Donnerstag, 5. Februar 2015

Helikopter-Eltern jetzt und einst

Die deutsche Sprache ist reich an Wörtern und jeden Tag gebärt sie weitere. Relativ neu ist das Wort "Helikoptereltern". Es charakterisiert die in Mode gekommene extreme Überbehütung der Schulkinder durch die Eltern. Wie Hubschrauber kreisen sie besorgt über ihren Nachwuchs. Pädagogen wie der Präsident des deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, differenzieren sogar in Transport-, Rettungs- und Kampfhubschrauber. Zur ersten Kategorie zählen die "Mami-Taxis", welche die Kinder im Auto bis vor das Schulgebäude fahren; die Rettungshubschrauber bringen die vergessenen Sportbeutel und die Kampfhubschrauber beschweren sich ständig über Noten, Lehrpläne und Disziplinärmaßnahmen.

Moderne Gluckeneltern

Auf meinen Autofahrten von der Waldstadt zur Karlsruher Innenstadt komme ich an einer Waldorfschule und einem Gymnasium vorbei. Dabei erlebe ich direkt, wie viele Eltern ihre Zöglinge im Auto zum Schuleingang bringen und dort zumeist verkehrsbehindernd parken, weil sie eigenhändig den Ranzen bis ins Klassenzimmer tragen, ja sogar dabei helfen, dem Sohn oder der Tochter die Hausschuhe anzuziehen. Es soll bereits Schulen geben, die "no-go-areas" eingerichtet haben, vor denen sich die Eltern  (per Kuss) von ihren Kindern verabschieden müssen.

Nach Schätzung von Psychologen tendieren ca. 20 Prozent der Eltern zu solcher Überbehütung. Sie wollen instinktiv ihr "Wertvollstes" nicht aus der Hand geben und den Lehrern überantworten. Und das in einer Zeit, in der junge Leute nicht selten Urlaub in den Backlands von Australien machen oder mit der sibirischen Eisenbahn bis nach Wladiwostok trampen. Der dänische Psychologe Bent Hougaard prägte für die überbesorgten Eltern den Begriff "Curling-Eltern". Wie beim Wischen im Curling würden die Eltern jegliches Hindernis und alle denkbaren Reibungsflächen  aus dem Weg des Kindes schaffen, so dass es nicht mehr lernt, Widerstände selbst zu überwinden. Andere Therapeuten sehen als Hintergrund der Überbehütung sogar den Narzissmus der Eltern. Sie wollen glückliche und erfolgreiche Kinder haben, um sich selbst als kompetent erleben zu können.

Als einstiger Fahrschüler

Das Gymnasium, in welches ich in den letzten Monaten des 2. Weltkriegs eingeschult wurde, war in der sieben Kilometer entfernten Kreisstadt Marktredwitz im bayerischen Fichtelgebirge gelegen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mich mein Vater jemals dorthin gefahren hätte. Er besaß zwar zu allen Zeiten ein Auto, aber als vielbeschäftigter Geschäftsmann (Mühle, Sägewerk, Bäckerei, Landwirtschaft) hatte er dafür einfach keine Zeit. So verließ ich - auch als 10-jähriger Steppke bei winterlicher Dunkelheit - regelmäßig um 7 Uhr früh unser Haus, trabte mit vollgepacktem Schulranzen durch das hügelige Dorf und kam nach 15-minütigem Fußmarsch zumeist pünktlich am Seußener Bahnhof an. Manchmal, wenn es knapp wurde, musste ich allerdings die damals noch übliche Bahnsteigabsperrung (auch Perron genannt) durch eine schnelle Flanke überwinden, was mir aber als geübten Turner relativ leicht fiel.

Bahnfahren machte meinen Freunden und mir großen Spaß. Nicht selten wetteten wir darauf, welcher Lokomotiventyp heute den Zug ziehen würde, indem wir ihr Schnaufgeräusch aus der Ferne beurteilten. Es gab damals, in der Nachkriegszeit, ein Sammelsurium an alten Dampfloks und jeden Tag war eine andere vorgespannt. Die Experten unter uns errieten sogar die Stammnummer und konnten am Geräusch eine mickrige 28er Personenzuglok von einer 59er Güterzuglok und einer feschen 01er Schnellzuglok unterscheiden, von der wir uns besonders gerne kutschieren ließen.

Auch die Lokführer und ihre Heizergesellen kannten wir mit der Zeit. Einer der Heizer schien seinen Darm so trainiert zu haben, dass er immer auf dem Seußener Bahnhof die Toilette aufsuchen musste. Einmal hatte der Zug Verspätung und der Bahnhofsvorstand verkürzte, aus Pünktlichkeitswahn oder aus purer Bosheit, den Aufenthalt so, dass der Heizer, zum allgemeinen Hallo, vor dem Häuschen unerledigterweise wieder umkehren und zu seiner Lok zurückeilen musste. In Marktredwitz ging ich zu ihm vor und fragte ihn, wie er mit der Situation zurecht gekommen sei. Er grinste nur, deutete auf die riesige Kohlenschaufel, machte eine Bewegung zum Feuerloch hin und begründete damit ungewollt, weshalb die deutsche Eisenbahnverwaltung sich so lange die Toiletten auf den Lokomotiven sparen konnte.

Im Zug war erst mal Abschreiben angesagt. Etwa die Hälfte der Fahrschüler hatten ihre Hausaufgaben erledigt, die andere Hälfte schrieb ab. (Ich betätigte mich gelegentlich als "Donator" für Mathe und Latein). Die Waggons für die Fahrgäste waren ähnlich heterogen wie die Loks, aber sie glichen sich in einigen Merkmalen: alle hatten nur harte Holzbänke, sie waren nicht beheizt und es brannten keine Lampen. Wir Schüler fuhren besonders gerne in den leeren vorderen oder hinteren Wägen. Sobald wir die Schaffnerin kommen hörten  verhielten wir uns mucksmäuschenstill, kletterten in die Gepäcknetze und einer von uns zupfte ihr (von oben) das Käppi vom Lockenkopf. Die Reaktion war immer die Gleiche. Nach einem erschreckten "uih" verfiel sie in eine wenig damenhafte Schimpfkanonade und versuchte uns dabei im Schein ihrer Taschenlampe zu orten. Für uns war das der Anlass, zwischen den Gepäcknetzen wie wild herumzuturnen und - ähnlich den Affen im Zoo - einen Höllenlärm zu veranstalten. Gelegentlich fiel einer von uns zu Boden und wurde dann, stellvertretend für alle, von der Schaffnerin durchgewalkt. Die Frauen konnten zu jener Zeit ihre Männer, die im Krieg oder in der Gefangenschaft waren, in jeder Beziehung gut vertreten.

Nach 20 Minuten Bahnfahrt kamen wir in Marktredwitz an und nach weiteren 10 Minuten Fußmarsch waren wir bei unserem Schulhaus. Es war ein Jahr als Notunterkunft für unzählige Flüchtlingsfamilien zweckententfremdet worden und sah entsprechend aus. Immer wieder fiel der Strom aus und mangels Brennmaterial war das Gebäude im Winter eisig kalt. Weil zu wenig Klassenzimmer vorhanden waren, mussten wir dauernd von einem Raum zum anderen "wandern". Unser Jahrgang umfasste anfangs 69 Schüler und wurde ganz praktisch in 38 "Einheimische" (A-Klasse) und in 31 "Auswärtige" (B-Klasse) aufgeteilt. Selbstredend gab es auch fast keine Schulbücher. Alles musste auf Schiefertafel, Zettel oder (schwer zu beschaffende) Hefte aufgeschrieben werden.  Die Deutschaufsätze in den höheren Klassen waren durchaus anspruchsvoll. Ich erinnere mich an zwei Themen:  "Gesetze, Zeiten und Völker überleben mit ihren Werken; nur die Sternbilder der Kunst schimmern in alter Unvergänglichkeit über den Kirchhöfen der Zeit" (Jean Paul) und an: "Handle so, dass die Maxime deines Wollens als Grundlage einer Gesetzgebung gelten kann" (Kant´scher Imperativ).

Im Jahr 1952 machten wir unser Abitur. Aus anfangs 69 Sextanern waren 23 Primaner übrig geblieben. Bei der daraufhin in der Aula veranstalteten Abiturfeier betraten meine Eltern zum ersten Mal das Gebäude des  Marktredwitzer Gymnasiums. Waren sie deshalb Helikopter-Eltern?




Beim Abiturball im Herbst 1952
(Blogautor, Klassenjüngster, untere Reihe links)

1 Kommentar:

  1. interessant ist nun wie es denn um die Curling bestellt ist. Haben diese Kinder ein "besseres" Fortkommen oder bewegen diese sich im Durchschnitt der Nicht-Curling Kinder ?

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