Sonntag, 10. Februar 2013

Firmengeschichten

Das ist die Geschichte über ein eher kleines Grossunternehmen, das es zudem heute gar nicht mehr gibt. Über viele Jahre hinweg hatte diese Firma 30.000 Beschäftigte, machte etwa 10 Milliarden Jahresumsatz und erzielte dabei einen Gewinn von ca. 1 Milliarde Euro. Sie betätigte sich in der Branche Spezialchemie, ihr Name ist: Degussa.
Mehr als jedes andere Unternehmen der deutschen Grossindustrie (IG-Farben, Krupp, Siemens etc.) ist die Degussa durch ihre Zusammenarbeit mit dem Machthabern des sog. Dritten Reichs bekannt und schuldig geworden. Dieser Blog soll einige Aspekte dieser Täterschaft aufgreifen.

Firmengeschichte Nr. 1

Beeindruckend ist der lange, offizielle Name des Unternehmens: "Deutsche Gold- und Silber-Scheide-Anstalt vormals Roessler". Die Sekretärinnen dieser Firma benutzten etwa seit 1943 - aus Zeitersparnis - das Akronym "Degussa", aber erst ab 1980 wurde dies zum offiziellen Firmennamen.

Die Vorläuferfirma der Degussa war die kleine Edelmetallscheiderei von Friedrich Ernst Roessler in der Freien Reichsstadt Frankfurt. Nach der Gründung des Deutschen Zollvereins erhielt sie 1837 den lukrativen Auftrag zur Einschmelzung der Münzen in den vielen deutschen Kleinstaaten und zur Trennung (Scheidung) der Gold- und Silberbestandteile. Als nach der Reichsgründung der Gulden als Währung eingeführt wurde, war die Fa. Roessler bereits zu einem respektablen Unternehmen herangewachsen und konnte sich über viele Staatsaufträge freuen. Daneben verkaufte es mit gutem Gewinn feuerfestes Glanzgold zur Verzierung von Glas und Porzellan.

Schritt für Schritt verbreiterte die frühe Degussa ihre Produktpalette. In Rheinfelden am Oberrhein ging 1898 ein Wasserkraftwerk zur Herstellung von Natrium in Betrieb. Dieses Metall wurde gebraucht zur Herstellung von Natriumcyanid, welches man wiederum zur Auslaugung von Gold aus Erzen einsetzte. Die Arbeiter benutzten (artfremd) das leicht entzündliche Natriummetall zum Anheizen ihrer Öfen, indem sie ein Bröckchen Natrium auf die frischen Kohlen legten und draufspuckten. Wegen der damit verbundenen Unfallgefahr musste die Betriebsleitung dies via Anschlag unterbinden.
Firmenverbot

Weitere Produkte, die sich noch gut verkaufen liessen, waren Textilseifen, das Düngemittel Kalkstickstoff und Karbid zur Herstellung von Cyanamid. Dieses wurde vorallem als Pflanzenschutzmittel gegen Unkräuter und Schadpilze eingesetzt. In der Wasserstoff- und Perboratentwicklung betätigte sich der junge Chemiker Otto Liebknecht, der Sohn des Politikers Wilhelm Liebknecht. Mit der Firma Henkel produzierte man das sagenumwobene "Persil", das angeblich erste selbsttätige Waschmittel.

Die beiden Weltkriege bedeuteten für Degussa zwar gewichtige Einschnitte, aber die längst gefestigte Firma kam dadurch nicht in ernsthafte Schwierigkeiten. Problematisch war der Mangel an Arbeitern und (zwischen 1941 bis 1945) die Bombardierungen der Betriebe. Gute Geschäfte wurden im 2. Weltkrieg mit dem "künstlichen Kautschuk" Buna gemacht, der für die Bereifung der Geschütze und Lastwägen unabdingbar war.

Gehaltsauszahler im Degussa-Werk Frankfurt  (1939)

Nach 1945 sorgte die anlaufende Konjunktur für rasche Fortschritte beim Wiederaufbau der zerstörten Anlagen. Auch das Produktsortiment wurde erweitert. Zu nennen ist die Weiterentwicklung des Plexiglases für Leuchtwerbungen, Fassadenschutz und Möbel. Ein zweiter hochrentabler Werkstoff waren die Polyurethanschäume für Polstermöbel, Autositze und Armaturenbrettern. Durch Firmenzukäufe und Fusionen (Hüls, SKW, Röhm, Stockhausen, Goldschmidt etc.) hatte sich bald ein richtiggehender Stammbaum bei Degussa herausgebildet. Die zentrale Forschung wurde nach Wolfgang bei Hanau ausgelagert, wo sich bereits einige nukleare Beteiligungsbetriebe (Nukem, Alkem) befanden.

All diese Abschnitte der Degussa-Geschichte kann man in einem Hochglanzband von fast 200 Seiten im Detail nachlesen. Er wurde 1988 vom damaligen Vorstandsvorsitzenden Gert Becker herausgegeben und sollte Werbung für sein Unternehmen machen. Das Gegenteil trat ein. Becker wurde von den deutschen, aber auch den internationalen Medien (USA) als Geschichtsklitterer beschimpft, sodass man nach einiger Zeit die Firmenhistorie zurückziehen musste. Insbesondere  wurde daran kritisiert, dass die unheilvollen Verstrickungen seines Unternehmens in die Machenschaften der Nazis in dem Werk kaum erwähnt worden waren. Sein Nachfolger im Vorstand, Uwe-Ernst Bufé, gab deshalb 1997 eine zweite Firmenhistorie in Auftrag. Diesmal sollte sich der amerikanische Geschichtsprofessor Peter Hayes, der bereits eine Abhandlung über das (nach dem Krieg zerschlagene) Grossunternehmen IG-Farben geschrieben hatte, um die Historie der Degussa - insbesondere im 2. Weltkrieg - bemühen.


Firmengeschichte Nr. 2

Hayes´Werk, fast 500 Seiten stark, erschien im Jahr 2004. Es trug den Titel: "Die Degussa im Dritten Reich. Von der Zusammenarbeit zur Mittäterschaft". Im Gegensatz zur ersten Firmengeschichte zeigte sie auch die dunklen Facetten der Degussa. So ging ein grosser Teil des Goldes und Silbers, das man den Juden geraubt, oder von ihren Leichen abgerissen hatte, durch die Schmelzöfen und Scheiderei des Unternehmens. Diese Edelmetalle waren für die Nazis als Zahlungsmittel für die Importe von kriegswichtigen Gütern aus Portugal und der Schweiz schlicht unverzichtbar.

Besonders profitiert hat die Degussa von der "Arisierung" jüdischen Eigentums. Sie übernahm mindestens zehn jüdische Betriebe zu einem "günstigen" Preis. Zu nennen sind Chemieunternehmen in Bonn und Homburg sowie die Auergesellschaft in Berlin. Anfangs wurde noch ein halbwegs fairer Preis bezahlt, aber nach Inkrafttreten der antijüdischen Gestze im Jahr 1938 konnte davon keine Rede mehr sein.

Hayes listete auch auf, dass alle Betriebe der heutigen Degussa im grossen Stil Zwangsarbeiter beschäftigten, ohne die sie ihre Produktionsziele nie hätten erreichen können. Die Unterbringung und Verpflegung dieser Häftlinge genügten häufig nicht einmal einfachsten Standards. Insbesondere Ostarbeiter wurden mit den anstrengendsten und gefährlichsten Arbeiten beauftragt.

Das dunkelste Kapitel der Nazizeit ist zweifellos die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Dies geschah ab Mitte 1942 im "industriellen Masstab" in zahlreichen Konzentrationslagern, vorzugsweise aber in Auschwitz. Die Firma Degussa trägt daran eine historische Schuld als Lieferant des Blausäuresalzes Zyklon B.


Das Vernichtungsgas Zyklon B

Zyklon B war die Bezeichnung für ein Schädlingsbekämpfungsmittel mit dem Wirkstoff Blausäure. Der chemische Name ist Cyanwasserstoff, die Summenformel HCN. Als Insektizid wurde es schon vor dem 1. Weltkrieg von kalifornischen Orangenbauern benutzt. Sie deckten ihre Bäume ab und brachten darunter Cyanwasserstoff zur Vergasung. Doch Vorsicht war geboten: an der Luft verwandelt sich die Verbindung in ein nicht wahrnehmbares Gas, das den Sauerstoffaustausch mit den Körperzellen unterbindet. Atmet ein Mensch nur 70 Milligramm davon ein, so verliert er innerhalb zwei Minuten das Bewusstsein, wird von Krämpfen geschüttelt und stirbt.

Doch es bestand ein Bedarf an diesem Chemikalie. Bei der Schädlingsbekämpfung in Silos, Mühlen und auf Schiffen, aber auch in Kasernen und Barackenlagern, war es sehr wirkungsvoll. Selbst die Soldaten im Schützengraben schätzten es, um der juckenden Läuse, welche Fleckfieber und Typhus übertragen konnten, Herr zu werden. Besser handhabbar wurde der giftige Cyanwasserstoff, als er mit einem Riechstoff versetzt wurde, der die Nutzer warnte, bevor die Blausäure verdampfte. Etwa ab 1938 kamen weitere Stabilisatoren hinzu, z. B. die Bindung an ein Substrat ("Erco-Würfel"), sodass Zyklon B in luftdichten Blechbüchsen verkauft und verschickt werden konnte. Während des Einsatzes von Zyklon B bei der Wehrmacht und bei der - bestimmungsgemässen - Entlausung in Konzentrationslagern ist nur ein einziger Unfall bekann geworden. Da zu dieser Zeit bereits mehrere hundert Tonnen Zyklon B im Umlauf waren, erschien es mit Recht als sicher in der Nutzung.

                                                Zyklon B in Blechdose und auf Substrat

Indes, Zyklon B ist zu einem Synonym für die Technik und Systematik des Holocaust geworden. In den Vernichtungslagern Auschwitz und Birkenau wurde es in grossem Umfang zum Massenmord an den Juden benutzt. Dies konnte nur geschehen, weil die eigentlich nützliche Chemikalie missbraucht worden war.


Organisationen, Personen, Mengen, Kosten

Zyklon B war bereits 1922 von der "Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung" (Degesch) entwickelt worden. Im Jahr 1926 wurde dem Chemiker Walter Heerdt dafür ein Patent erteilt. In den frühen 1940er Jahren wurde die Degesch  von der Degussa (zu 42,5 Prozent), den IG-Farben (42,5 %) und Th. Goldschmidt (15 %) übernommen. Die Betriebsführung - das ist wichtig - lag aber vereinbarungsgemäss bei der Degussa, welche auch die chemische Formel und sonstige patentrechtliche Dinge einbrachte. Mit Degesch verbunden waren die Dessauer Werke für Zucker und Chemische Industrie, welche das Zyklon grossenteils herstellte. Für den Vertrieb des Produkts waren die beiden Degesch-Töchter Tesch und Heli zuständig.

Die verantwortlichen Personen waren ab 1939 bei der Degussa der "charismatische" Vorstandsvorsitzende Hermann Schlosser, bei der Degesch der Generaldirektor Gerhard Peters. Die Vertriebsfirmen leiteten Bruno Tesch und Walter Heerdt. Bis Anfang 1942 wurde das Zyklon B nur als Schädlingsbekämpfungsmittel ausgeliefert, mit entsprechender Kennzeichnung. Danach liess man bei einem Prozent der Produktion den Warnstoff weg. Die KZ-Bewacher verwendeten den Inhalt dieser Büchsen in speziell errichteten Gaskammern zur Ermordung ihrer Häftlinge. Wer hat diese Massnahme veranlasst? Nun, sicherlich war sie gedeckt durch die Beschlüsse der sog. Wannseekonferenz, bei der Adolf Hitler die Vernichtung der Juden befohlen hatte. Über die Umsetzung dieses Befehls bei Degussa/Degesch und den Vertriebsfirmen besteht immer noch Unklarheit. Schlosser stritt vehement ab, davon gewusst zu haben; Gleiches gilt für Peters. Dass die Vertriebsleute, welche sich häufig in den KZs, wie Ausschwitz aufhielten, von der Vergasung der Juden ab Mitte 1942 Kenntnis hatten, ist sehr wahrscheinlich, aber ebenfalls nicht bewiesen.

Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang der SS-Obersturmführer Kurt Gerstein. Er war "Hygienefachmann" der Waffen-SS und sah in Treblinka wie elend Häftlinge umkamen, die mit eingeleiteten Motorgasen erstickt wurden. Angeblich hat er Peters davon überzeugen können, dass die Tötung mit Zyklon B "humaner" sei, da sie schneller und schmerzloser vor sich gehe. Jedenfalls gab es ab 1943 Zyklon-Lieferungen nach Auschwitz, bei denen der Warnstoff fehlte.

In den Jahren 1942 bis 44 verkauften die Firmen Degesch/Testa 6 Tonnen Zyklon B ohne Warnstoff an das Konzentrationlager Auschwitz. Damit konnte man eine Million Menschen töten. Die Verkaufseinnahmen betrugen, gemäss zurückgelassener Buchhaltung, 30.000 Reichsmark; der Unternehmensgewinn wird auf 1.500 RM abgeschätzt. Dies bringt den Historiker Peter Hayes zu folgender Feststellung in seinem Buch: "So schockierend es klingen mag, die hin und wieder geäusserte Vorstellung, dass die Degussa ein Vermögen gemacht hat, indem sie das Mittel zur Ermordung der europäischen Juden bereitstellte, ist absurd".


Die Sühne

Nach Beendigung des 2. Weltkriegs wurde Bruno Tesch, der Leiter der Vertriebsunternehmens Testa, für seine unmittelbare Beteiligung am Holocaust von den Briten in Hameln gehenkt. Ein Militärgericht glaubte ihm nachweisen zu können, dass er sehr wohl wusste, wofür seine Produkte in Ausschwitz verwendet worden waren.

Gerhard Peters, dem Chef der Degesch, ging es vor seinen deutschen Richtern besser. Er musste zwar zehn Gerichtsverfahren durchstehen, worin er zeitweise wegen Beihilfe zu Mord und Totschlag verurteilt worden war, aber er verbrachte insgesamt nur zwei Jahre und acht Monate im Gefängnis. Eine Gesetzesänderung bewirkte, dass er die restlichen 19 Jahre seines Lebens bei guter Pension in Freiheit geniessen durfte. Die finanzielle und personelle Unterstützung der Degussa bei den Verfahren hat massgeblich zu diesem "Freispruch 3. Klasse" beigetragen.

Hermann Schlosser, der Vorstandsvorsitzende der Degussa, seit 1939 Parteimitglied der NSDAP, ausserdem Wehrwirtschaftsführer und Chef der Wirtschaftsgruppe Chemische Industrie, war geradezu empört, als er von der Spruchkammer im Juli 1947 als "Hauptschuldiger" angeklagt wurde. Eine Armada von Degussa-Anwälten erreichte schliesslich seine Einstufung als "Minderbelasteter". In der Degussa-Historie Nr. 1 wird gejubelt, dass dies eine "glänzende moralische Rechtfertigung für Schlosser" gewesen sei. Nur drei Monate später benannte ihn seine Firma als (hochbezahlten) Berater, 1949 trat er wieder dem Vorstand bei und ein Jahr danach war er abermals Vorstandsvorsitzender. Erst als 70-jährigen durfte man ihn 1959 aus diesem Amt verabschieden.

Den Anklagepunkt "Beteiligung an den Judenmorden" wegen seiner Funktionen bei Degussa und Degesch fegten seine Verteidiger geradezu vom Tisch. Sie konnten nachweisen, dass das Thema Zyklon B nie auf der Tagesordnung einer Vorstands- oder Aufsichtsratssitzung gestanden hatte. Der Grund: die Umsätze für dieses Produkt - und ganz besonders die Gewinne - waren viel zu niedrig, um auf dieser hohen Ebene behandelt zu werden.


Hannah Arendt hat recht

Blickt man zurück, so wurden bei den historischen Massenmorden in Auschwitz und anderen Lagern besonders die "Kleinen", wie Bruno Tesch gefasst und verurteilt. Sie waren keineswegs unschuldig und sollten nicht bedauert werden. Die Ranghöheren jedoch, wie Peters, konnten sich herauswinden. Besonders skandalös war das Urteil für den ehemaligen Degussa-Chefs Hermann Schlosser. Dass er nicht wusste, was in seinem Bereich vorging, ist schlechterdings nicht glaubhaft. Absolut empörend ist jedoch, dass er das Argument der geringen Erlöse bei den Massenmorden noch zu seinem Nutzen vorbringen durfte.

Nach Annah Arendt "ein weiterer Beweis für die Banalität des Bösen".


 Nachschrift:  
So um das Jahr 2004 dämmerte es den Managern und Aktionären bei Degussa, dass mit ihrem Unternehmen kein Staat mehr zu machen war. Der gute Ruf in der Öffentlichkeit war dahin. So verkauften sie ihre Aktien an die Ruhrkohle AG. Im September 2007 wurde Degussa von der Börse genommen und in den Konzern Evonik eingegliedert.
Der Firmenname Degussa ist seitdem erloschen.

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