Sonntag, 24. Februar 2013

Auch Physiker tricksen - gelegentlich

Fälschungen und Plagiate in wissenschaftlichen Arbeiten gibt es nicht nur bei Ärzten und Geisteswissenschaftlern, nein, auch die Naturwissenschaftler sind nicht immun gegen üble Tricksereien. So behauptete der amerikanische Biologe William Summerlin in den 1970er-Jahren, dass es ihm gelungen sei, auf eine weisse Maus das Fell einer (genetisch nicht verwandten) schwarzen Maus zu transplantieren. Später stellte sich heraus, dass Summerlin einfacherweise die weisse Maus mit einem schwarzen Textmarker angefärbt hatte. Als Motivation gab er "extremen Produktionsdruck" an und den gefühlten Zwang "immer wieder überraschende Entdeckungen vorweisen zu müssen".

Berühmt und berüchtigt gleichermassen wurde der Fall des deutschen Physikers Jan Hendrik Schön, der mit herausragenden Publikationen auf dem Gebiet der Nano- und Festkörperphysik die wissenschaftliche Welt mehrere Jahre in Atem hielt und damit fast zum Nobelpreisträger aufgestiegen wäre. Nach der Aufdeckung der Falsifikate wurde er als der grosse Bösewicht dargestellt, seine Historie beweisst jedoch, dass er bei dieser Affäre keineswegs der Alleinschuldige war.

Aufstieg und Fall des "Ikarus"

Jan Hendrik Schön, geboren 1970, legte seine Matura am österreichischen Gymnasium Feldkirch ab und studierte anschliessend Physik an der Universität Konstanz, wo er 1993 das Diplom erwarb. Bei dem Photovoltaik-Experten Professor Ernst Bucher promovierte er 1997 mit einer Arbeit über die "Nutzbarmachung von Kupfergalliumdiselenid zur Herstellung von Solarzellen" und erhielt dafür die Note magna cum laude. Noch im gleichen Jahr wechselte er als sogenannter Post-Doc an die Bell Laboratories in die USA, wo er in der Arbeitsgruppe von Bertram Batlogg beschäftigt war.

In Amerika entwickelte sich Dr. Schön - der in Konstanz kaum mehr als Durchschnitt war - zum wissenschaftlichen Überflieger. In vier Jahren, von 1998 bis 2002, publizierte er über 70 wissenschaftliche Arbeiten mit zum Teil bahnbrechenden Erkenntnissen aus den Gebieten der Hochtemperatur-Supraleiter, der organischen Laser und über innovative Transistoren von der Grösse eines einzigen Moleküls. In dem kurzen Zeitabschnitt zwischen den Jahren 2000 und 2001 erschienen von ihm nicht weniger als 17 Veröffentlichungen in den beiden hochrenommierten wissenschaftlichen Zeitschriften Science und Nature. Sein Arbeitgeber Bell meldete zahlreiche Patente auf der Basis dieser vermeintlichen Entdeckungen an.


Dr. Schön beim Forschen

Vollkommen aus dem Häuschen war Schöns Chef Bertram Batlogg, ein drahtiger Österreicher und ehemaliger Gebirgsjäger. Die beiden entwickelten eine perfekte Symbiose: Während der Eigenbrötler Jan Hendrik in seinen Labors einsam vor sich hin forschte, reiste sein Meister Bertram rund um den Globus und "verkaufte" auf zahlreichen Wissenschaftlerkongressen die immer spektakuläreren Resultate. Klugerweise hatte sich Batlogg bei praktisch allen Publikationen als Co-Autor an die zweite Stelle hinter seinem Schüler Schön gesetzt. Mentor Batlogg telefonierte mit Schön oft stundenlang - traf sich mit ihm aber kaum jemals in dessen Labors bei den Versuchseinrichtungen.

Als Schön in der wissenschaftlichen Community schon als heisser Kandidat für den künftigen Nobelpreis der Physik gehandelt wurde, schaltete sich auch die deutsche Max-Plank-Gesellschaft ein. Sie wollte den berühmten Sohn nach Deutschland zurückholen und bot ihm die Stelle als Direktor am Stuttgarter Institut für Festkörperforschung an. Dr. Schön wäre der bislang jüngste Stelleninhaber geworden. Der Ikarus hatte fast die Sonne erreicht!

Seinen Niedergang leitete ein sogenannter "whistleblower" ein. Ein anonymer Informant gab der Firmenleitung einen diskreten Hinweis, wonach "bei Jan Hendik nicht alles stimmen konnte". Gleichzeitig verwies der Hinweisgeber darauf, dass Schön bei zwei Aufsätzen in Science und Nature, die gleiche Grafik verwendet habe, obwohl beide Artikel nichts miteinander zu tun hatten. Davon aufgeschreckt, richtete Bell im Jahr 2002 einen internen Untersuchungsausschuss ein, der zu dem Ergebnis kam, das Schön praktisch alle Experimentierdaten gefälscht hatte. Die Rohdaten waren  nicht mehr verfügbar, weil sie Schön - angeblich aus Platzgründen - in seinem Computer gelöscht hatte.

Das bedeutete den Absturz des Ikarus. Sein Arbeitgeber Bell kündigte Schön fristlos, nicht ohne ihm die Adresse eines Psychiaters zu nennen. Aber schon nach zehn Tagen musste der einst Hochgelobte als unwillkommener Ausländer die USA verlassen und nach Deutschland zurückkehren. Viele Publikationen, insbesondere in den genannten Renommierjournalen, wurden in den darauffolgenden Monaten peinlicherweise zurückgezogen.

Für die Firma Bell Lab war dieser Skandal eine Katastrophe. Ihr Aktienkurs fiel ins Bodenlose, von den damals 30.000 Mitarbeitern mussten 20.000 entlassen werden. Bell hat sich im Ansehen seitdem nicht mehr erholt. Gefeuert wurde auch Bertram Batlogg, der danach in der Schweiz tätig war und sogar noch im Jahr 2004 den "Vorarlberger Wissenschaftpreis" erhielt. Ihm wurde (zu Recht) vorgeworfen, dass er seinen Mitarbeiter Schön zu wenig kontrolliert habe und offensichtlich nur auf dessen "Erfolgswelle" mitschwimmen wollte.

Auch die Begutachtungsverfahren (Peer Review) der wissenschaftlichen Zeitschriften gerieten unter  Kritik. Nature zog daraus Konsequenzen und verlangt seitdem von allen Autoren, dass sie ihren persönlichen Beitrag im jeweiligen Artikel benennen und von den übrigen Co-Autoren abgrenzen. Geradezu entgeistert war der Stuttgarter Max-Planck-Forscher und Nobelpreisträger Klaus von Klitzing. Er hatte in Schön eines der "grössten Physikertalente unserer Zeit" gesehen, meinte nun aber: "Wenn einer meiner Studenten zu mir käme mit einem weltbewegenden Ergebnis, dann würde ich mir das sofort im Labor zeigen lassen und selbst an den Knöpfen drehen".

Die alemannische Hetzjagd

Im fernen Konstanz am Bodensee war man anfangs stolz auf die steile Karriere "ihres Doktor Schön", später aber um so enttäuschter, ja geradezu schockiert, als die Nachrichten über sein Fehlverhalten um den Globus gingen. Der Verdacht stieg auf, dass der Physiker auch schon bei seiner Doktorarbeit an der kleinen, aber feinen Reformuniversität getrickst haben könnte. Aber die genaue Überprüfung dieser Arbeit förderte nichts Ehrenrühriges zutage, von einigen geringfügigen handwerklichen Nachlässigkeiten abgesehen.

Trotzdem fühlte sich die Universität irgendwie befleckt durch die Untaten ihres Promovenden in den USA. Sie forderte ihn deshalb im Juni 2004 schriftlich auf, seine im Jahr 1998 verliehene Promotionsurkunde zurückzugeben. Schön kam diesem Petitum nicht nach, sondern legte Widerspruch ein.


Die Universität Konstanz über dem Bodensee

Nun tat sich fünf Jahre lang nichts mehr. Im Oktober 2009 aber beklagte die Universität Dr. Schön beim Verwaltungsgericht (VG) in Freiburg. Sie begründete dies mit der bekannten Datenmanipulation in den USA, weswegen sich Schön - im Sinne des Landeshochschulgesetzes - als unwürdig zur Führung des Doktortitels erwiesen habe.

Das Urteil des Verwaltungesgerichts erging ein Jahr später, im September 2010. Das Gericht liess die Universität abblitzen und stellte fest: "Der Doktorgrad darf nicht wegen nachträglichen wissenschaftlichen Fehlverhaltens entzogen werden". 

Damit war die Hexenjagd aber noch nicht zu Ende. Die Universität legte Berufung bei der nächsthöheren Instanz, dem Verwaltungsgerichtshof  (VGH) in Mannheim ein. Dieses Gericht gab der Hochschule mit seinem Urteil vom September 2011 recht, indem es feststellte: "Schwerwiegendes wissenschaftliches Fehlverhalten rechtfertigt die Entziehung des Doktorgrades wegen Unwürdigkeit". Damit hatte der VGH das Urteil des Freiburger Verwaltungsgerichts aufgehoben und Jan Hendrik war seinen Doktortitel los.

Gegen dieses Urteil haben die Mannheimer Richter keine Revision mehr zugelassen. Das Verfahren ist also zum Ende gekommen - sofern Schön nicht vor das Bundesverfassungsgericht zieht.

Jan Hendrik Schön hat an den Gerichtsverhandlungen persönlich nicht teilgenommen und sich in den vergangenen zehn Jahren auch nicht bei Talk-Shows im Fernsehen präsentiert.
Er arbeitet heute als Ingenieur bei einem Chemieunternehmen.

Sonntag, 17. Februar 2013

Ramschtitel Dr. med

Es ist bekannt, dass die Universität Düsseldorf den angeblichen Verfehlungen von Frau Schavan mit geradezu jacobinischer Strenge nachgegangen ist und diese mit der Maximalstrafe - Entzug des Doktortitels - sanktioniert hat. Nach etwaigen Fehlern im eigenen Universitätsbereich, worauf die grossen Wissenschaftsorganisationen mehrfach hingewiesen hatten, haben Fakultät und Verwaltung nicht gesucht. Wie schwer die Hochschulen sich damit tun, eigenes Fehlverhalten aufzuarbeiten und entsprechend zu bestrafen, zeigt sich an einem besonders grotesken Beispiel bei der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.


Die Würzburger Doktorfabrik

Es handelt sich um den Fall des Professors Dr. Dr. Dr. h.c. Gundolf Keil. Er wirkte von 1973 bis 2003 als Ordinarius für die Geschichte der Medizin an der medizinischen Fakultät der Würzburger Universität. Seine Spezialität waren mittelalterliche Schriften über Heilpflanzen und Kräuter, wofür er unter anderem das Bundesverdienstkreuz erhielt und Mitglied im päpstlichen Ritterorden vom Heiligen Grab zu Jerusalem wurde. Als er 2003 mit grossem Pomp verabschiedet wurde, hatte er 250 Dissertationen, fast alle auf dem Gebiet der Medizinhistorie und Kräuterkunde betreut.


Universität Würzburg (Hauptgebäude)

Seinem Nachfolger, Professor Michael Stolberg, kamen die letzten 25 Doktorarbeiten sehr merkwürdig vor. Sie hatten weitgehend den gleichen Wortlaut und entsprachen in der Diktion dem Schreibstil von Doktorvater Gundolf Keil. Auf die Urheberschaft des erzkatholischen Professors Keil deuteten auch die seltsamen Datumsangaben in den Dissertationen hin. So hiess es dort "Würzburg, am Tag des Heiligen Abtes Romanus 2002" oder "Würzburg, am Tag vor Lichtmess 2003". Die Doktoranden waren vielfach Ärzte und Zahnärzte aus Norddeutschland, die gar nicht in Würzburg studiert hatten und schon lange im Berufsleben standen.

Nach und nach wurde bekannt, dass ein sogenannter Promotionsberater im Spiel war. Er besorgte Professor Keil diese Doktoranden, welche wohl mit dem Titel Dr. med. ihre Visitenkarte verschönern wollten. Darüberhinaus wurde bekannt, dass dabei Geld geflossen ist. Sowohl der Promotionsberater M. als auch die Doktoranden "spendeten" Beträge zwischen 8.000 und 15.000 Mark an die "Würzburger medizinhistorische Gesellschaft", die allein von Keil verwaltet wurde.

Weil die aushäusigen Doktoranden wenig Zeit hatten, verfertigte Keil mindestens vier Doktorarbeiten praktisch allein. Diese beschäftigten sich thematisch mit einem mittelalterlichen Arzneihandbuch und sind im Aufbau und Text nahezu identisch. Vom Umfang her umfassten sie 30 bis 40 Seiten. Zieht man die ellenlangen Einleitungen, das Quellenverzeichnis und die Danksagung ab, so verblieben für den eigentlichen Text kaum mehr als zehn Seiten. Zumeist war auch dies nur belangloses Geplapper.

Zugute kam Keil eine Promotionsordnung der Fakultät, die eine Richtzahl von maximal 40 Seiten für eine Arbeit zum Dr. med. vorgab. Darin hiess es sogar, dass "der Betreuer der Dissertation Mitarbeiter dieser Arbeit" sein kann.  So war es nicht verwunderlich, dass im Institut für Medizingeschichte Aufzeichnungen des Doktorvaters Keil gefunden wurden, die zum Grossteil mit den eingereichten Dissertationen identisch waren. Da war sogar der Universitätspräsident Alfred Forchel schockiert, als er feststellte: "Ich bin Physiker, da sind Doktorarbeiten hochkarätige Werke".


Halbherzige Sanktionen

Angestossen durch Keils Nachfolger Stolberg, nahm sich im Herbst 2006 die "Ständige Kommission zur Untersuchung wisenschaftlichen Fehlverhaltens" dieser Doktorarbeiten und der dabei geflossenen Spenden an. Ein knappes Jahr später übergab sie der Würzburger Staatsanwaltschaft ihren Untersuchungsbericht. Diese interessierte sich kaum für Form oder Inhalt der Dissertationen, belegte Keil aber mit einen Strafbefehl über 14.400 Euro, weil er nachweislich Geld vom Promotionsvermittler M. angenommen habe. Keil bezahlte ohne Widerspruch. Ein Disziplinarverfahrengegen den Beamten Keil wurde von der Universitätsverwaltung nicht eingeleitet. Die Doktores wurden nicht beschuldigt.

Die begehrte Bedeckung

So wäre die Situation wohl heute noch, wenn nicht im März 2011 eine anonyme Gruppe für Unruhe gesorgt hätte. Sie nannte sich "Freunde des Instituts für die Geschichte der Medizin" und versandte ein 40-seitiges Dossier zu den beschriebenen Vorfällen an Zeitungsredaktionen und Justizbehörden. Darin beschuldigten sie die alma mater, eine regelrechte "universitäre Doktorfabrik" zu betreiben. Die Würzburger Hochschule sah sich nun gezwungen, das Verfahren gegen Keil wieder zu eröffnen.

Mittlerweile war ein weiterer Verdacht aufgekommen. So soll Keil nicht nur Doktorarbeiten, sondern auch Habilitationsarbeiten verkauft haben. Letztere zum höheren Preis von 33.000 Mark. Ja selbst gegen den Lehrstuhlnachfolger Michael Stolberg gibt es nun belastendes Material: gemäss einem von Keil angefertigten "Eigenbeleg" soll Stolberg 16.000 Euro an Keil gezahlt haben, für das "Betreiben meiner Nachfolge". Stolberg selbst bezeichnet diese Anschuldigung als "perfide Fälschung und Verleumdung". Bezichtigungen und Korruptionsverdacht allenthalben.

Nach fast zwei Jahren ist die Universität mit der Aufarbeitung dieses Sumpfes nicht sehr viel weiter gekommen. Ganze zwei Doktortitel wurden bis November 2012 "wegen Plagiats" entzogen, wobei man sich im Fahrwasser der öffentlichkeitswirksamen Fälle Schavan bis Guttenberg bewegte. Die restlichen 248 Fälle - Verjährung ist ja nicht eingetreten - harren noch der Aufarbeitung. Derzeit werden 20 Arbeiten zum Dr. med. genauer überprüft; nach Angaben des Präsidenten Forchel wird das mindestens noch ein Jahr in Anspruch nehmen.

Inzwischen nimmt der numehr 78-jährige Gundolf Keil  sein Recht als Emeritus wahr:
er hält an der Universität Würzburg weiterhin Seminarvorlesungen über Heilpflanzen.



Nachschrift:  Als gebürtigen Franken tut es mir weh, dass die altehrwürdige fränkische Universität Würzburg in diesem Blog so schlecht weg kommt. Deswegen möchte ich hinzufügen, dass die Julius-Maximilians-Universität seit ihrer Gründung immerhin acht Nobelpreisträger hervorgebracht hat, nämlich: Wilhelm Conrad Röntgen, Physik, 1901 -  Emil Fischer, Chemie, 1902 - Eduard Buchner, Chemie, 1907 - Wilhelm Wien, Physik, 1922 - Hans Spemann, Medizin, 1935 - Klaus von Klitzing, Physik, 1985 - Hartmut Michel, Chemie, 1988 - Harald zu Hausen, Medizin, 2008.

Der Medizinhistoriker Gundolf Keil ist also eher ein Ausreisser.

Sonntag, 10. Februar 2013

Schavan II

Nachdem mein Blog "Schavan" von mehreren TV-Kommentatoren zitiert wurde, erlaube ich mir einen zweiten Blog zu diesem Thema. Frau Schavan ist gestern zurückgetreten und hat angekündigt, dass sie gegen den Entzug ihres Dr.-Titels durch die Uni Düsseldorf klagen werde.

Wie könnte am Ende ein rechtsgültiges und für alle Hochschulen verbindliches Urteil aussehen?
Als Nichtjurist - aber Teil des Souveräns - erlaube ich mir folgenden Vorschlag zu machen:

1. Bei erwiesenen Plagiatsfällen, egal welchen Umfangs, darf die Note bis zur Stufe "ausreichend" (rite) erniedrigt werden.

2. Der Doktortitel darf nicht aberkannt werden.
Damit wird die erhebliche Mitschuld von Doktorvater und Co-Referenten für nachlässiges Prüfen der Arbeit nach der Einreichung berücksichtigt.

3. Das gilt rückwirkend für alle anhängige Verfahren
Die Bundesrepublik hat wahrhaftig grössere Probleme, als jahrelang medial durch solche Albernheiten blockiert zu werden.


Firmengeschichten

Das ist die Geschichte über ein eher kleines Grossunternehmen, das es zudem heute gar nicht mehr gibt. Über viele Jahre hinweg hatte diese Firma 30.000 Beschäftigte, machte etwa 10 Milliarden Jahresumsatz und erzielte dabei einen Gewinn von ca. 1 Milliarde Euro. Sie betätigte sich in der Branche Spezialchemie, ihr Name ist: Degussa.
Mehr als jedes andere Unternehmen der deutschen Grossindustrie (IG-Farben, Krupp, Siemens etc.) ist die Degussa durch ihre Zusammenarbeit mit dem Machthabern des sog. Dritten Reichs bekannt und schuldig geworden. Dieser Blog soll einige Aspekte dieser Täterschaft aufgreifen.

Firmengeschichte Nr. 1

Beeindruckend ist der lange, offizielle Name des Unternehmens: "Deutsche Gold- und Silber-Scheide-Anstalt vormals Roessler". Die Sekretärinnen dieser Firma benutzten etwa seit 1943 - aus Zeitersparnis - das Akronym "Degussa", aber erst ab 1980 wurde dies zum offiziellen Firmennamen.

Die Vorläuferfirma der Degussa war die kleine Edelmetallscheiderei von Friedrich Ernst Roessler in der Freien Reichsstadt Frankfurt. Nach der Gründung des Deutschen Zollvereins erhielt sie 1837 den lukrativen Auftrag zur Einschmelzung der Münzen in den vielen deutschen Kleinstaaten und zur Trennung (Scheidung) der Gold- und Silberbestandteile. Als nach der Reichsgründung der Gulden als Währung eingeführt wurde, war die Fa. Roessler bereits zu einem respektablen Unternehmen herangewachsen und konnte sich über viele Staatsaufträge freuen. Daneben verkaufte es mit gutem Gewinn feuerfestes Glanzgold zur Verzierung von Glas und Porzellan.

Schritt für Schritt verbreiterte die frühe Degussa ihre Produktpalette. In Rheinfelden am Oberrhein ging 1898 ein Wasserkraftwerk zur Herstellung von Natrium in Betrieb. Dieses Metall wurde gebraucht zur Herstellung von Natriumcyanid, welches man wiederum zur Auslaugung von Gold aus Erzen einsetzte. Die Arbeiter benutzten (artfremd) das leicht entzündliche Natriummetall zum Anheizen ihrer Öfen, indem sie ein Bröckchen Natrium auf die frischen Kohlen legten und draufspuckten. Wegen der damit verbundenen Unfallgefahr musste die Betriebsleitung dies via Anschlag unterbinden.
Firmenverbot

Weitere Produkte, die sich noch gut verkaufen liessen, waren Textilseifen, das Düngemittel Kalkstickstoff und Karbid zur Herstellung von Cyanamid. Dieses wurde vorallem als Pflanzenschutzmittel gegen Unkräuter und Schadpilze eingesetzt. In der Wasserstoff- und Perboratentwicklung betätigte sich der junge Chemiker Otto Liebknecht, der Sohn des Politikers Wilhelm Liebknecht. Mit der Firma Henkel produzierte man das sagenumwobene "Persil", das angeblich erste selbsttätige Waschmittel.

Die beiden Weltkriege bedeuteten für Degussa zwar gewichtige Einschnitte, aber die längst gefestigte Firma kam dadurch nicht in ernsthafte Schwierigkeiten. Problematisch war der Mangel an Arbeitern und (zwischen 1941 bis 1945) die Bombardierungen der Betriebe. Gute Geschäfte wurden im 2. Weltkrieg mit dem "künstlichen Kautschuk" Buna gemacht, der für die Bereifung der Geschütze und Lastwägen unabdingbar war.

Gehaltsauszahler im Degussa-Werk Frankfurt  (1939)

Nach 1945 sorgte die anlaufende Konjunktur für rasche Fortschritte beim Wiederaufbau der zerstörten Anlagen. Auch das Produktsortiment wurde erweitert. Zu nennen ist die Weiterentwicklung des Plexiglases für Leuchtwerbungen, Fassadenschutz und Möbel. Ein zweiter hochrentabler Werkstoff waren die Polyurethanschäume für Polstermöbel, Autositze und Armaturenbrettern. Durch Firmenzukäufe und Fusionen (Hüls, SKW, Röhm, Stockhausen, Goldschmidt etc.) hatte sich bald ein richtiggehender Stammbaum bei Degussa herausgebildet. Die zentrale Forschung wurde nach Wolfgang bei Hanau ausgelagert, wo sich bereits einige nukleare Beteiligungsbetriebe (Nukem, Alkem) befanden.

All diese Abschnitte der Degussa-Geschichte kann man in einem Hochglanzband von fast 200 Seiten im Detail nachlesen. Er wurde 1988 vom damaligen Vorstandsvorsitzenden Gert Becker herausgegeben und sollte Werbung für sein Unternehmen machen. Das Gegenteil trat ein. Becker wurde von den deutschen, aber auch den internationalen Medien (USA) als Geschichtsklitterer beschimpft, sodass man nach einiger Zeit die Firmenhistorie zurückziehen musste. Insbesondere  wurde daran kritisiert, dass die unheilvollen Verstrickungen seines Unternehmens in die Machenschaften der Nazis in dem Werk kaum erwähnt worden waren. Sein Nachfolger im Vorstand, Uwe-Ernst Bufé, gab deshalb 1997 eine zweite Firmenhistorie in Auftrag. Diesmal sollte sich der amerikanische Geschichtsprofessor Peter Hayes, der bereits eine Abhandlung über das (nach dem Krieg zerschlagene) Grossunternehmen IG-Farben geschrieben hatte, um die Historie der Degussa - insbesondere im 2. Weltkrieg - bemühen.


Firmengeschichte Nr. 2

Hayes´Werk, fast 500 Seiten stark, erschien im Jahr 2004. Es trug den Titel: "Die Degussa im Dritten Reich. Von der Zusammenarbeit zur Mittäterschaft". Im Gegensatz zur ersten Firmengeschichte zeigte sie auch die dunklen Facetten der Degussa. So ging ein grosser Teil des Goldes und Silbers, das man den Juden geraubt, oder von ihren Leichen abgerissen hatte, durch die Schmelzöfen und Scheiderei des Unternehmens. Diese Edelmetalle waren für die Nazis als Zahlungsmittel für die Importe von kriegswichtigen Gütern aus Portugal und der Schweiz schlicht unverzichtbar.

Besonders profitiert hat die Degussa von der "Arisierung" jüdischen Eigentums. Sie übernahm mindestens zehn jüdische Betriebe zu einem "günstigen" Preis. Zu nennen sind Chemieunternehmen in Bonn und Homburg sowie die Auergesellschaft in Berlin. Anfangs wurde noch ein halbwegs fairer Preis bezahlt, aber nach Inkrafttreten der antijüdischen Gestze im Jahr 1938 konnte davon keine Rede mehr sein.

Hayes listete auch auf, dass alle Betriebe der heutigen Degussa im grossen Stil Zwangsarbeiter beschäftigten, ohne die sie ihre Produktionsziele nie hätten erreichen können. Die Unterbringung und Verpflegung dieser Häftlinge genügten häufig nicht einmal einfachsten Standards. Insbesondere Ostarbeiter wurden mit den anstrengendsten und gefährlichsten Arbeiten beauftragt.

Das dunkelste Kapitel der Nazizeit ist zweifellos die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Dies geschah ab Mitte 1942 im "industriellen Masstab" in zahlreichen Konzentrationslagern, vorzugsweise aber in Auschwitz. Die Firma Degussa trägt daran eine historische Schuld als Lieferant des Blausäuresalzes Zyklon B.


Das Vernichtungsgas Zyklon B

Zyklon B war die Bezeichnung für ein Schädlingsbekämpfungsmittel mit dem Wirkstoff Blausäure. Der chemische Name ist Cyanwasserstoff, die Summenformel HCN. Als Insektizid wurde es schon vor dem 1. Weltkrieg von kalifornischen Orangenbauern benutzt. Sie deckten ihre Bäume ab und brachten darunter Cyanwasserstoff zur Vergasung. Doch Vorsicht war geboten: an der Luft verwandelt sich die Verbindung in ein nicht wahrnehmbares Gas, das den Sauerstoffaustausch mit den Körperzellen unterbindet. Atmet ein Mensch nur 70 Milligramm davon ein, so verliert er innerhalb zwei Minuten das Bewusstsein, wird von Krämpfen geschüttelt und stirbt.

Doch es bestand ein Bedarf an diesem Chemikalie. Bei der Schädlingsbekämpfung in Silos, Mühlen und auf Schiffen, aber auch in Kasernen und Barackenlagern, war es sehr wirkungsvoll. Selbst die Soldaten im Schützengraben schätzten es, um der juckenden Läuse, welche Fleckfieber und Typhus übertragen konnten, Herr zu werden. Besser handhabbar wurde der giftige Cyanwasserstoff, als er mit einem Riechstoff versetzt wurde, der die Nutzer warnte, bevor die Blausäure verdampfte. Etwa ab 1938 kamen weitere Stabilisatoren hinzu, z. B. die Bindung an ein Substrat ("Erco-Würfel"), sodass Zyklon B in luftdichten Blechbüchsen verkauft und verschickt werden konnte. Während des Einsatzes von Zyklon B bei der Wehrmacht und bei der - bestimmungsgemässen - Entlausung in Konzentrationslagern ist nur ein einziger Unfall bekann geworden. Da zu dieser Zeit bereits mehrere hundert Tonnen Zyklon B im Umlauf waren, erschien es mit Recht als sicher in der Nutzung.

                                                Zyklon B in Blechdose und auf Substrat

Indes, Zyklon B ist zu einem Synonym für die Technik und Systematik des Holocaust geworden. In den Vernichtungslagern Auschwitz und Birkenau wurde es in grossem Umfang zum Massenmord an den Juden benutzt. Dies konnte nur geschehen, weil die eigentlich nützliche Chemikalie missbraucht worden war.


Organisationen, Personen, Mengen, Kosten

Zyklon B war bereits 1922 von der "Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung" (Degesch) entwickelt worden. Im Jahr 1926 wurde dem Chemiker Walter Heerdt dafür ein Patent erteilt. In den frühen 1940er Jahren wurde die Degesch  von der Degussa (zu 42,5 Prozent), den IG-Farben (42,5 %) und Th. Goldschmidt (15 %) übernommen. Die Betriebsführung - das ist wichtig - lag aber vereinbarungsgemäss bei der Degussa, welche auch die chemische Formel und sonstige patentrechtliche Dinge einbrachte. Mit Degesch verbunden waren die Dessauer Werke für Zucker und Chemische Industrie, welche das Zyklon grossenteils herstellte. Für den Vertrieb des Produkts waren die beiden Degesch-Töchter Tesch und Heli zuständig.

Die verantwortlichen Personen waren ab 1939 bei der Degussa der "charismatische" Vorstandsvorsitzende Hermann Schlosser, bei der Degesch der Generaldirektor Gerhard Peters. Die Vertriebsfirmen leiteten Bruno Tesch und Walter Heerdt. Bis Anfang 1942 wurde das Zyklon B nur als Schädlingsbekämpfungsmittel ausgeliefert, mit entsprechender Kennzeichnung. Danach liess man bei einem Prozent der Produktion den Warnstoff weg. Die KZ-Bewacher verwendeten den Inhalt dieser Büchsen in speziell errichteten Gaskammern zur Ermordung ihrer Häftlinge. Wer hat diese Massnahme veranlasst? Nun, sicherlich war sie gedeckt durch die Beschlüsse der sog. Wannseekonferenz, bei der Adolf Hitler die Vernichtung der Juden befohlen hatte. Über die Umsetzung dieses Befehls bei Degussa/Degesch und den Vertriebsfirmen besteht immer noch Unklarheit. Schlosser stritt vehement ab, davon gewusst zu haben; Gleiches gilt für Peters. Dass die Vertriebsleute, welche sich häufig in den KZs, wie Ausschwitz aufhielten, von der Vergasung der Juden ab Mitte 1942 Kenntnis hatten, ist sehr wahrscheinlich, aber ebenfalls nicht bewiesen.

Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang der SS-Obersturmführer Kurt Gerstein. Er war "Hygienefachmann" der Waffen-SS und sah in Treblinka wie elend Häftlinge umkamen, die mit eingeleiteten Motorgasen erstickt wurden. Angeblich hat er Peters davon überzeugen können, dass die Tötung mit Zyklon B "humaner" sei, da sie schneller und schmerzloser vor sich gehe. Jedenfalls gab es ab 1943 Zyklon-Lieferungen nach Auschwitz, bei denen der Warnstoff fehlte.

In den Jahren 1942 bis 44 verkauften die Firmen Degesch/Testa 6 Tonnen Zyklon B ohne Warnstoff an das Konzentrationlager Auschwitz. Damit konnte man eine Million Menschen töten. Die Verkaufseinnahmen betrugen, gemäss zurückgelassener Buchhaltung, 30.000 Reichsmark; der Unternehmensgewinn wird auf 1.500 RM abgeschätzt. Dies bringt den Historiker Peter Hayes zu folgender Feststellung in seinem Buch: "So schockierend es klingen mag, die hin und wieder geäusserte Vorstellung, dass die Degussa ein Vermögen gemacht hat, indem sie das Mittel zur Ermordung der europäischen Juden bereitstellte, ist absurd".


Die Sühne

Nach Beendigung des 2. Weltkriegs wurde Bruno Tesch, der Leiter der Vertriebsunternehmens Testa, für seine unmittelbare Beteiligung am Holocaust von den Briten in Hameln gehenkt. Ein Militärgericht glaubte ihm nachweisen zu können, dass er sehr wohl wusste, wofür seine Produkte in Ausschwitz verwendet worden waren.

Gerhard Peters, dem Chef der Degesch, ging es vor seinen deutschen Richtern besser. Er musste zwar zehn Gerichtsverfahren durchstehen, worin er zeitweise wegen Beihilfe zu Mord und Totschlag verurteilt worden war, aber er verbrachte insgesamt nur zwei Jahre und acht Monate im Gefängnis. Eine Gesetzesänderung bewirkte, dass er die restlichen 19 Jahre seines Lebens bei guter Pension in Freiheit geniessen durfte. Die finanzielle und personelle Unterstützung der Degussa bei den Verfahren hat massgeblich zu diesem "Freispruch 3. Klasse" beigetragen.

Hermann Schlosser, der Vorstandsvorsitzende der Degussa, seit 1939 Parteimitglied der NSDAP, ausserdem Wehrwirtschaftsführer und Chef der Wirtschaftsgruppe Chemische Industrie, war geradezu empört, als er von der Spruchkammer im Juli 1947 als "Hauptschuldiger" angeklagt wurde. Eine Armada von Degussa-Anwälten erreichte schliesslich seine Einstufung als "Minderbelasteter". In der Degussa-Historie Nr. 1 wird gejubelt, dass dies eine "glänzende moralische Rechtfertigung für Schlosser" gewesen sei. Nur drei Monate später benannte ihn seine Firma als (hochbezahlten) Berater, 1949 trat er wieder dem Vorstand bei und ein Jahr danach war er abermals Vorstandsvorsitzender. Erst als 70-jährigen durfte man ihn 1959 aus diesem Amt verabschieden.

Den Anklagepunkt "Beteiligung an den Judenmorden" wegen seiner Funktionen bei Degussa und Degesch fegten seine Verteidiger geradezu vom Tisch. Sie konnten nachweisen, dass das Thema Zyklon B nie auf der Tagesordnung einer Vorstands- oder Aufsichtsratssitzung gestanden hatte. Der Grund: die Umsätze für dieses Produkt - und ganz besonders die Gewinne - waren viel zu niedrig, um auf dieser hohen Ebene behandelt zu werden.


Hannah Arendt hat recht

Blickt man zurück, so wurden bei den historischen Massenmorden in Auschwitz und anderen Lagern besonders die "Kleinen", wie Bruno Tesch gefasst und verurteilt. Sie waren keineswegs unschuldig und sollten nicht bedauert werden. Die Ranghöheren jedoch, wie Peters, konnten sich herauswinden. Besonders skandalös war das Urteil für den ehemaligen Degussa-Chefs Hermann Schlosser. Dass er nicht wusste, was in seinem Bereich vorging, ist schlechterdings nicht glaubhaft. Absolut empörend ist jedoch, dass er das Argument der geringen Erlöse bei den Massenmorden noch zu seinem Nutzen vorbringen durfte.

Nach Annah Arendt "ein weiterer Beweis für die Banalität des Bösen".


 Nachschrift:  
So um das Jahr 2004 dämmerte es den Managern und Aktionären bei Degussa, dass mit ihrem Unternehmen kein Staat mehr zu machen war. Der gute Ruf in der Öffentlichkeit war dahin. So verkauften sie ihre Aktien an die Ruhrkohle AG. Im September 2007 wurde Degussa von der Börse genommen und in den Konzern Evonik eingegliedert.
Der Firmenname Degussa ist seitdem erloschen.

Sonntag, 3. Februar 2013

Gute Literatur darf alles

Seit Jahren wird in den Medien über die unappetitlichen Missbrauchsfälle an evangelischen und katholischen Schulen berichtet - ohne, dass es bislang zu einer wirklichen Aufklärung gekommen ist. An der Odenwaldschule im hessischen Heppenheim wurde schon Ende der 1990er Jahre bekannt, dass dort Schüler seit 1970 von ihren Lehrern sexuell missbraucht worden waren. Ausgerechnet der (inzwischen verstorbene) Schulleiter Gerold Becker, der als "Reformpädagoge" gepriesen wurde, soll sich dabei hervor getan haben. Die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle wurde nach ihrer Entdeckung zwar vereinbart, kam aber nie wirklich zustande. Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft Darmstadt die Ermittlungen wegen Verjährung eingestellt.

Sexuellen Missbrauch an anvertrauten Kindern gab es auch in praktisch allen 27 Bistümern der katholischen Kirche von Aachen bis Würzburg. Zwar hat Papst Benedict dem deutschen Erzbischof Robert Zollitsch (als Vorsitzenden der Bischofskonferenz) aufgefordert, den "Weg der lückenlosen und zügigen Aufklärung konsequent fortzusetzen", aber in der Zwischenzeit ist auch hier die Aufklärung versandet. Die beiden Beauftragten, der Trierer Bischof Stephan Ackermann und sein weltlicher Counterpart, der Kriminologe Christian Pfeiffer, mussten vor wenigen Wochen eingestehen, dass ihr Projekt zur Dokumentation der üblen Geschehnisse "geplatzt" ist. Ganz offensichtlich sträubt sich bei vielen Menschen die Feder, wenn sie Pädophilie, also den auf Kinder gerichteten Sexualtrieb Erwachsener, beschreiben oder auch nur dokumentieren sollen. Noch mehr angeekelt wären sie vermutlich, wenn sie sich mit Päderasten zu beschäftigen hätten, also Homosexuellen, deren Sexualempfinden besonders auf männliche Jugendliche gerichtet ist.

Vor diesem Hintergrund muss es verwundern, dass es ein literarisches Werk gibt, welches ausgerechnet dieses Genre (Pädophilie, Päderastie) zum Thema hat, welches aber unbestritten der Weltliteratur zugerechnet wird. Es wurde vor genau hundert Jahren, also 1913, verlegt und viele Generationen von Gymnasiasten haben seitdem daran Textanalyse betrieben, nicht selten im Rahmen des Deutsch-Abiturs. Ich will meine Blogleser nicht länger auf die Folter spannen, sondern Ross und Reiter frei nennnen: es ist die Novelle "Der Tod in Venedig" von Thomas Mann. Sie erschien 1911 zunächst als Luxusdruck mit einer Auflage von hundert nummerierten Exemplaren und ab 1913 als Einzeldruck im S. Fischer Verlag.


Décadence in Venedig

Thomas Manns Geschichte vom Tod in Venedig kann man fast in einem einzigen Satz zusammenfassen: Ein älterer Münchener Schriftsteller macht eine Reise nach Venedig, wo er sich in einen polnischen Jungen verliebt und alsbald an Cholera verstirbt. Bei Mann sind es ca. hundertvierzig Druckseiten, sodass ich diese nicht ganz ernst gemeinte Kurzfassung etwas aufweiten möchte.

Anfang Mai 1911 unternimmt der für seine Werke geadelte Schriftsteller Gustav von Aschenbach einen Spaziergang durch den Englischen Garten in München. Dabei kommt ihm die Idee zu einer Reise in den Süden. A. ist verwitwet, sein ganzes Streben ist auf Ruhm ausgerichtet. Seine künstlerischen Leistungen muss er sich allerdings mit viel Selbsdisziplin täglich neu erarbeiten. Von Triest aus reist er per Schiff nach Venedig, wo er sich von einem Gondoliere über die Lagune zum Lido bringen lässt.


                                                     Grandhotel Excelsior am Lido
                                                  (Mehrfach in der Novelle genannt)

Im Hotel sieht A. am Tisch einer polnischen Familie einen langhaarigen Knaben "von vielleicht vierzehn Jahren", der ihm als "vollkommen schön" erscheint. Sein Name ist Tadzio. Mit jedem Tag verfällt der alternde Dichter mehr und mehr dem Anblick des Jünglings. Das 4. Kapitel endet mit dem Eingeständnis, dass er den Knaben liebe. Von Indien kommend erreicht eine Cholera-Epidemie Venedig. Trotz Warnung des Reisebüros beschliesst A. in der Lagunenstadt zu bleiben, um seinem Angebeteten weiterhin nahe zu sein. Allmählich verliert der Schriftsteller alle Selbstachtung. Um Tadzio zu gefallen, lässt A. sich vom Coiffeur des Hotels auf jung schmincken und seine Haare färben. Infiziert durch überreife Erdbeeren stirbt Aschenbach an Cholera, während er Tadzio ein letztes Mal sehnsüchtig am Strand beobachtet. Dabei erscheint es dem Sterbenden, als winke ihm der Knabe von weiten zu und deute mit der anderen Hand hinaus aufs offene Meer. "Und wie so oft machte er sich auf, um ihm zu folgen".


Form vor Inhalt

Vom Inhalt her, und platt gesagt, ist der Tod in Venedig die Geschichte einer obsessiven Knabenliebe. Daneben zelebrierte der Autor, den man unschwer in der Gestalt von Gustav von Aschenbach erkennt, noch sein "Coming-out" als Homoerotiker. (Ehefrau Katia wird das längst geahnt haben, doch wegen ihrer damals bereits geborenen vier Kinder darüber hinweg gesehen haben.) Man muss sich fragen, warum Thomas Mann das Risiko einging, ein so heikles Thema zu bearbeiten. Immerhin war die Ära von Kaiser Wilhelm II in Fragen der Sexualmoral keineswegs liberal sondern eher prüde bis streng. Und, dass die Novelle nicht nur ein Verkaufserfolg bei den Buchhändlern wurde, sondern (bis heute) auch noch als Schullektüre benutzt wird, ist ebenfalls erstaunlich. Wäre Thomas Mann sein Werk nicht gelungen, so hätte er als Päderast dagestanden. Schlimmeres konnte man damals und auch heute - abseits von Antisemitismus - über einen Menschen kaum sagen.

Nun, ein Grund für die sofortige und allgemeine Akzeptanz dieser Novelle ist sicherlich die ausserordentliche Behutsamkeit mit der Mann sein Thema bearbeitet. Im bürgerlich-moralischen Sinne bleibt der Held unversehrt. Aschenbach spricht mit dem schönen Knaben kein einziges Wort, er berührt ihn nicht, ja er nähert sich ihm noch nicht einmal (im Sinne von "stalking").Die ganze Geschichte, das ganze Erlebnis, ist also nur eine erotische Gefühlsausschweifung, eine Gedankenspielerei. Das Leben ein Traum! Und die erotischen Phantasien werden vom Dichter Thomas Mann mit äusserster Kunstanstrengung, garniert mit unverfänglichen Anspielungen auf die griechische Antike, gewissermassen pulverisiert. Im bürgerlich-moralischen Sinne ist das äusserliche Verhalten des Schriftstellers Aschenbach also immer "korrekt". Der Literaturkritiker Alfred Kerr, sonst kein Freund von Thomas Mann, hat dies klar erkannt, wenn er feststellte: "Jedenfalls ist hier die Päderastie annehmbar für den gebildeten Mittelstand gemacht". Und sein Kritikerkollege Carl Busse urteilt: "Ohne Zweifel wird man das Thema peinlich finden, aber man muss bekennen, dass es mit vorbildlicher Zartheit behandelt wurde".

Um zu dieser Überfeinerung des Stils zu kommen, der den Inhalt der Novelle praktisch zweitrangig werden liess, soll Thomas Mann zur Vorbereitung fünf Mal Goethes Roman "Die Wahlverwandschaften" durchgelesen haben, in dem es auch von symbolischen Verweisen nur so wimmelt.

Fürwahr eine gewaltige Anstrengung um die Maxime L´art pour l´art zu erreichen.