Freitag, 13. März 2015

Die Iden des März 2011

Iden wurden im römischen Kalender jene Festtage genannt, die in der Monatsmitte liegen. Seit der Ermordung Caesars am 15. März im Jahr 44 v. Chr. sind die Iden auch eine Metapher für bevorstehendes Unheil. "Cave Idus Martias" (deutsch: "Hüte dich vor den Iden des März") warnte schon der griechische Schriftsteller Plutarch seine Zeitgenossen.

Vor vier Jahren, um die Mitte des März 2011, ereigneten sich die Reaktorunfälle bei Fukushima, die eine neue Zeit in der Kernenergiewirtschaft einläuteten. In diesem Blog sollen die wesentlichen damaligen Geschehnisse in Japan - und parallel dazu in Deutschland - dargestellt werden, sowie der gegenwärtige Stand der Stromwirtschaft in beiden Ländern.

Die Reaktorunfälle in Fukushima

Am japanischen Standort Fukushima-Daiichi, rd. 250 km nördlich von Tokio gelegen, befinden sich vier Siedewasser-Kernkraftwerke des Energieversorgungsunternehmen TEPCO. Sie wurden in der 70er Jahren von der US-Firma General Electric (nach Plänen aus den 60er Jahren) gebaut. Die elektrische Leistung der vier Blöcke rangiert zwischen 500 und 800 Megawatt.

Am Freitag den 11. März, um 14 Uhr 46 Ortszeit, registrierten die Seismografen 150 km östlich vom Reaktorstandort ein heftiges Seebeben der Stärke 9,0 auf der logarithmischen Skala. Es lag damit um 0,8 Punkte über dem bisher stärksten registrierten Erdbeben in Japan. Die Reaktorblöcke 1 bis 3 schalteten daraufhin automatisch ab; Block 4 war wegen Revisionsarbeiten bereits außer Betrieb. Bemerkenswert ist, dass diese Abschaltung gelang, obwohl die Erdstöße heftiger waren, als die Auslegungswerte der Reaktoren dies vorsahen. Die Notstromdiesel starteten nach dem Netzausfall nach Plan und versorgten die vier Blöcke mit elektrischen Strom.

Eine knappe Stunde später, um 15 Uhr 41, erreichte die vom Seebeben ausgelöste Tsunamiwelle mit einer Höhe von 14 Metern die Standortküste bei Fukushima. Ein 5,7 Meter hoher Schutzwall wurde glattweg überspült. Die Wassermassen überfluteten allerdings auch die im Kellerbereich installierten Dieselgeneratoren, verursachten elektrische Kurzschlüsse und rissen die Treibstofftanks aus ihren Verankerungen. Die Notstromversorgung war damit dauerhaft unterbrochen.

Die Betriebsmannschaft begann sofort dem erlernten Unfallmanagement und kühlte die Reaktoren mit einen Hilfssystem, welches von noch verfügbaren Batterien gespeist wurde. Nach acht Stunden war die Kapazität des Batteriesatzes jedoch erschöpft und die Notkühlsysteme schalteten ab. Während dieser Zeit gelang es der Mutterfirma Tepco nicht, mobile Pumpen per Hubschrauber aus Tokio zum Standort zu fliegen. Entsprechende Hilfsangebote der in der Nähe stationierten amerikanischen Armee wurden (aus Gründen des Gesichtsverlusts?) von den Japanern abgelehnt.

Die Betriebsmannschaft wollte daraufhin die Reaktorblöcke von außen mit Meerwasser aus Feuerwehrschläuchen kühlen, um die befürchtete Kernschmelze zu verhindern. Diese Maßnahme wurde vom Hauptquartier der Tepco abgelehnt - bis es zu spät war. Die Restwärme des Reaktorkerns heizte die Brennelemente auf über 1.200 Grad Celsius auf, worauf es in den Zirkon-haltigen Brennstabhüllen zur Bildung von freiem Wasserstoff kam. Als der Druck in den Toruskammern und im inneren Containment weiter anstieg, sah sich die Betriebsmannschaft ( etwa 24 Stunden nach dem Erdbeben) gezwungen, die Druckventile zu öffnen.  Nun strömten Dampf, Wasserstoff und Spaltprodukte in den oberen Gebäudebereich, wo durch Knallgasexplosionen die äußere Gebäudehülle zerstört wurde. Handelsüblich erhältliche Wasserstoffrekombinatoren hätten diese Explosionen verhindern können, aber damit waren diese Kraftwerke - im Gegensatz zu allen deutschen - nicht ausgestattet.

Durch die radioaktiven Spaltprodukte und das Fehlen entsprechender Aerosolfilter wurden etwa hundert Quadratkilometer Landfläche radioaktiv kontaminiert. Die Behörden veranlassten die Evakuierung von ca. 200.000 Personen in einem Umkreis von ca. 20 Kilometern. Auf dem Reaktorgelände kam niemand durch Strahlenwirkung ums Leben. Vier Betriebsleute wurden allerdings getötet; davon ertranken zwei in den Wellen des Tsunami, zwei weitere verunglückten tödlich durch herabfallende schwere Gegenstände. Außerhalb des Reaktorbereichs kamen durch den Tsunami allerdings ca. 20.000 Menschen ums Leben.

Nach intensiver Kühlung mit Meerwasser aus Feuerwehrschläuchen und Hochdruckpumpen fiel einige Monate später die Reaktortemperatur in den meisten Blöcken unter 100 Grad Celsius. Simulationsrechnungen und Messungen haben ergeben, dass ein Teil der Reaktorkerne geschmolzen ist und die Debris auf dem Betonboden des Sicherheitsbehälters liegt. Aus einer offiziellen Verlautbarung der japanischen Regierung vom Januar 2015 ist zu entnehmen, dass es bei drei Blöcken zum Kernschmelzen kam und ebenfalls bei dreien zu einer Wasserstoffexplosion. Dies ist in der nachstehenden Grafik veranschaulich. Die Zahlen darin beziehen sich auf die Anzahl der bestrahlten Brennelemente in den oben angeordneten Lägern. Alle 1533 Brennelemente in dem strukturell gefährdeten Lager des Blocks 4 sind entladen; die übrigen befinden sich noch in den intakten Lägern. Zur Bergung der Brennelemente in Block 4 war der Bau eines Krangebäudes in unmittelbarer Nähe erforderlich.


Abb. 1:  Der Status bei den vier Reaktorblöcken am Standort Fukushima-Daichii
(zum Vergrössern anklicken)

Atomaustieg und Energiewende in Deutschland

Die Ereignisse in Fukushima waren ein Schock für die Welt, aber insbesondere für die deutsche Bevölkerung. Fernsehen und Zeitungen berichteten viele Wochen lang über kaum etwas anderes als das befürchtete Kernschmelzen bei den japanischen Atomreaktoren. Auch die Bundeskanzlerin Angela Merkel bekundete bei der Lagebesprechung im Kanzleramt gegenüber ihren Mitarbeitern, dass sich ihre Einstellung zum "Restrisiko der Kernkraft" geändert habe. Am vierten Tag nach der Katastrophe - am 15. März, den Iden des März 2011- rief sie die fünf Ministerpräsidenten aus den Ländern mit Kernkraftwerken zu sich ins Kanzleramt. Ihr Plan: die ältesten deutschen Kernkraftwerke sollten sofort für zunächst drei Monate abgeschaltet werden.

Juristisch konnte dieses "Moratorium" nur per Gesetz oder über Verhandlungen mit den Kraftwerkseigentümern durchgesetzt werden. Beides hätte zu lange gedauert, deshalb wählte der damals verantwortliche Bundesumweltminister Norbert Röttgen den Erlass einer "Anordnung" nach § 19 Atomgesetz. Bei Vorliegen eines Gefahrenverdachts, heißt es dort, könne eine sofortige Stilllegung angeordnet werden. Allerdings wäre diese Maßnahme gut zu begründen gewesen. Dies gelang den Fachreferenten des in den Ministerien von Bund und Land jedoch nicht, deshalb erließ man eine Stilllegungsverfügung ohne Begründung , was später Schadensersatzklagen in dreistelliger Millionenhöhe nach sich zog.

Die Bundeskanzlerin sah sich in der Pflicht schnell zu handeln, denn schon in zwei Wochen standen Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz an. Beide Wahlen gingen aber dennoch für die CDU verloren. Besonders schmerzlich war dies in Baden-Württemberg, wo die Grünen (noch vor der SPD) stärkste Partei wurden und mit dem charismatischen Winfried Kretschmann sogar den Ministerpräsidenten stellen durften. Deshalb sah sich Merkel gezwungen in Sachen Atomausstieg nachzulegen: die ältesten acht Reaktoren sollten auf Dauer abgeschaltet bleiben und die restlichen neun wollte man sukzessive innerhalb von zehn Jahren ebenfalls stilllegen.

Trotzdem beauftragte Röttgen die Reaktorsicherheitskommission (RSK) mit der technischen Überprüfung aller 17 deutschen Kernkraftwerke. Die RSK sollte die Unfallsituation im japanischen Fukushima zugrunde legen und analysieren, was im gleichen Fall an den Atomkraftwerken hierzulande passiert wäre. Nach zwei Monaten lag der 115-seitige Bericht der RSK vor, an dem mehr als hundert ausgewiesene Experten mitgearbeitet hatten. Die Aussage der Fachleute war eindeutig: ein ähnlicher Unfall wie in Fukushima hätte an deutschen Kernkraftwerken nicht passieren können. Einfach deshalb, weil die geologischen Verhältnisse in Deutschland dies nicht zugelassen hätten und weil die deutschen Kernkraftwerke gegen Notsituationen besser ausgelegt sind, als die japanischen. Stichworte: höher liegende Notdiesel, Wasserstoffrekombinatoren etc.

Enttäuscht vom RSK-Bericht, setzte Bundesumweltminister Norbert Röttgen daraufhin eine "Ethikkommission " zur Bewertung des kerntechnischen Risikos ein. Ein 17-köpfiger Kreis an Persönlichkeiten, vorwiegend bestehend aus Politologen, Soziologen und Philosophen - aber ohne Kernenergieexperten - beriet sich einige Wochen, wobei das Kommissionsmitglied Kardinal Marx bereits im Vorfeld die Kernkraft als "Teufelszeug" abkanzelte. Das Ergebnis der mehrwöchigen Beratungen war nicht verwunderlich: Die Ethikkommission ist der festen Überzeugung, dass der Ausstieg aus der Kernenergie innerhalb eines Jahrzehnts abgeschlossen werden kann.

Am 30. Juni 2011 war es so weit: der Deutsche Bundestag beschloss den Ausstieg aus der Kernenergie mit großer Mehrheit. Nur fünf Abgeordnete aus der CDU/CSU-Fraktion waren dagegen, darunter der Sachse Arnold Vaatz. Der frühere Wirtschaftsminister Michael Glos nahm an der Abstimmung nicht teil, weil, wie er sagte "ihm die Zustimmung nicht möglich gewesen wäre". Beim atomaren Endlager wurde de facto beschlossen, Gorleben aufzugeben und mit der Suche von vorne zu beginnen. Auch der "beschleunigte Ausbau der Stromtrassen" wurde beschlossen, was sich später, angesichts der Widerstände, als übereilt herausstellen sollte. Das internationale Echo auf den deutschen Atomausstieg und die Energiewende war zumeist kritisch. In Frankreich war man sehr verärgert über den deutschen Alleingang. Die Schweden bescheinigten der Bundesrepublik eine sprunghafte Energiepolitik. Begrüßt wurde der Ausstieg in Österreich, einem Land, welches selbst jedoch keine Atomkraftwerke besitzt - aber über viel Wasserkraft verfügt.

Die technischen und energiewirtschaftlichen Konsequenzen in Japan

Die Strahlenbelastung der japanischen Bevölkerung lag im ersten und schlimmsten Jahr bei höchstens 10 Millisievert (mSv). Das ist etwa das Vierfache der natürlichen Hintergrundbestrahlung in Deutschland. Gesundheitliche Folgen sind bei diesen geringen Werten nicht zu erwarten. Das geht auch aus einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation WHO und deren Untergruppe UNSCEAR hervor, an dem 18o Wissenschaftler aus 27 Ländern mitgearbeitet haben. Im Vergleich zu Fukushima war der Reaktorunfall in Tschernobyl weitaus gravierender und folgenreicher. In Tschernobyl wurden etwa 10 mal mehr radioaktive Stoffe freigesetzt.

Das größte Problem in Fukushima sind derzeit die radioaktiven Abwässer. Das außen aufgespritzte Kühlwasser für die Reaktorblöcke 1 - 3 (ca. 400 Kubikmeter pro Tag) muss immer wieder aufgefangen werden, da es die strahlenden Nuklide Caesium und Strontium enthält. Weitere tausend Kubikmeter fließen täglich - insbesondere in der regenreichen Sommerzeit - von den Hügeln als Grundwasser in die Reaktoranlagen und werden dort ebenfalls radioaktiv verschmutzt. Bislang wird das radioaktive Abwasser in Tanks gesammelt; parallel dazu werden Dekontaminationsanlagen zu deren Reinigung gebaut.

Damit das Grundwasser nicht mehr an die Reaktorkerne herankommt, plant man den Erdboden rings um die vier beschädigten Reaktoren künstlich zu vereisen. Dafür sollen Kühlstäbe (ähnlich wie bei Eisschränken) in den Grund versenkt werden, wodurch quasi eine künstliche Permafrost-Wand entsteht, welche das Grundwasser fern hält.

Die japanische Nuklearpolitik hat sich in den vergangenen vier Jahren mehrfach geändert. Naoto Kan, der während der Unfälle in Fukushima Premierminister des Landes war, verfügte die Abschaltung aller 54 Kernkraftwerke und kündigte an, dass Japan bis zum Jahr 2040 aus der Kernenergie aussteigen werde. Bei diesem Vorhaben wurde er von den mächtigen Präfektur-Regierungen unterstützt. Ende 2011 kam Yoshihiko Noda als neuer Premierminister ans Ruder. Er bekräftigte den mittelfristigen Atomausstieg, musste aber bereits im Juni 2012 die beiden Blöcke Oi wieder in Betrieb nehmen, da eine regionale Stromknappheit drohte.

Im Dezember 2012 kam es wiederum zu Unterhauswahlen in Japan und der Anführer der Liberaldemokratischen Partei (LDP), Shinzo Abe, wurde zehn Tage darauf zum Premierminister gewählt. Bereits an seinem ersten Arbeitstag gab Abe bekannt, dass er alle Kernkraftwerke wieder in Betrieb nehmen werde, sofern sie der technischen Überprüfung standhalten. Er wies u. a. auf die horrenden Kosten der teuren Öl-, Gas- und Kohleimporte hin, die ein riesiges Loch in der japanischen Handelsbilanz schlagen würden. So schloss diese Bilanz allein im Jahr 2013 mit einem Defizit von 10 Billionen Yen, umgerechnet etwa 100 Milliarden Euro. Als erstes werden wohl die beiden Kernkraftwerke Senda an der Südspitze Japans in Betrieb genommen, die im September 2014 alle Tests bestanden haben. Einen gerafften Überblick zur Geografie der japanischen Nuklearkapazitäten vermittelt die nachstehende Abbildung 2.



Abb.2: Überblick der japanischen Kernkraftwerke und der Stand ihrer Wiederinbetriebnahme    (Anträge rot umrandet)

Die energiewirtschaftlichen Konsequenzen in Deutschland

Die spontane Abschaltung von sieben Kernkraftwerken riss eine große Lücke in die Grundlastversorgung mit Strom. Die wachsende Instabilität der Stromnetze ist besorgniserregend. Wegen des stark fluktuierenden Stroms aus Wind- und Solaranlagen ist die Frequenz- und Spannungshaltung sehr aufwendig geworden. Ungewollte Stromabschaltungen, Blackouts und Brownouts, werden in der Zukunft immer wahrscheinlicher.

Das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) ist misslungen. Seine grundsätzliche Schwäche liegt darin, dass es bestimmte Techniken, wie Windräder und Photovoltaik, vorgibt, anstatt die Stromeinsparziele zu definieren und die Wahl der dafür erforderlichen Techniken dem Wettbewerb zu überlassen. Außerdem wurde der Ausbau der Erneuerbaren Energien exzessiv vorangetrieben - ohne sich im gleichen Umfang um die Stromtrassen und Speicher zu kümmern.

Es gibt keine Branche in der deutschen Industrielandschaft, die vom Atomausstieg und der Energiewende stärker betroffen wären als die vier Energieversorgungsunternehmen REW, E.ON, EnBW und Vattenfall. RWE fuhr im Geschäftsjahr 2013 einen Verlust in der historischen Höhe von 2,8 Milliarden ein. E.ON musste viele Großkraftwerke abschalten und die Mitarbeiter um rd. 10.000 Mann reduzieren. EnBW konnte die Liquidität nur über eine Anleihe mit Landesbürgschaft sichern. Vattenfall beendete das Jahr 2013 mit einem Verlust von 1,5 Milliarden Euro und denkt daran, sich nach Schweden zurückzuziehen.

Für 2016 hat E.ON die Abspaltung des bisherigen Kerngeschäfts mit Atom-, Kohle- und Gaskraftwerken in eine neue Gesellschaft angekündigt, die an die Börse gehen soll. Der "grüne Rest" soll sich künftig den Geschäften mit erneuerbaren Energien, Stromnetzen und Dienstleistungen widmen. Ob dies den Konzern tragen wird? Zweifel bestehen bei allen EVU über den Rückbau der Kernkraftwerke. Dafür wurden zwar Rückstellungen gemacht, aber niemand kann garantieren, ob diese ausreichen werden. Stiftungsmodelle, analog RAG, bei denen die finanzielle Verantwortung letztlich beim Staat liegt, gehen immer wieder durch die Presse.

Fazit: Durch den übereilten Atomausstieg und die hektische Energiewende hat Deutschland seine bislang gut funktionierende Stromwirtschaft aufgegeben. Das neue Konzept führt zu höheren Strompreisen, instabilen Netzen und einem vermehrten Ausstoß von Kohlendioxid. Die Kosten der Energiewende steigen exorbitant an und werden nach Aussagen von Politikern (Altmaier) und Energiewirtschaftlern die Billionengrenze überschreiten.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Impressum

Angaben gemäß § 5 TMG:

Dr. Willy Marth
Im Eichbäumle 19
76139 Karlsruhe

Telefon: +49 (0) 721 683234

E-Mail: willy.marth -at- t-online.de