera, nach Juan le Pin, wo sie einen französischen Adeligen, den Grafen de Beurges, heiratete.

Philip Rosenthal, der Paradiesvogel und Ästhet

Philip Rosenthal war der einzige Sohn seines Vaters Philipp und dessen zweiter Frau Maria. Wie in diesen Kreisen damals üblich, besuchte Philip diverse Privatgymnasien, u. a. in München und in der Schweiz. Als die Nazis begannen, seine Familie zu drangsalieren, wich er nach England aus und studierte Philosophie und Volkswirtschaft an der Universität Oxford, wo er zum Master of Arts graduierte. Dort war er aufgrund seiner athletischen Leistungen auch Kapitän der berühmten Rudermannschaft. Bei Ausbruch des Krieges mit Frankreich besuchte er gerade seine Mutter in Marseille, wo er sich von geschickten Werbern dazu überreden ließ, der französischen Fremdenlegion beizutreten. Er merkte bald, dass er dort am falschen Platz war, aber erst beim vierten Fluchtversuch gelang es ihm über Gibraltar nach England zu entkommen. In London betätigte sich der nun schon 26-jährige eine Zeitlang als Bäckerlehrling, bis die Propaganda-Abteilung des britischen Foreign Office auf ihn aufmerksam wurde und ihn beim "Soldatensender Calais" als Verfasser und Sprecher von Texten einsetzte.

Nach dem Krieg bat ihn seine Mutter nach Deutschland zu fahren um die finanziellen Rückerstattungsansprüche der Familie Rosenthal zu regeln. So kam er 1947 nach langer Abwesenheit wieder nach Selb zur Firma seines Vaters. Dort waren mittlerweile ganz andere Menschen in der Führungsebene und die beinharten Verhandlungen dauerten drei Jahre, bis man sich schließlich auf einen Vergleich einigen konnte. Die Familie Rosenthal erhielt 1.020.000 DM in bar und nominal 792.000 DM Aktien, das waren 11 Prozent des Aktienkapitals. Auf Philip entfielen Aktien im Wert von 380.000 DM. Gleichzeitig machte man ihm das Angebot, als Werbechef bei der Firma Rosenthal einzutreten, was Philip annahm.

Man war offensichtlich zufrieden mit ihm, denn 1958 wurde er zum Vorstandsvorsitzenden der Rosenthal AG ernannt. Philip war eine einzigartige Mischung aus Manager und Ästhet. Einer seiner Leitsprüche lautete: "Wer zu spät an die Kosten denkt, ruiniert sein Unternehmen; wer zu früh an die Kosten denkt, tötet die Kreativität." In diesem Sinne kreierte er Anfang der 60er Jahre die berühmte "Rosenthal-Studio-Line", die bis heute ein anerkanntes Leitbild für moderne Tisch- und Wohnkultur blieb. Mehr als hundert Künstler und Designer, wie Björn Winblad, Tapio Wirkkola,  Jasper Morrison, Timo Sarpaneva, Victor Vasarely, Henry Moore etc. entwarfen Porzellanservice, Vasen, Gläser und Bestecke, von denen viele noch heute zum Bestand des berühmten New Yorker Museums MoMA gehören. Auch seine architektonische Umwelt ließ Rosenthal neu gestalten. Das ehemalige trist-graue Fabrikgebäude in Selb erhielt von dem Zero-Künstler Otto Piene einen farbenfrohen Anstrich im Regenbogenformat und ist heute noch ein Hingucker für die sommerlichen Touristikbusse in dieser Stadt. Bei kulturellen Veranstaltungen der sogenannten "Rosenthal-Feierabende" wurden Theater- und Musikveranstaltungen mit weltberühmten Künstlern, wie Yehudi Menuhin und Louis Armstrong, nach Selb gebracht.

Als einer der ersten deutschen Unternehmer führte Philip Rosenthal 1963 ein Beteiligungssystem für Arbeitnehmer durch Mitbestimmung und Vermögensbildung ein. Auf diese Weise waren 1969 bereits 5,5 Prozent des Firmenkapitals in den Händen von 60 Prozent der Belegschaftsmitglieder. Kein Wunder, dass die regierenden Sozialdemokraten auf Rosenthal aufmerksam wurden. Der damalige Kanzler Willy Brandt konnte den Manager überreden, Bundestagsabgeordneter zu werden und in seine Regierung als Parlamentarischer Staatssekretär einzutreten. Bei Wirtschaftsminister Karl Schiller sollte er für die Vermögensbildung der Arbeitnehmer zuständig sein. Aber bald kam es zu Differenzen zwischen Rosenthal und seinem Minister. Die beiden "Alpha-Tiere" vertrugen sich nicht. Der Ministerkollege Gerhard Eppler brachte es auf den Punkte als er sagte: "Der Schiller hat einen Unternehmer erwartet und bekam den Rosenthal; der Rosenthal hat einen Sozialdemokraten erwartet und bekam den Schiller." Nach gut einem Jahr verließ Rosenthal das Kabinett Brandt, blieb aber zeitlebens Mitglied der SPD.


Philip Rosenthal, Sohn, (1916 - 2001)

Philip Rosenthal blieb unangefochten Chef des Unternehmens bis zum Jahr 1981, als er das 65. Lebensjahr erreicht hatte. Weitere acht Jahre bis 1989 diente er seiner Firma als Vorsitzender des Aufsichtsrats. Als er einmal von einem Journalisten nach dem Erfolgsrezept seines Lebens gefragt wurde, antwortete er spitzbübisch: "Erfolg im Leben ist etwas Sein, etwas Schein und sehr viel Schwein." Einen geeigneten Nachfolger für den Vorstand gab es in seiner engeren Familie offenbar nicht, obwohl Philip im Laufe von fünf Ehen - davon zwei mit der gleichen Frau - für Nachwuchs reichlich gesorgt hatte.

Der Tod kam im September 2001. Rosenthal war vorbereitet. Er wollte im Vorhof seines Schlosses in Erkersreuth beerdigt werden. Auf einer schlichten Grabplatte ließ er folgende Inschrift anbringen:

"Vom Porzellan / verstand sein sogenannter König / eigentlich wenig. /
  Schon mehr der Bruder Rot / vom Menschen / und vom Ruderboot."

Epilog

In den vergangenen zwei Jahrzehnten, seit Philips Ausscheiden aus der Firma, gab es bei Rosenthal einschneidende Veränderungen. Im Jahr 1997 wurde das Unternehmen von dem britisch-irischen Waterford Wedgwood Konzern aufgekauft. Zehn Jahre später geriet Waterford Wedgwood in Liquiditätsschwierigkeiten und musste Konkurs anmelden. Damit wurde auch Rosenthal in den finanziellen Abgrund gerissen und war gezwungen im April 2009 die Insolvenz vor dem Amtsgericht in Hof zu erklären. Aber Rosenthal fand einen potenten Käufer. Das Unternehmen gehört seit dem 1. August 2009 dem italienischen Haushaltswarenhersteller Sambonet Paderno  und ist innerhalb dieses Konzerns weitgehend selbstständig. Der Firmensitz ist weiterhin Selb, das Unternehmen wird derzeit von dem Manager Pierluigi Coppo geleitet.

Für die Freunde des guten Porzellans ist eine Reise nach Selb zu den weitläufigen Schau- und Verkaufsräumen von Rosenthal immer noch ein guter Tipp.

Sonntag, 23. August 2015

Das Großprojekt FAIR Darmstadt in der Krise

Gut 30 Jahre lang betrieb die "Gesellschaft für Schwerionenforschung" (GSI) bei Darmstadt ein (relativ) kleines Forschungszentrum, das praktisch nur auf ein einziges Ziel ausgerichtet war: mit Hilfe eines Linearbeschleunigers sollten durch Fusion superschwere Atomkerne jenseits des Urans erzeugt werden. Bei dieser Aufgabe war man durchaus erfolgreich. Der Gruppe um Professor Peter Armbruster gelang es - durch wohldosierten Zusammenstoß zweier mittelgroßer Atomkerne - etwa ein halbes Dutzend dieser Exoten zu finden. Einem gaben sie den Namen "Darmstadtium", als Hommage an den Forschungsstandort Darmstadt. All diese Nuklide existieren nur Bruchteile von Sekunden und als es nicht gelang, zu den von einigen Theoretikern vorhergesagten "stabilen Inseln" vorzustoßen, flaute das Interesse der Community an dieser physikalischen Handwerkskunst ab. Etwa um die Jahrtausendwende beendete man diese Forschungen und wandte sich neuen Feldern zu.

FAIR - ein riesiges Projekt

Man wollte die thematische Monokultur der superschweren Kerne verlassen und sich der programmatischen Vielfalt der modernen Kernphysik öffnen. Die negativ geladenen Antiprotonen sollten dabei eine besondere Rolle spielen. Das Projekt FAIR - "Facility for Antiproton and Ion Research" wurde 2003 vorgestellt und der damalige Geschäftsführer Horst Stöcker versprach, die Physik des Universums ins Labor zu holen. Apparatives Kernstück von FAIR waren zwei große Beschleunigerringe von 1.100 Metern Umfang, die übereinander gemeinsam in einem unterirdischen Tunnel verlaufen sollten. Dem noch vorhandenen Beschleuniger des GSI war nur noch die dienende Rolle des Vorbeschleunigers zugedacht. An die beiden großen Beschleunigerringe sollte sich ein hochkomplexes System von weiteren Speicherringen und Experimentierstationen anschließen, wie in der untenstehenden Skizze veranschaulicht. FAIR sollte aus vier großen Unterprojekten bestehen und 3.000 Wissenschaftlern und Technikern Beschäftigung bieten. CERN lässt grüßen!


Bild 1: Aufbau der geplanten Beschleunigeranlage FAIR (rot), die an die existierenden GSI-Beschleuniger (blau) angeschlossen wird.

Das Forschungsministerium in Berlin und das Sitzland Hessen waren bereit 75 Prozent der Projektkosten zu tragen; die restlichen 25 Prozent sollten von internationalen Partnern beigesteuert werden. So kam es im Oktober 2010 zur Gründung der "FAIR-GmbH", der (neben Deutschland) die Länder Finnland, Frankreich, Indien, Polen, Rumänien, Russland, Schweden, Slowenien und Großbritannien angehörten. Russland ist in diesem Verbund der stärkste ausländische Partner; das Land verpflichtete sich zur Zahlung von 174 Millionen Euro und zur Lieferung der supraleitenden Magnete. Demzufolge wurde Boris Scharkow zum wissenschaftlichen Geschäftsführer der FAIR-GmbH bestellt.

Technische Probleme, Mehrkosten, Terminverzögerungen

Die bautechnischen Probleme zeigten sich schon bald nach der Gründung der FAIR-Gesellschaft. Testbohrungen im Gelände der beiden großen Beschleunigerringe ergaben, dass der Untergrund nicht - wie erwartet - felsig war, sondern aus leichtbeweglichem Sand und Ton bestand. Er musste durch 1.400 Bohrpfähle aus Stahlbeton bis in eine Tiefe von 60 Metern verfestigt werden, eine schwierige Arbeit, die bis zum Jahr 2014 andauerte. Da die ausländischen Partnerländer nicht bereit waren, zusätzliche Millionen "in Beton" zu investieren, mussten der Bund und das Land Hessen diese Mehrkosten (über 100 Millionen Euro) alleine tragen.



Bild 2: Luftaufnahme aus dem Sommer 2013: Darauf ist die 20,8 Hektar große Rodungsfläche neben der bestehenden Forschungsanlage des GSI Helmholtzzentrums für Schwerionenforschung zu sehen.

Inzwischen sind die Projektkosten für FAIR kontinuierlich angestiegen. Bei Planungsbeginn rechnete man noch mit 675 Mio Euro; bis 2010 stiegen sie über 940 auf 1.200 Mio Euro an. Nunmehr, im Jahr 2015, liegt der offizielle Preis für FAIR bei 1.600 Mio Euro. Inoffiziell schätzen kundige Experten die Projektkosten eher auf 1.800 Mio - und die "Realisten" gehen sogar von über 2 Milliarden aus.

Analog zu den Kosten hat sich auch der Terminplan verschoben. Ursprünglich sollte der erste Ionenstrahl im Jahr 2016 kreisen, nun rechnet man - offiziell! - mit 2018. Sachkundige Beschleunigerfachleute halten es, angesichts des langsamen Baufortschritts, für wahrscheinlicher, dass die Inbetriebnahme der komplexen Anlage nicht vor dem Jahr 2025 stattfinden wird.

Gutachter verbreiten Schrecken

Die preisliche und terminliche Schieflage des Projekts FAIR bereitete Ende 2014 im Forschungsministerium in Berlin (BMBF) große Sorgen. Der Aufsichtsratsvorsitzende von FAIR, Dr. Georg Schütte, gleichzeitig Staatssekretär im BMBF, reagierte wie dies immer in solchen Fällen geschieht: er richtete einen Gutachterkreis ein, der den Gründen für diese Probleme nachgehen und Vorschläge zu deren Beseitigung machen sollte. Mit der Leitung beauftragte er Professor Rolf-Dieter Heuer, den (deutschen) Generaldirektor des CERN in Genf.

In ihrem Bericht Anfang des Jahres 2015 kam diese Kommission zu dem Schluss, dass FAIR wissenschaftlich sehr gut, aber organisatorisch und strukturell kritisch zu bewerten sei. Im Umfeld dieses Statements kam es zu einem Revirement bei der Geschäftsführung und bei der Bauleitung. Im Februar 2015 trafen Heuers Gutachter die Vertreter der vier großen Forschungsprogramme an FAIR; dabei wurde abgeschätzt, wie sich deren internationale Wettbewerbsfähigkeit entwickeln würde, falls sich FAIR bis 2025 verzögert. In den Empfehlungen, welche die Kommission Mitte April veröffentlichte, wurde das Antiprotonenprogramm PANDA mit der geringsten Priorität versehen. Die Gutachter waren der Meinung, dass PANDA bei dieser angenommenen großen Verzögerung erhebliches Entwicklungspotential an konkurrierende Gruppen in Genf, sowie in USA und in Japan verlieren würde. Die hohen Kosten dieses Teilprojekts seien deshalb nicht zu rechtfertigen.

Seitdem tobt eine heftige Diskussion. Die 500 Wissenschaftlicher, welche seit 10 Jahren an PANDA arbeiten, bombardieren Georg Schütte mit Briefen und Eingaben, sowie mit der Forderung, das Ranking der vier Teilprojekte nochmals zu überdenken. Ob das geschehen wird, darf bezweifelt werden. Ziemlich sicher wird sich das oberste FAIR-Gremium, der "Council" demnächst mit der Angelegenheit befassen und die endgültige Entscheidung treffen. Es könnte das Ende des eigentlich interessantesten Teilprojekts von FAIR bedeuten.

Gemäß dem alten Sprichwort: Wer zu spät kommt, den bestrafen die Götter.

Freitag, 14. August 2015

Das Bundesverfassungsgericht - "eine Laienspielschar?"

Heute würde es niemand mehr wagen - schon gar  kein Politiker - die Richter des Bundesverfassungsgericht als "Laienspielschar vom Karlsruher Schlossplatz" zu bezeichnen. Damals, in den fünfziger Jahren, waren derlei despektierliche Redeweisen unter den Politikern der provisorischen Bundeshauptstadt Bonn aber durchaus gang und gäbe. Inzwischen hat das oberste deutsche Gericht mächtig an Status gewonnen. Wenn es seine weitreichenden Urteile verkündet, sitzen im Auditorium in der Regel leibhaftige Minister und nicken brav mit den Köpfen - auch wenn sie den Spruch der hohen Richter ganz und gar nicht goutieren.

Das Ambiente

Am 23. Mai 1949 trat das Grundgesetz in Kraft. Es sah (erstmalig in Deutschland) die Einrichtung eines Verfassungsgerichts vor. Als Standort wurde Karlsruhe gewählt, was kein Zufall war. Baden hatte vorher seine staatliche Selbstständigkeit verloren und war in dem Südweststaat Baden-Württemberg aufgegangen, was von den Einwohnern Badens als "schwerwiegende Verletzung des föderalen deutschen Staatsaufbaus" angesehen wurde. Für die Stadt Karlsruhe war der Titel "Residenz des Rechts" eine gewisse Entschädigung für den Verlust der Hauptstadtfunktion.

Dessen ungeachtet gibt es so etwas wie eine Karlsruher "Urangst", jemand könnte der Stadt das Verfassungsgericht wegnehmen. Tatsächlich wurde bei der Wiedervereinigung kurz erwogen, das Gericht nach Leipzig oder Potsdam zu verlegen. Es kam nicht dazu. Die Richter schätzen das unaufgeregte Karlsruher Lebensgefühl sowie die badische Liberalität. Und die Distanz zum allzeit hektischen Berliner Politikbetrieb.

Im Jahr 1951 nahm das Bundesverfassungsgericht (BVG) seine Arbeit auf. Zunächst war das BVG im Palais des ehemaligen Prinzen Max von Baden untergebracht. Im Jahr 1969 bezog es das von dem Architekten Paul Baumgarten entworfene Gebäudeensemble am Karlsruher Schloss, welches in der Tradition der deutschen Bauhaus-Architektur steht. Transparenz und Offenheit prägen sein Erscheinungsbild, das im Wesentlichen aus sechs würfelartigen Baugruppen besteht. Das denkmalgeschützte Gebäude wurde in den Jahren 2011 - 14 grundlegend saniert.



Das Bundesverfassungsgericht, eingebettet zwischen Schlossplatz (oben) und Botanischen Garten (unten) mit den sechs Gebäudeteilen. (Foto: BNN)

Die transparente Bauweise des BVG signalisiert dem Bürger, dass sich das Gericht in ihren Dienst stellen will. Anders als frühere "Justizpaläste", etwa das Reichsgericht in Leipzig, das mit Portikus und Kuppel ein Beispiel für wilhelminische "Staatsarchitektur" war und das heute als Bundesverwaltungsgericht dient. Freilich ist der Zutritt zum BVG nicht schrankenlos. Eine Hundertschaft der Bundespolizei bewacht das Gebäude subtil aber effizient. Demgegenüber ist der ebenfalls in Karlsruhe beheimatete Bundesgerichtshof (wegen Überfällen in der RAF-Zeit) streng verbarrikadiert und die Generalstaatsanwaltschaft befindet sich sogar in einer Art Festungsbau.

Die Richter

Das Bundesverfassungsgericht ist ein Zwillingsgericht. Es besteht aus zwei Senaten. die mit jeweils acht Richtern und Richterinnen besetzt sind. Die Hälfte dieser Richter wählt der Bundestag, die andere Hälfte der Bundesrat. Wer 40 Jahre alt ist und das 2. Juristische Staatsexamen bestanden hat, kann zum BVG berufen werden. Die Amtszeit beträgt (einmalig) 12 Jahre. Jeder Senat bildet mindestens 3 drei Kammern, mit jeweils drei Mitgliedern. Sie bearbeiten Verfassungsbeschwerden von nicht grundsätzlicher Bedeutung. Das BVG hat insgesamt 260 Beschäftigte und einen Jahresetat von 29 Millionen Euro.

Professor Andreas Voßkuhle ist derzeit Präsident des Bundesverfassungsgericht. Er kommt von der Universität Freiburg, wo er einige Jahre Rektor war. Sein Stellvertreter ist Ferdinand Kirchhof, dessen wissenschaftlicher Heimathafen die Universität Tübingen ist. Kirchhof ist der Bruder des einstigen Verfassungsrichter und Steuerexperten Paul Kirchhof. Seit 2011 agiert Peter Müller als Verfassungsrichter am BVG und ist dort zuständig für das hochkomplexe NPD-Verbotsverfahren. Müller war 12 Jahre lang Ministerpräsident des Saarlandes und vorher Richter am Landgericht Saarbrücken.

Jeder Richter hat vier Assistenten bzw. Assistentinnen, die ihnen zuarbeiten. Es sind junge, hochqualifizierte Juristen, manche bereits mit Richtererfahrung, welche die Literatur auswerten und die Fälle für ihren jeweiligen Richter vorbereiten. Sie werden als der heimliche "dritte Senat" bezeichnet. Logischerweise sind diese auf wenige Jahre befristeten Stellen bei juristischen Berufsanfängern sehr begehrt.


Die Richtertracht des BVG

In der Öffentlichkeit sind die Richter und Richterinnen durch die scharlachroten Roben mit weißem Jabot bekannt. Die Roben sind der traditionellen Richtertracht der Stadt Florenz aus dem 16. Jahrhundert nachempfunden; sie hat ein Karlsruher Kostümbildner entworfen.

Die Verfahren

Das Bundesverfassungsgericht ist Hüter des Grundgesetzes. Es umfasst derzeit 141 Artikel, beginnend mit dem Artikel 1, die Würde des Menschen ist unantastbar (whatever that is), über den Artikel 16a, Politisch Verfolgte genießen Asyl, bis zum Artikel 141, der die Religionsfreiheit sicherstellt. Die häufigste Verfahrensart ist die Verfassungsbeschwerde. Jedermann kann behaupten durch Gerichtsurteile oder behördliche Verfügungen in seinen Grundrechten verletzt worden zu sein und demzufolge Verfassungsbeschwerde vor dem BGV erheben. Hierfür werden keine Gebühren verlangt. Im Normenkontrollverfahren prüft das BVG, ob Gesetze des Bundes oder der Länder mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Der Erste Senat ist als sog. Grundrechte-Senat für die Verfassungsbeschwerden zuständig, der Zweite Senat, als sog. Staatsgerichtshof für die Bund-Länder-Streitigkeiten. Die mündlichen Verhandlungen und Urteilsverkündigungen sind öffentlich.

Von 1951 bis 2014 wurden insgesamt 214.462 Verfahren beim BVG anhängig. Davon sind 7.826 im Senat und 180.044 in den Kammern abgehandelt worden. Bei 2.704 Anträgen wurde auf Erlass einer einstweiligen Verfügung entschieden. Der freie und kostenlose Zugang zum Verfassungsgericht birgt auch Schattenseiten. Unter den Kunden des BVG gibt es einige "Dauerkläger", die bereits 300 bis 400 Verfassungsbeschwerden (erfolglos) erhoben haben. Ein Anwalt ist für solche Klagen nicht erforderlich und die durchschnittlichen Kosten von 5.000 Euro trägt die Staatskasse.

Bei der Vollstreckung der Urteile gab es vor allem in den Anfangsjahren einige Schwierigkeiten. Im Bewusstsein, sich nicht um "die Laienspielschar am Karlsruher Schlossplatz" kümmern zu müssen, negierten manche Parlamente einfach die Urteile des BGV. Das geschah zum Beispiel bei der Entscheidung zur Gleichstellung von nichtehelichen Kindern in den sechziger Jahren. Der Gesetzgeber ließ die Frist, die ihm das Bundesverfassungsgericht zur Herstellung einer verfassungsgemäßen Rechtslage gesetzt hatte, tatenlos verstreichen. Daraufhin drohte das Gericht, alle Gesetze, die diese Fälle betreffen, für verfassungswidrig zu erklären. Das hat den Gesetzgeber motiviert, dann doch sehr schnell verfassungskonforme Regelungen zu verabschieden.

Ansonsten fühlen sich die Richter des Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gut aufgehoben. Wer in diesen warmen Sommertagen das Café Max beim Prinz-Max-Palais besucht wird nicht selten dem einen oder anderen begegnen.

Donnerstag, 13. August 2015

Neustart der Kernkraftwerke in Japan

Während dieser Blog geschrieben wird, wurde am 11. August 2015 um 10 Uhr 30 in Japan Block 1 des Kernkraftwerks Sendai wieder in Betrieb genommen. Mit der Kritikalität rechnet man um 23 Uhr japanischer Zeit. Für den 14. August ist die Stromproduktion vorgesehen. Der Routinebetrieb soll Anfang September erfolgen. Der Block 2 soll Mitte Oktober in Betrieb gesetzt werden.

Das KKW Sendai ist an der Südspitze Japans gelegen und besteht aus zwei Druckwasserreaktoren von jeweils 890 Megawatt Leistung. Sie werden vom Energieversorgungsunternehmen Kyushu Electric Power betrieben, das vorzugsweise den Süden Japans mit Strom versorgt. Beide Blöcke wurden, wie die übrigen Atomkraftwerke Japans, nach dem Unfall von Fukushima im März 2011 stillgesetzt. Ihre Wiederinbetriebnahme bedeutet den Neustart der japanischen Kernenergiewirtschaft nach fast viereinhalb Jahren erzwungener Pause.

Strenge Sicherheitsüberprüfungen

Im Gefolge von Fukushima ordnete der damalige japanische Premierminister Naoto Kan im Juli 2011 den Ausstieg seines Landes aus der Kernenergie bis zum Jahr 2040 an. Sein Nachfolger Yoshihiko Noda weichte diesen Beschluss auf und nahm die zwei Blöcke des KKW Oi wieder in Betrieb, da eine regionale Stromknappheit drohte. Dessen Nachfolger Shinzo Abe kippte die Anordnungen seiner zwei Vorgänger und gab bereits an seinem ersten Arbeitstag bekannt, dass er die Wiederinbetriebnahme der abgeschalteten Atomkraftwerke anstrebe, sobald die technischen Überprüfungen positiv verlaufen seien. Die Mehrheit der Japaner steht - trotz einer lautstarken Minderheit - hinter diesem Beschluss.

Die neu organisierte Aufsichts- und Genehmigungsbehörde (Nuclear Regulatory Authority - NRA)  wurde mit der Aufgabe betraut, alle Kernkraftwerke von Grund auf sicherheitstechnisch zu überprüfen. Dies betraf u. a. die Basisauslegung, aber auch die detaillierte Spezifikation der Komponenten hinsichtlich ihrer Festigkeit. Als Lehre aus dem Unfall in Fukushima wurden auch die Managementsysteme der Betreiber im Falle von Kernschmelzen untersucht.

Im politischen Bereich wurde den regionalen und kommunalen Behörden am Standort (u. a. den Präfekturen) mehr Mitsprache eingereicht. Dies betraf vor allem die Evakuierungspläne bei großflächigen Kontaminationen. Dieser politische Prozess sowie die oben genannten technischen Evaluierungen dauerten bei allen Kraftwerken mehrere Jahre. Im Falle von Sendai 1 und 2 lag die Zustimmung der NRA für den Neustart bereits im September 2014 vor; die Diskussionen mit den lokalen Behörden nahmen noch ein weiteres dreiviertel Jahr in Anspruch.

Datenblatt der japanischen Kernkraftwerke
(Zur Vergrößerung Bild anklicken)

Wirtschaftliche Auswirkungen

Die wirtschaftlichen Auswirkungen der politisch verfügten Abschaltung der Kernkraftwerke waren für die Energieversorgungsunternehmen (EVU) sehr einschneidend. Große Mengen an fossilen Brennstoffen mussten plötzlich auf dem Weltmarkt eingekauft werden. Im Jahr 2014 allein beliefen sich die Ausgaben dafür auf (umgerechnet) ca. 30 Milliarden Euro. Hinzu kamen die Auflagen der NRA zur Nachrüstung der Anlagen. Höhere Dämme gegen das Meerwasserwaren waren zu errichten und bessere Notstrompumpen sowie Dieselaggregate mussten beschafft werden. Diese Kostenposition erreichte im vergangenen Jahr ca. 15 Milliarden Euro. Die EVU versuchten bei den Kosten für die Wartung der Stromnetze zu sparen, was sich aber in der Zukunft als Fehlkalkulation herausstellen könnte.

Für die Stromkunden brachte der Umstieg von nuklearer auf fossile Energie deutliche Mehrkosten. Die Strompreise erhöhten sich für die privaten Verbraucher um 20 Prozent, für die Industriekunden gar um 30 Prozent. Damit erreichten sie zwar noch nicht das deutsche Kostenniveau, sind aber dennoch doppelt so hoch wie im benachbarten Südkorea. Dies führt mittlerweile zur Abwanderung japanischer Industriebetriebe in dieses Land und andere asiatische Billigländer.

Ausblick

Welche der 48 kommerziellen Atomkraftwerke nach Sendai wieder zum Betrieb zugelassen werden, ist derzeit noch nicht beschlossen. Die größten Chancen haben die Blöcke Takahama 3 und 4 im südlichen Westen, deren Sicherheitsauslegung die NRA bereits akzeptiert hat. Aber noch haben die umgebenden Präfekturen der Wiederinbetriebnahme nicht zugestimmt. Die Stadt Kyoto hat dem Betreiber Kansai Electric sogar ein zusätzliches spezielles und sehr rigides Sicherheitsabkommen abgerungen. In weiterer Zukunft könnten die Atomkraftwerke Ikata (betrieben von Shikoku Power) und Genkai (Kyushu Power) zum Betrieb zugelassen werden.

Im allgemeinen sind Japans Kernkraftwerke auf eine Lebensdauer von 40 Jahren lizensiert. Nicht wenige der Anlagen sind diesem Grenzwert bereits sehr nahe, beispielsweise Takahama 1 und 2, beides 830 MW Blöcke, die auf eine Lebenszeit von (fast) 40 Jahre bzw. 39 Jahre zurückblicken. Ihre Genehmigung zum verlängerten Betrieb wird nicht leicht sein, denn die NRA hat bereits angekündigt, dass die Auflagen für diese Altanlagen noch strenger sein werden, als im bisherigen Verfahren. So werden beispielsweise alle Kabel zu erneuern sein, was mit horrenden Kosten verbunden ist. Der Betreiber wird sich genau überlegen müssen, ob sich die Nachrüstung lohnt - und ob er dafür die nötige Manpower hat.

Viel diskutiert wird derzeit in Japan der zukünftige Stellenwert der Kernenergie. Bislang lieferte diese 30 Prozent des Bedarfs, aber es ist einhellige Meinung, dass sich ihr Anteil - angesichts vieler Altanlagen - reduzieren wird. Die landeseigenen Alternativen zur Stromerzeugung sind sehr limitiert: die Wasserkraft wird in ihrer Kapazität auf rd. 10 Prozent abgeschätzt, den erneuerbaren Energien traut man gar nur 1 bis 2 Prozent zu. Ein Großteil an (fossilen) Brennstoffen muss weiterhin eingeführt werden.  

Das alles zusammen genommen lässt die Energiewirtschaftler vermuten, dass im Jahr 2030 der nukleare Anteil an Japans Stromerzeugung auf 15 bis 25 Prozent absinken wird.

Sonntag, 2. August 2015

Leseprobe: Die Anfänge des Atomausstiegs

Der Atomausstieg vollzog sich in Deutschland in drei Phasen und im ziemlichen Zick-Zack. Dies wird in meinem kürzlich erschienenen Buch "Energiewende und Atomausstieg" ausführlich beschrieben. (Ankündigung siehe rechts). Es kann bezogen werden über die Buchhandlungen Amazon und Thalia für 14, 99 Euro. Einige verbilligte Autorenexemplare sind für 10 Euro bei mir erhältlich. Bitte kontaktieren Sie mich unter willy.marth (at) t-online.de

Nachstehend eine Leseprobe zum moderaten Atomausstieg im Jahr 2001 unter der Kanzlerschaft Gerhard Schröder.

2.1  Der moderate Atomausstieg unter Rot-Grün (2001)

Die politischen Forderungen zum Ausstieg aus der Kernenergie reichen zurück bis in die siebziger Jahre, als die neue Partei der Grünen die Beendigung dieser Technologie verlangte. Auf dem Nürnberger Parteitag der SPD 1986, nach dem Unfall in Tschernobyl, sprachen sich auch die sozialdemokratischen Delegierten für einen "geordneten Rückzug" aus dieser Art der Stromerzeugung aus. Bei der Bundestagswahl am 27. September 1998 erreichte Rot-Grün die absolute Mehrheit, womit das Ende der Kernenergie in Deutschland gekommen schien.

Die "Scharfmacher" bei der Umsetzung des Atomausstiegs waren in den ersten Monaten der neu ernannte Bundesumweltminister  Jürgen Trittin von den Grünen und der mächtige Wirtschafts- und Finanzminister Oskar Lafontaine, SPD. Trittin kündigte an, innerhalb der ersten hundert Tage ein Gesetz zum sofortigen Ausstieg einzubringen und Lafontaine wollte "an der Steuerschraube drehen", um die Kosten für die EVU hochzutreiben. Keinem gelang ein sofortiger Sieg. Lafontaine legte schon im März 1999 seine politischen Ämter nieder, Trittin präsentierte im Kabinett zwar mehrfach rigide Gesetzesvorschläge für einen schnellen Atomausstieg, die aber von Bundeskanzler Schröder allesamt "kassiert" wurden.

Ausstieg im Konsens

Nach dem Abgang von Lafontaine wurde der neue Bundeswirtschaftsminister Werner Müller vom Kanzler mit der Leitung der Ausstiegsverhandlungen beauftragt. Als Devise gab dieser vor:  Konsens statt Konflikt. Die Regierung wollte zwar - wegen der angeblich großen Sicherheitsrisiken - den Atomausstieg weiter betreiben, aber die Bedingungen für die EVU erträglich gestalten. Müller brachte die Verhandlungen denn auch in ruhiges Fahrwasser, wobei er anerkannte, dass die Kraftwerksbetreiber in Form der unbefristeten Betriebsgenehmigungen ein dickes Pfund in den Händen hielten. Schadensersatzforderungen oder gar Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht sollten auf Weisung des Kanzlers unbedingt vermieden werden. Auch den EVU war klar, dass ihre Kernkraftwerke aus technischen Gründen einmal das Lebensende erreichen würden, sodass es letztlich nur um eine einvernehmliche Begrenzung der Restlaufzeit für die Anlagen gehen konnte.

Müllers anfängliche Strategie sah vor, jedem der 19 Kernkraftwerke eine eigene Jahreszahl als Laufzeitbegrenzung zuzuweisen. Keines der Kraftwerke sollte aber länger als 30 Jahre betrieben werden. Doch diese Vorstellung war nicht konsensfähig.  Die EVU wollten eine flexiblere Lösung auf der Basis einer maximal noch genehmigten Menge an Kilowattstunden. Diese Mengenrechnung hatte den Charme, dass sich dabei leichter eine (goldene) Brücke bauen ließ zwischen der unterschiedlichen Position der 30 Kalenderjahre - wie die Regierung es wollte - und den 35 Volllastjahren, welche die Energiewirtschaft sich wünschte. Die "Stellschraube" dafür war der durchschnittliche Auslastungsgrad der Kraftwerke, welcher üblicherweise zwischen 75 und 90 Prozent lag. Außerdem machte es die Mengenfestlegung für die Politik unattraktiv, die KKW-Betreiber zu schikanieren und Stillstände zu erzwingen, denn diese hätten das Betriebsende nur hinausgeschoben.

Als sich die Verhandlungspartner schon in der Endphase wähnten, rollte der RWE-Chef Dietmar Kuhnt doch noch einen Bremsklotz auf den Weg. Er wollte nicht 19, sondern 20 Kernkraftwerke einbeziehen, nämlich auch seinen Meiler Mülheim-Kärlich. Diesem war nach kurzer Betriebszeit die atomrechtliche Genehmigung entzogen worden, da den damaligen Mainzer Aufsichtsbehörden ein gravierender  Fehler bei der Erdbebenbewertung unterlaufen war. Schließlich löste man das neue Problem dadurch, dass ein Teil der Mühlheim-Kärlich zustehenden Strommengen auf andere KKW übertragen werden durften.

Der Ausstieg wird Gesetz

In der Nacht vom 14. auf den 15. Juni 2000 wurden sich die Bundesregierung und die Chefs der vier großen Energieversorgungsunternehmen (damals: EnBW, RWE, VEBA und VIAG) einig, sodass der Vertrag paraphiert werden konnte. Im Kern sollte die Nutzungszeit der 20 deutschen Kernkraftwerke individuell befristet und ein Verbot für den Neubau von KKW ausgesprochen werden. Die Deckungsvorsorge für schwere Reaktorunfälle wurde von 500 Millionen DM auf 2,5 Milliarden Euro angehoben, also verzehnfacht. Die Forschung auf dem Gebiet der Kernenergie durfte ohne Einschränkungen weiter geführt werden. Die EVU verpflichteten sich, vom Bund keine Entschädigung für die Stilllegung ihrer Kernkraftwerke zu verlangen. Am 14. Dezember 2001 beschloss der Bundestag in zweiter und dritter Lesung das "Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung".

In der zweiten rot-grünen Legislaturperiode (2002 - 2005) wurden bereits zwei kleinere Atomkraftwerke auf Dauer abgeschaltet: das Kernkraftwerk Stade (KKS) und das Kernkraftwerk Obrigheim (KWO) . Das KKS, im Eigentum von Eon und Vattenfall, besaß eine Leistung von 660 Megawatt und war 31 Jahre in Betrieb. Das KWO, mit 360 MW Leistung, wurde von EnBW bereits 36 Jahre betrieben. Dieser erste Atomausstieg vollzog sich damals noch ziemlich "gesittet", weshalb ich ihn als "moderat" bezeichnen möchte.