Sonntag, 20. Oktober 2013

Higgs - oder das Ende der Physik?

Oktober ist Erntezeit. Die Früchte der Natur werden eingesammelt und die Naturwissenschaftler (Physiker, Chemiker) blicken gespannt nach Stockholm, wo ihnen ein allmächtiges Komitee den Nobelpreis zuerkennt - oder auch nicht. Dieses Mal traf es im Fach Physik den Schotten Peter Higgs und den Belgier Francois Englert, beide im vorgerückten Alter von 84 bzw. 80 Jahren. Sie erhielten den Preis, weil sie 1964 ein winziges kernphysikalisches Teilchen vorhergesagt hatten, das nun endlich - nach 48 Jahren - im vergangenen Jahr am Beschleuniger LHC des Forschungszentrums CERN bei Genf auch wirklich gefunden wurde. Von den Medien wird es immer wieder als "Gottesteilchen" bezeichnet, die in Genf jahrelang werkelnden Physiker sprechen häufiger von dem "goddamn particle".


Der Elementbaukasten der Natur

Was ist so besonders an dem Kernteilchen der beiden Forscher Higgs und Englert, das allgemein unter der Bezeichnung "Higgs-Teilchen" bekannt ist?  Nun, es komplettiert den Baukasten der Natur auf eine besondere Weise. Die Physiker haben im Verlaufe des letzten Jahrhunderts herausgefunden, dass die uns umgebende Natur aus rund 60 kleinen und kleinsten Teilchen besteht, sowie aus vier Kräften. Dazu bastelten die Theoretiker eine schöne Theorie - das sogenannte Standardmodell - worin alles zueinander zu passen schien.

Bei näherer Betrachtung hatte das Modell allerdings zumindest einen Makel (auf weitere komme ich später noch): unser Universum hätte demnach kein Gewicht, beziehungsweise es wäre masselos, wie sich die Physiker auszudrücken pflegen. Dieses Defizit wollten Higgs und Genossen mit ihrem prophetisch vorhergesagten Kernteilchen, einem sogenannten Boson, vermeiden. Sie proklamierten: "Unser Teilchen, das letzte im Werkzeugkasten des Schöpfers, verleiht allen anderen Teilchen ihre Masse und macht damit den Weltraum mit seinen Galaxien und die Erde mit uns Menschen überhaupt erst möglich".

Ein hoher Anspruch, der erst einmal bewiesen werden musste. Bald machten sich allüberall die Experimentalphysiker ans Werk, um das Higgs-Boson nachzuweisen. Ohne Erfolg! Es wurde immer klarer, dass man für seine Aufdeckung einen riesigen Beschleuniger brauchen würde, mit dem man die astrophysikalische Situation kurz nach dem Urknall, also der Entstehung der Welt vor 13,8 Milliarden Jahren, simulieren konnte. Die Beschleunigermaschine entstand als "Large Hadron Collider" (LHC) über 20 Jahre hinweg am Forschungszentrum CERN unter finanzieller und personeller Beteiligung vieler Länder, darunter auch Deutschland.

Auf einer kreisförmigen, 27 Kilometer langen Rennstrecke und 100 Meter unter der Erde, wollte man Wasserstoffkerne in zwei Röhren gegenläufig auf (nahezu) Lichtgeschwindigkeit beschleunigen und dann aufeinander prallen lassen. Dabei ergibt sich, für den Bruchteil einer Milliardstel Sekunde, eine ähnliche Situation wie beim Urknall. Die Wasserstoffpartikel zersplittern bei der Kollision, die Trümmer werden in den haushohen Detektoren vermessen, wobei man -  bei etwas Glück -  in diesem Teilchenchaos auch einige Higgs-Bosonen festzustellen erhoffte. Nach vielen Fehlversuchen und geschlagenen 48 Jahren nach der Vorhersage der Theoretiker, gelang dies Mitte 2012 tatsächlich. Für eine Billionstel Sekunde blitzte das Gottesteilchen auf, Zeit genug, um es eindeutig zu identifizieren. Danach zerfiel es wieder. Welch ein enormer Aufwand für so ein winziges Teilchen! Einstein hatte  seine Nobelpreisentdeckung, den Photoeffekt, noch durch einen Aufbau auf einer kleinen Tischplatte demonstrieren können; Gleiches galt für die Entdeckungen von Conrad Röntgen und Otto Hahn. Der Beschleuniger LHC in Genf kostete, indes, 4 Milliarden Euro.


2 Nobelpreisträger, 7000 Kulis

Die Identifikation der Preisträger stellte das Nobelkomitee vor keine geringe Aufgabe. Die Idee für ein masseverleihendes Boson lag 1964 nämlich offensichtlich in der Luft. Nahezu zeitgleich wurden fast identische Vermutungen von mehreren theoretischen Physikern u. a. in der Zeitschrift Physical Review Letters veröffentlicht: nämlich (in alphabetischer Reihenfolge) von Philip Andersen, Robert Brout, Francois Englert, Gerald Guralnik, Carl Hagen, Peter Higgs, Tom Kibble und Gerard ´t Hoft. Warum Peter Higgs zum Namenspatron für dieses Teilchen avancierte, ist heute nicht mehr genau auszumachen. (Vielleicht wegen seines knitzen Namens?) Von den Genannten sind einige, wie Robert Brout, bereits verstorben und kamen deshalb aus Satzungsgründen für die Nobilitierung nicht in Frage. Um den dritten möglichen Namen (streng geheim, aber vermutlich CERN) wurde im Komitee buchstäblich bis zur letzten Minute gerungen, weshalb sich die Verkündigung der Preisträger um eine Stunde verschob. Schlussendlich blieb es bei Peter Higgs und Francois Englert, die sich das Preisgeld von 920.000 Euro teilen dürfen.


Die beiden Preisträger François Englert (links) und Peter Higgs

Leer gingen aus der Chef des CERN, der deutsche Physikprofessor Rolf-Dieter Heuer, die 70 Forscher des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT), zumeist Doktoranden der Teilchenphysik und - weltweit - 7.000 Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker am Projekt des Higgs-Bosons. Eigentlich hat das Higgs-Teilchen also 7.000 Entdecker. So ist es nicht verwunderlich, dass die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Physik zwar die Entscheidung des Nobelkomitees begrüsste, aber gleichzeitig bemängelte, "dass es offenbar nicht möglich ist, die zahlreichen Forscher stärker zu würdigen, welche an der Entdeckung des Teilchens mitgewirkt haben".


Das Ende der Physik?

Seit einiger Zeit sind die Physiker mit ihrem Standardmodell nicht mehr zufrieden. Die Welt scheint komplizierter zu sein, als sie darin beschrieben ist - auch nach der Entdeckung des Higgs-Teilchens. Man bekrittelt, dass es in dieser früher als allumfassend geglaubten Theorie, doch einige bedeutsame Lücken geben muss. So kommt in ihr die Antimaterie nicht vor, obwohl sie beim Urknall in gleicher Menge entstanden sein muss. Bei den Kräften vermisst man die Gravitation, welche immerhin die Bewegungen der Himmelskörper im Universum regelt. Und - das ist besonders bedauerlich - gilt das Standardmodell gerade mal für fünf Prozent des Weltraums. nämlich nur für die sichtbare Materie. Die unsichtbare "Dunkle Materie", welche 25 Prozent der Masse im Universum ausmacht, wird durch die mathematischen Gleichungen und die bisher entdeckten Elementarteilchen im Standardmodell überhaupt nicht beschrieben. Für sie gibt es offensichtlich einen ganz anderen Elementbaukasten. Und dass es die Dunkle Materie wirklich gibt, sehen wir an unserer eigenen Galaxie, der Milchstrasse. Ihre rotierenden Spiralarme würden wegen der Fliehkraft abgerissen werden, wenn es den "Klebstoff" der Dunklen Materie nicht gäbe, wie man unschwer ausrechnen kann.

Aber damit sind wir mit den unerklärten Phänomenen noch nicht am Ende. Fast Dreiviertel des Weltalls ist angefüllt mit der "Dunklen Energie", von deren Struktur die Physiker praktisch überhaupt keine Ahnung haben. Sie wissen aber, dass es sie geben muss, denn sonst würde unser Kosmos längst wieder - wie ein empor geworfener Stein - wegen der Schwerkraft und der Massenanziehung der Himmelskörper (auf einen Punkt) zusammenkrachen. Stattdessen ist es genau umgekehrt: unser Universum dehnt sich mit ungeheurer Kraft kontinuierlich aus und das offensichtlich für "ewige Zeiten". Dafür wird eine enorme Energie benötigt, eben die Dunkle Energie.

Die Theoretiker haben sich dieser Probleme angenommen und einen zweiten Elementbaukasten postuliert: die supersymmetrischen Teilchen. Jedes Standardteilchen sollte als Pendant ein "Susy-Teilchen" besitzen, das Higgs-Teilchen beispielsweise ein Teilchen mit dem Namen "Higgsino". So verlangt es die sogenannte "Stringtheorie", mit welcher sich seit 40 Jahren die klügsten Köpfe im Reich der Physik beschäftigen. Leider bislang ohne durchschlagenden Erfolg. Keine ihrer Vorhersagen konnte bis jetzt experimentell bewiesen werden - auch nicht die Behauptung, dass es 10 hoch 500 parallele Universen in einem Super-Weltall gäbe. (Nur zur Veranschaulichung dieser gigantischen Zahl: unser eigenes Universum enthält etwa 10 hoch 80 Atome!) Die Idee der Multiversen ist für Laien immer wieder beeindruckend, leider lässt sie sich - nach Popper - nicht falsifizieren, was aber eine unbedingte Voraussetzung für seriöse Wissenschaft ist.

Seit Jahren heisst es deshalb: "Eine neue, viel leistungsstärkere Beschleunigergeneration muss her; damit wird man die Susy-Teilchen experimentell nachweisen können". Der "Superconducting Super Collider" sollte Anfang der 1990er Jahre in Texas gebaut werden. Nach einigen Jahren der Planung aber strich das US-Repräsentantenhaus die Gelder; der SSC war selbst den reichen Amerikanern zu teuer geworden. In Europa behilft man sich derzeit dadurch, dass man den LHC in CERN während der nächsten Jahre technisch aufrüstet. Seine Leistung und seine Luminosität (vergleichbar der Lichtstärke) soll so weit wie möglich angehoben werden. Ob uns dies zu den Elementarteilchen der Dunklen Materie und der Dunklen Energie führt, bleibt abzuwarten. Viele Physiker zweifeln daran.

Apropos Physiker: nicht wenige der Studenten beginnen die Lust an der Astrophysik zu verlieren. Es dauert lange bis man während des Studiums an dieses Fach herangeführt ist und nur die Besten schaffen es, darin kreativ zu sein. Und auch das nur im Team, als Einzelner hat man keine Chance. Wenn - nach einigen Jahrzehnten - die Zeit der Ernte kommt, dann werden (siehe oben) nur ganz Wenige belohnt. Die Allermeisten haben das Gefühl, als "ghost worker" anonym mitgeschafft zu haben, aber ohne einen persönlichen Ertrag einzufahren.

Als sich 1874 ein junger Mann namens Max Planck nach einem Studium umsah, erklärte ihm der renommierte Professor Philipp von Jolly: "Theoretische Physik ist zwar ein schönes Fach und man kann wohl in dem einen oder anderen Winkel noch ein Stäubchen auskehren, aber was prinzipiell Neues werden Sie nicht mehr finden". Nun, Max Planck wurde darin immerhin zum Entdecker der Quantenphysik und zum Nobelpreisträger.

Was würde ein Professor in einem vergleichbaren Fall einem Studenten wohl heute raten?



PS.: Das Land Österreich ist im Jahr 2011 übrigens aus den Konsortium CERN ausgetreten, dem es 50 Jahre angehörte. Nach Aussage des Forschungsministers war dem Land der jährliche Finanzbeitrag von 20 Millionen Euro zu hoch!












3 Kommentare:

  1. Wolfgang Pauli erhielt für die Postulierung des Neutrinos (1930) 1945 den Nobelpreis für Physik.

    Davis und Koshiba hatten erst 1930 die von Wolfgang Pauli vorhergesagten aber nur schwer nachweisbaren kosmischen Neutrinos gemessen. Dafür erhielten sie 2002 den Nobelpreis.
    Analog müsste das erfolgreiche CERN-Team auch einen Nobelpreis erhalten, wenn man sicher ist, dass es das Higgs-Boson war!

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  2. Guten Tag,
    die Beiträge des Blogs sind immer lesenswert.
    Die Fakten kann ich nur selten mal aus eigener Anschauung "kontrollieren".
    Dieses mal habe ich jedoch zwei Einwände:
    a) Österreich gehört nach wie vor dem "CERN Verbund" an. Das Land stellt viele Mitarbeiter nach CERN ab.
    b) Die eine Stunde Verspaetung kam zu stande, weil Peter Higgs seinen Telefonhoerer nicht abgenommen hat. Das hatte er schon vorher angekuendigt, dass er sich versteckt... Sie haben es eine Stunde versucht und dann aufgegeben.

    Kritische Blogs sind immer gut und willkommen, sie MÜSSEN aber richtig recheriert sein, sonst verliert der Blog seine Glaubwürdigkeit.
    mit Gruß, Harald Borras

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  3. Guten Tag,
    die Beiträge des Blogs sind immer lesenswert.
    Die Fakten kann ich nur selten mal aus eigener Anschauung "kontrollieren".
    Dieses mal habe ich jedoch zwei Einwände:
    a) Österreich gehört nach wie vor dem "CERN Verbund" an. Das Land stellt viele Mitarbeiter nach CERN ab.
    b) Die eine Stunde Verspaetung kam zu stande, weil Peter Higgs seinen Telefonhoerer nicht abgenommen hat. Das hatte er schon vorher angekuendigt, dass er sich versteckt... Sie haben es eine Stunde versucht und dann aufgegeben.

    Kritische Blogs sind immer gut und willkommen, sie MÜSSEN aber richtig recheriert sein, sonst verliert der Blog seine Glaubwürdigkeit.
    mit Gruß, Harald Borras

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