Sonntag, 23. Februar 2014

Hiroshima, mon amour (3)

Katastrophale Ereignisse in der Geschichte der Menschheit sind auch der Stoff, aus denen Kunstwerke entstehen. Die beiden Atombombenabwürfe über Japan zählen dazu. Über die Oper "Doctor Atomic" ist bereits berichtet worden. Ein filmisches Kunstwerk zur atomaren Auslöschung der Stadt Hiroshima entstand bereits 1959, nämlich das Filmdrama "Hiroshima, mon amour",  von Alain Resnais, das 1960 in Cannes mit der Goldenen Palme geehrt wurde. Es ist ein Film über die Liebe einer Französin (dargestellt von Emmanuelle Riva) zu einem Japaner, die sich vor dem Hintergrund der Zerstörung Hiroshimas abspielt. Der Regisseur Resnais wollte ursprünglich eigentlich einen Dokumentarfilm zu diesem Thema drehen, kam aber im Laufe dieser Arbeit zu der Überzeugung, dass eine Fiktion die emotionale Dramatik der Ereignisse viel genauer überbringt.

Einsatzbefehl und Ultimatum

Die Atombombe, welche am 6 August 1945 über Hiroshima abgeworfen wurde, war erst am 31. Juli fertiggestellt. General Dwight D. Eisenhower, der Befehlshaber der Truppen in Europa und Deutschland, warnte vor ihrem Abwurf. General George Marshall, der für den Krieg in Asien zuständig war, befürwortete hingegen ihren Einsatz. Er hatte die hohen amerikanischen Verluste in Okinawa vor Augen (mit 12.500 Gefallenen) und befürchtete mehr als 100.000 weitere Tote bei Kämpfen um das japanische Mutterland. Präsident Harry S. Truman stimmte ihm zu und glaubte sich  wohl auch vor dem Kongress rechtfertigen zu müssen, wenn er eine kriegsentscheidende Waffe nicht einsetzte, deren Entwicklung zwei Milliarden Dollar verschlungen hatte. Am 25. Juli erteilte Truman deshalb seinen Generälen den Auftrag, die Bombe am 3. August abzuwerfen. Als Ziele waren genannt: Hiroshima, Kokura, Niigata - in dieser Reihenfolge. Nagasaki war in der letzten vollen Woche noch nicht in dieser Liste; Kyoto war schon vorher von Kriegsminister Stimson gestrichen worden.

Eine offizielle Warnung erging an Japan in der Abschlusserklärung der Potsdamer Konferenz am 27. Juli. Ohne die Superbombe explizit zu erwähnen, hiess es in dieser Deklaration: Die volle Anwendung unserer militärischen Macht, gepaart mit unserer Entschlossenheit, bedeutet die unausweichliche und vollständige Vernichtung der japanischen Streitmächte und ebenso unausweichlich die Verwüstung des japanischen Heimatlandes.  Dazu wurden Flugblätter über 35 japanische Städte abgeworfen, darunter Hiroshima und Nagasaki, worin die Bevölkerung aufgefordert wurde, diese Städte zu verlassen.

Die japanische Regierung, welche das Ultimatum per Funk aufgefangen hatte, brütete einen vollen Tag über die amerikanischen Forderungen. Premierminister Suzuki und Aussenminister Togo lehnten zwar die bedingungslose Kapitulation ab, waren aber geneigt, über die Sowjets (die mit Japan noch im Frieden waren) mit den Amerikanern Kontakt aufzunehmen. Ihre Militärführer hingegen waren ganz anderer Meinung. Sie traten für eine sofortige Ablehnung ein. Alles andere hätte, nach Meinung der Generäle und Offiziere, der Kampfmoral der Truppe schaden können. Am nächste Tag veröffentlichten die Tokyoter Zeitungen eine zensierte Fassung der Potsdamer Erklärung, aus der hervorging, dass man die japanischen Forderungen nicht annehmen werde.

Der Abwurf

Mittlerweile hatten die amerikanischen Luftwaffengeneräle den 30-jährigen Oberst Paul Warfield Tibbets Jr., einen erfahrenen Bomberpiloten, dafür ausgewählt, die Atombombe von einem B-29-Bomber aus abzuwerfen. Er hatte schon viele Einsätze über Japan geflogen und kannte die Inseln vom Luftbild aus recht genau. Zusammen mit weiteren Begleitflugzeugen dieser Art warf er anfangs August eine Reihe von Übungsbomben des gleichen Gewichts über dem Pazifik ab und übte das anschliessende Wendemanöver. Auf die Aussenseite seines Bombers liess er den Schriftzug Enola Gay  aufmalen, den Namen seiner Mutter, weil sie ihm einst versichert hatte, dass er beim Fliegen nicht umkommen würde. Erst am 4. August wurden ihm - streng geheim - die Ziele mitgeteilt: Hiroshima oder Kokura oder Nagasaki. Niigata hatte man wegen des schlechten Wetters kurz vorher aussortiert; dafür war Nagasaki aufgenommen worden. Er sollte die Uranbombe mit dem Codenamen Little Boy abwerfen.



Ein grössengleiches Modell von "Little Boy"

Am 6. August 1945 war das Wetter endlich gut genug für das Unternehmen. Die Enola Gay wog 59 Tonnen, hatte 26 Tonnen Treibstoff an Bord sowie die 3,5 Tonnen schwere Bombe. Unter Ausnutzung der 3 Kilometer langen Rollbahn gelang es Tibbets, trotz Übergewicht, das Flugzeug um 2 Uhr 45 zu starten und in die Luft zu bringen. Von der Pazifikinsel Tinian aus flog er Hiroshima an, wo das Wetter gemäss Prognose zufriedenstellend sein sollte. Er flog in niedriger Höhe um den beiden Atombombenschärfer ein angenehmes Arbeitsklima zu schaffen. Diese mussten sich in den engen Bombenschacht zwängen und mit Schraubenschlüssel und Verschlussbolzen die interne Pulverladung positionieren. Die Zündung erfolgte nach dem Abwurf automatisch, indem die Pulverladung ein Teil aus Uran-235 in ein zweites Uranteil schoss. Dabei entstand eine sogenannte überkritische Ladung, welche die gigantische Explosion auslöste.



Der "Innenleben" der Atombombe (schematisch)

Über eine Stunde vor dem Abwurf, um 7 Uhr Ortszeit, entdeckte das japanische Radarsystem die Schatten der Enola Gay  und ihrer zwei Begleitflugzeuge. In Hiroshima wurde daraufhin die Radioübertragung unterbrochen und die Bevölkerung aufgefordert in die Luftschutzkeller zu gehen. Als die Radarmannschaft jedoch erkannte, dass es sich um nicht mehr als drei Flugzeuge handelte, hob man diesen Alarm wieder auf. Weil die Formation so klein war, nahmen die Japaner an, dass es lediglich Aufklärungsmaschinen waren. Die japanische Luftwaffe verzichtete - wegen Treibstoffmangels - auch darauf, solch kleine Verbände abzufangen. Um 8 Uhr 15 klinkte die Besatzung der Enola Gay die Bombe in 9.450 Metern Höhe aus und flog daraufhin ein steiles Wendemanöver, um nicht von der Detonationswelle erfasst zu werden.

Die Atombombe explodierte in 600 Metern Höhe über dem Shima-Krankenhaus, 160 Meter von der Aioi-Brücke entfernt, die Tibbets anvisiert hatte. Sie hatte eine Sprengkraft von 11.350 Tonnen TNT. es entstand ein Feuerball mit einer Innentemperatur von über einer Million Grad Celsius. Die Hitzewirkung von über 6.000 Grad liess noch in über zehn Kilometern Entfernung Bäume in Flammen aufgehen. Von den 76.000 Häusern der Grosstadt wurden 70.000 zerstört oder schwer beschädigt. Rund 80.000 Menschen waren sofort tot. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge starben an den Spätfolgen weitere 90.000 bis 160.000. Zu den in Tokyo erwähnten Opfern zählt auch der koreanische Prinz Ri Gu, der Offizier der japanischen Armee war. Er soll, auf einem Schimmel sitzend in der Nähe der Aioi-Brücke durch die Hitze vollständig verdampft sein - mitsamt seinem Pferd.

Der Bomberpilot Paul Tibetts wurde kurz nach seinem Einsatz zum Brigadegeneral befördert und zeigte zeitlebens keine Skrupel. Als er im November 2007, 92-jährig, starb, verfügte er, dass es für ihn keine Trauerfeier und keinen Grabstein geben solle. Um Demonstrationen zu verhindern und keine Pilgerstätte für mögliche Gegner des Atombombenabwurfs zu schaffen, wollte er verbrannt werden. Seine Asche streuten befreundete Bomberpiloten über dem Ärmelkanal aus.

Sonntag, 9. Februar 2014

Kyoto im Visier (2)

Als Trinity - die Versuchsexplosion der Plutoniumbombe - "geglückt" war, gab der amerikanische Präsident die Anweisung, diese Waffe gegen Japan einzusetzen. Im Forschungszentrum Los Alamos (New Mexico) lagerten damals nur zwei Atombomben: eine Bombe auf der Basis von Uran, die wegen ihrer schlanken Form Little Boy genannt wurde und eine auf der Basis von Plutonium, welche wesentlich umfänglicher war und deshalb den Namen Fat Man erhalten hatte. Dies war das Ergebnis der knapp vierjährigen Entwicklungsarbeiten am Projekt Manhattan . Weitere Bomben waren zwar in der Produktion, ihre Fertigstellung war aber erst Ende des Jahres 1945 zu erwarten.


Robert Oppenheimer und Leslie Groves begutachten die Überreste des Trinity-Testes.

Aufstand der Wissenschaftler

Im Frühjahr 1945 kam es zu einer Revolte einiger Wissenschaftler, welche den Einsatz dieser schrecklichen Bombe für überflüssig hielten, weil Deutschland unmittelbar vor der Kapitulation stand und der Krieg gegen Japan auch praktisch schon gewonnen war. An der Spitze dieser Bewegung stand der deutsch-ungarische Physiker Leo Szilard, der sich mit Albert Einstein zusammenschloss, um beim Präsidenten Franklin  D. Roosevelt gegen den Abwurf der Bomben zu intervenieren. Sein Vorstoss hätte die Weltgeschichte verändern können - aber kurz bevor er einen Termin bei Roosevelt erhielt, war dieser am 12. April 1945 verstorben. Sein Nachfolger Harry S. Truman wischte Szilards Bedenken beiseite und befahl den Einsatz beider Bomben. Immerhin hielt Japan damals noch weite Teile Asiens und Chinas (Nanking) besetzt und nach den verlustreichen Kämpfen um die Insel Okinawa befürchtete Truman zumindest ähnlich harten Widerstand beim Kampf gegen das japanische Mutterland. Der Kongress hätte in diesem Fall wohl gefragt, warum man wirkungsvolle Bomben für zwei Milliarden entwickelt habe, ohne sie einzusetzen.

Es bleibt allerdings fraglich, ob des dem Gespann Szilard/Einstein gelungen wäre, Roosevelt von ihren guten Absichten zu überzeugen. Einstein galt nämlich bei den amerikanischen Militärs als "politisch unzuverlässig", obwohl sein Brief an den Präsidenten Roosevelt im Jahr 1939 - worin er befürchtete, dass die Deutschen an der Atombombe arbeiten würden - das Projekt Manhattan in den USA ausgelöst hatte. Einstein galt bei den Hardlinern als Pazifist und Zionist und wurde deshalb,  einige kleinere Berechnungen für die Marine ausgenommen, von allen atomaren Forschungsarbeiten ferngehalten.

Die Auswahl der Bombenziele

Eine Zielkommission (Target Committee) mit Robert Oppenheimer und General Leslie Groves sollte die technischen Abwurfbedingungen identifizieren und Vorschläge für die Bombenziele ausarbeiten. Bei einer Bombe, die zu hoch zündet, würde ihre Sprengkraft in den oberen Luftschichten verpuffen; detoniert sie jedoch zu tief, dann würde sie einen tiefen Krater in den Boden reissen und damit viel von ihrer Wirkung verlieren. Die Empfehlung lautete schliesslich: der Zünder sollte auf 500 Meter über dem Boden eingestellt werden, das Trägerflugzeug sollte die Bombe in 9.550 Metern Höhe auslösen und anschliessend in einen Steilflug übergehen, um der Druckwelle und dem radioaktiven Fallout zu entkommen.

Ein grosses Problem waren die zu erwartenden Wetterbedingungen. Japan ist während der Sommermonate zumeist von Wolken bedeckt, sodass die Städte aus 10 Kilometer Höhe visuell kaum auszumachen sind. Die Radartechnik konnte dabei zwar unterstützen, sie war aber zu jener Zeit erst unzulänglich entwickelt. Einen Heimflug mit der nicht abgeworfenen (aber schon scharf gemachten) Bombe und die Landung auf einer kleinen Pazifikinsel hielten die Militärs aber für sehr risikoreich. Den Piloten sollten deshalb mehrere Ziele mitgegeben werden, sodass sie - je nach Wetterlage - selbst und ad hoc über den Abwurf entscheiden konnten. Leo Szilard und seine grummelnde Wissenschaftlergruppe wurde dadurch zufriedengestellt, dass die Politiker zusicherten, der japanischen Regierung vor dem ersten Abwurf eine "Warnung" zukommen zu lassen.

Bleibt noch die Auswahl der Bombenziele. Das war nicht leicht, denn die meisten grossen japanischen Städte waren - ähnlich wie in Deutschland - durch vorangehende Abwürfe von "konventionellen Bomben" bereits in Schutt und Asche gelegt worden. Dies traf besonders auf Tokyo zu, wo - ausserhalb des Kaiserpalastes - praktisch alles zerstört war. Die Militärs diskutierten zwar auch dessen Auslöschung, aber die Politiker intervenierten mit dem Hinweis, dass man den Kaiser Tenno noch für die Friedensverhandlungen brauche. Schliesslich einigte sich die Zielkommission auf folgende Long List der in Frage kommenden Bombenziele: Kyoto, Yokohama, Hiroshima, Nagoya, Osaka, Yawata und Kokura. Diese wurde dem Kriegsminister Henry L. Stimson vorgelegt.

Zur Überraschung seiner Generäle strich Stimson aber die als Nummer 1 gesetzte Stadt Kyoto. Er hatte vor dem Krieg einmal diese Stadt besucht, war fasziniert von der Vielzahl an herrlichen Tempeln und wusste so um die Bedeutung Kyotos als kulturelles Zentrum Japans. Statt Kyoto kam nunmehr Nagasaki auf die Liste. Nach vielen weiteren Diskussionen entstand eine Short List für die Ziele der beiden Atombomben: die Uranbombe sollte über Hiroshima abgeworfen werden, die Plutoniumbombe über Kokura beziehungsweise alternativ über Nagasaki.




Flugrouten zu den drei Atombombenzielen

Sonntag, 2. Februar 2014

Eine Oper für die Atombombe (1)

Am Badischen Staatstheater in Karlsruhe wir derzeit eine Oper unter dem leicht gruseligen Titel "Doctor Atomic" aufgeführt. Sie ist unbedingt sehenswert, auch wenn sie ein Sujet zum Inhalt hat, das man normalerweise nicht in der Welt des Gesangs vermutet. In zwei Akten zu je drei Szenen und über drei Stunden hinweg wird die Geschichte des Tests der ersten Atombombe in der Wüste von New Mexico dargestellt. Die sängerischen Leistungen und insbesondere die Musik verdienen höchstes Lob. Die Oper wurde von dem Amerikaner John Adams im modernen Musikstil komponiert und ist erstmals vor knapp zehn Jahren in San Francisco aufgeführt worden. Interessenten sei gesagt, dass (bis zum Mai) nur noch sieben Aufführungen eingeplant sind.

Die spannende Vorgeschichte

Die Oper hält sich eng an die historischen Begebenheiten, wie sie vor gut 70 Jahren abgelaufen sind. Im Jahr 1942 beschloss der damalige amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt eine Atombombe bauen zu lassen. Sie war gedacht zum Abwurf über Nazi-Deutschland, aber (glücklicherweise) wurde diese Superbombe erst im Juni 1945 fertig - also einen Monat nach der deutschen Kapitulation. Genauer gesagt, es gab davon erst zwei Prototypen: eine Uranbombe und eine Plutoniumbombe. Letzterer trauten die Wissenschaftler nicht ganz, sodass sie vor dem Abwurf einen Test mit einer "Probebombe" für erforderlich hielten. Dieser "Trinity-Test" (das war der Codename) sollte in der Wüste des US-Staates New Mexico, in einer menschenleeren Gegend, stattfinden.

Die Arbeiten dafür standen unter einem enormen Zeitdruck, denn am 17. Juli 1945 war der Beginn der sogenannten Potsdamer Konferenz geplant, wo Harry S. Truman ( Roosevelt war kurz vorher verstorben) mit Winston Churchill und Josef Stalin die Neuordnung Europas und den noch andauernden Krieg gegen Japan besprechen wollten. Den Wissenschaftlern in Amerika war bedeutet worden, dass Truman das Testergebnis unbedingt vor Konferenzbeginn brauche. Und es sollte natürlich "positiv" sein.

Unter grösster Anstrengung gelang es dem wissenschaftlichen Projektleiter J. Robert Oppenheimer und seinem militärischen Counterpart General Leslie Groves die Probebombe auf ein Stahlgerüst in zehn Kilometer Entfernung von den Beobachtungsbunkern plazieren zu lassen. Die Zündung war für 4 Uhr nachts des 16. Juli 1945 angesetzt, also gerade noch rechtzeitig vor Trumans Terminforderung. Dann aber passierte etwas, das man in dieser Wüstengegend selten erlebt: um 2 Uhr nachts setzte ein gewaltiger Gewitterregen ein, der auch zwei Stunden später noch nicht aufhörte. An eine Zündung der Bombe war angesichts der durchnässten elektrischen Zuführungsleitungen nicht zu denken.

Im Gegenteil: während dieser quälend langen Wartezeit kam es bei den versammelten Wissenschaftlern zu wilden Diskussionen, bei denen auch "defätistische" Gedanken geäussert wurden. Die Gruppe der jüngeren (um Wilson) schlug vor, die Versuche aufzuschieben und der japanischen Regierung vor dem Bombenabwurf ein Ultimatum zu stellen. Natürlich hatten sie keine Information darüber, dass die Generäle und Politiker im fernen Washington längst die Städte Hiroshima und Nagasaki als Bombenziele festgelegt hatten. Eine andere Gruppe (um Teller) brachte die höchst verstörende Vermutung auf, dass bei der Detonation der Atombombe möglicherweise die Erdatmosphäre in Brand geraten könne, mit der Folge der Auslöschung der gesamten Menschheit. Die dritte Gruppe (zu der zeitweise auch Oppenheimer gehörte), plagte der Gedanke, dass die Bombe von zu niedriger Sprengkraft sein könnte. So wurden Wetten darüber abgeschlossen, mit wieviel Tonnen des Normalsprengstoffs TNT diese Atombombe wohl vergleichbar sein würde.  Die Werte lagen zwischen 45.000 Tonnen TNT (Teller) und Null Tonnen (Ramsey). Oppenheimer tippte auf 300 Tonnen, hoffte aber inständig auf weitaus höhere Werte.

Um 4 Uhr regnete es immer noch "cats and dogs" und General Groves geriet in ein heftiges Wortgefecht mit dem Chefmeteorologen Frank Hubbard. Schliesslich prophezeite dieser für 5 Uhr 30 eine geringe Aufhellung und Oppenheimer schob den Zeitpunkt der Zündung entsprechend auf. Die Nerven waren zum Zerreissen gespannt, als um 5 Uhr 29 Minuten 45 Sekunden der Zündstromkreis geschlossen wurde: der Stosspannungsgenerator entlud sich, an 32 Zündpunkten wurden gleichzeitig die Zündkapseln getriggert und die anschliessende Implosionswelle drückte das Plutonium im Innern zur Grösse einer kleine Apfelsine zusammen. Im Millionenbruchteil einer Sekunde entwickelte sich die nukleare Energie  mit einer Temperatur von über zehn Millionen und einem Druck von Millionen Atmosphären. Zum ersten Mal zeigte sich der Atompilz am Nachthimmel. Ein neues Zeitalter war angebrochen, die Büchse der Pandora hatte sich geöffnet.

Die Theateraufführung in Karlsruhe

Das Libretto für die Oper stammt von dem vielseitigen Peter Sellars, der für seine Inszenierungen von Mozartopern im zeitgenössischen amerikanischen Setting bekannt ist. Bei Doctor Atomic stammt der Text zur Hälfte aus Originalquellen der beteiligen Personen, zur anderen Hälfte ist es Dichtung, die der Komposition poetische Vorlagen für tiefe Empfindungen liefert. Die Diskussionen der Wissenschaftler sind ebenso wie die der Chöre aus unzähligen Zitaten zusammengesetzt, wobei die Quellen lange Zeit den Stempel "streng geheim" trugen. So gelang Sellar eine lebendige Fiktion, wie es in Wirklichkeit gewesen sein könnte bei den langen Debatten über die Folgen der Atombombe in der Nacht des gewitterbedingten Wartens. Auch der fast unmenschliche Druck, den General Groves auf die Wissenschaftler ausübte, ist durch diese Quellen gedeckt.

In den lyrischen Szenen, etwa der Liebesszene zwischen Oppenheimer und seiner Frau Kitty, flickt der polyglotte Physiker (der sogar Sanskrit lesen konnte), Gedichte von Baudelaire ein. Den Abschluss des ersten Aktes bildet ein geistliches Sonett des englischen Dichters John Donne, das später Benjamin Britten vertont hat: "Batter my heart". Es ist der Ausdruck einer gemarterten Seele, die den Glauben verloren hat und dennoch darum kämpft, von Gott zurückgeholt zu werden.

Für Furore sorgte auch die Inszenierung durch Yuval Sharon. Der junge amerikanische Regisseur stammt aus der freien Musiktheaterszene in den USA. In Karlsruhe konnte er zum ersten Mal die reichen technischen Möglichkeiten eines deutschen Stadttheaters nutzen. Und er tat es brillant. Die ganze Handlung des ersten Aktes spielt hinter einer durchsichtigen Leinwand. Auf dieser ist der schwere Gewitterregen angedeutet, daneben laufen Animationen und Comicstrips ab, die einerseits zum Bühnenbild gehören, andererseits die Handlung kommentieren . (Übrigens perfekt visualisiert von Künstlern der Karlsruher Hochschule für Gestaltung beim ZKM). Immer wieder öffnen sich auf dieser Leinwand kleine Fenster für kurze Dialoge, während die inneren Vorgänge der Figuren im Hintergrund nüchtern auf Millimeterpapier ablaufen.

Im zweiten Akt scheint die Zeit aufgelöst zu sein. Nur wenige Stunden vor dem Test der Bombe spürt man die Nervosität der Wissenschaftler. Alle sind bis zum Äussersten angespannt. Dem szenischen Problem des Stillstands begegnet der Regisseur durch den intensiven Einsatz des bewegten Chors und der Statisterie. Erst am Ende, wenn sich die extreme Spannung des finalen Countdowns auch musikalisch verstärkt und in einem markerschütternden Schrei gelöst wird, kommt der langsame zweite Akt zu seiner zwingenden Wirkung.



Armin Kolarczyk als Robert Oppenheimer (2. Akt)

Die Musik von John Adams verfügt über einen unglaublichen Reichtum von Klangfarben. Das Orchester "swingt" bisweilen, es kann eine nukleare Entladung ebenso in Musik setzen wie das Sonett eines englischen Lyrikers. Die Experte sehen Adams als einen Vertreter der sogenannten postminimalistischen Musik, die aber durchaus ins Ohr geht, nicht zuletzt weil sie unüberhörbar auch Anteile von Wagner und Strauss enthält. Es gab deshalb viel Applaus für den Dirigenten der Badischen Staatskapelle, Johannes Willig, und dem glänzend agierenden Chor. Höchstes Lob erntete auch zu Recht der famose Armin Kolarczyk, der die hochkomplexe Titelrolle des Robert Oppenheimers mit packender Intensität erfüllte. Alle weiteren Gesangsrollen waren ebenfalls sehr gut besetzt.

Postskriptum: die Wette um die Höhe der Sprengkraft der Plutoniumbombe gewann der Physiker Rabbi, ein Freizeit-Pokerer von hohen Graden. Er tippte auf 18.000 Tonnen TNT - die theoretischen Physiker hatten vorher 20.000 Tonnen errechnet!