Marcel wohnt seit 20 Jahren im bayerischen Unterhaching, sein Vater stammt aus Vietnam, wo der Name Nguyen etwa so verbreitet ist wie Müller, Meier, Schmidt in Deutschland. Nguyen wird wie "Nujen" ausgesprochen, man lässt also einfach das g weg. Der heute 24-jährige wurde schon als Vierjähriger an das Geräteturnen herangeführt. Im Schatten von Fabian Hambüchen und Philipp Boy arbeitete er sich Schritt für Schritt an diese grossen Vorbilder heran. Seit dem Abitur im Jahr 2007 trainiert er in Stuttgart bei dem ehemaligen russischen Weltklasseturner Walerie Belenki, der ihm dort die letzten Feinheiten der Turnkunst vermittelt.
Marcel Nguyen freut sich über seine Silbermedaile
Turnen: ein schwieriger Sport
Turnen ist vorallem deswegen ein schwieriger Sport, weil man gleich an sechs Geräten antreten muss, von denen jedes "sperrig" ist und die zudem untereinander total verschieden sind. Der klassische turnerische Wettkampf ist an folgenden Geräten zu absolvieren: Boden - Seitpferd - Ringe - Sprung - Barren - Reck. Gefürchtet ist insbesondere das Seitpferd. Man kann sich an ihm zwar kaum verletzen, aber bei der geringsten Unachtsamkeit gerät man aus dem Schwung und macht dabei Fehler, die selbst jeder Laie auf den ersten Blick als solche erkennen kann. Ein anderes Problemgerät sind die Ringe, an denen ohne Bärenkräfte nichts geht. Die verschiedenen Hangwaagen, bezeichnenderweise "Christushang" genannt, sind dafür ein Beispiel. Viele schlanke und biegsame Bodenturner kommen mit den Ringen überhaupt nicht zurecht. Der Barren ist vorallem technisch sehr anspruchsvoll, während beim Sprung über einen Tisch Mut und Bewegungsgefühl gefordert ist. (Der Cottbuser Ronny Ziesmer fiel 2004 bei einem kombinierten Doppelsalto rückwärts/vorwärts unglücklich mit dem Kopf auf dem Boden auf und ist seitdem querschnittsgelähmt). Bleibt das Reck, welches als die "Königsdisziplin" gilt. Hier muss die Riesenwelle in verschiedenen Varianten geturnt werden; dazwischen erwartet man von den Besten noch die sogenannten Flugteile oberhalb der Reckstange. Zum Schluss ist ein Mehrfachsalto mit Mehrfach-Twist der angemessene Abgang, wobei man - ohne Wackler - zum sicheren Stand kommen sollte.
Logischerweise muss man für den olympischen Mehrkampf viel mehr trainieren als für ein einzelnes Gerät, wofür es auch Medaillen gibt, die aber in geringerem Ansehen stehen. Der Mehrkampf ist die Krone der turnerischen Disziplinen. In allen Geräten "top" zu sein, verlangt jahrelanges, ausdauerndes Üben.
Nguyen ist der bessere Hambüchen
Da nur zwei Turner je Nation am Mehrkampffinale der Londoner Olpmpiade teilnehmen durften, waren die beiden, bis dahin besten deutschen Turner - Fabian Hambüchen und Philipp Boy - naturgemäss gesetzt. Marcel Nguyen war nur als Drittstärkster eingeordnet. Aber es kam anders. Philipp Boy verletzte sich vor dem Wettkampf beim Einturnen in der Nebenhalle. An seinem Paradegerät, dem Reck, griff er bei einem hochriskanten Flugteil daneben und schlug hart auf dem Boden auf. Er konnte den Wettkampf nicht aufnehmen, sodass Marcel Nguyen in die deutsche Zweiermannschaft kam.
Der Wettkampf lief anfangs nicht gut für Marcel. Am Seitpferd verturnte er die Schere in den Handstand und patzte ausserdem beim Abgang. Damit lag er nach dem ersten Gerät auf dem letzten Platz im Feld der 24 Teilnehmer. Was danach kam war eine grandiose Aufholjagd. An den Ringen turnte er fehlerfrei, beim Sprung machte er nur einen winzigen Sidestep. Als er eine spektakuläre Übung am Reck sicher in den Stand gebracht hatte, wusste er: Das kann etwas werden, eine Medaille ist jetzt drin. Sein Paradegerät, den Barren, turnte er mit Mut und Schwung, sodass nur noch die Bodenübung anstand. Auch hier brachte er die verschiedenen Salti in den sicheren Stand, womit er sich vom 24. auf den 2. Platz vorgearbeitet hatte. Die Silbermedaille im olympischen Mehrkampf gehörte ihm.
Vergleichbares war in der Nachkriegsgeschichte noch keinem deutschen Turner gelungen. Die letzte Mehrkampfmedaille, allerdings in Gold, hatte Alfred Schwarzmann bei der Olympiade 1936 in Berlin gewonnen. Die Goldmedaille in London erhielt der Japaner Kohei Uchimura, der alle sechs Geräte fehlerfrei turnte.
Fabian Hambüchen, der mit grossen Erwartungen in den Wettkampf gegangen war, wurde bitter enttäuscht und war am Ende den Tränen nahe. Auch er hatte einen schweren Patzer am Seitpferd zu beklagen, dazu auch noch am Boden und am Reck, wo er immerhin einmal Weltmeister war. Zum Schluss reichte es bei ihm nur zu Platz 15. Philipp Boy versuchte es nocheinmal im Mannschaftswettbewerb, aber auch dort griff er mehrfach daneben. Nach vier Jahren intensiven Trainings musste er aus London ohne eine einzige Medaille heimfahren. Noch heute leidet er unter Prellungen am ganzen Körper; die Stürze von seinem Lieblingsgerät, dem Reck, haben bei ihm ein Trauma hinterlassen. Mit 25 Jahren denkt er ernsthaft ans Aufhören und die Wiederaufnahme seiner Bankausbildung. Noch vor Weihnachten will er sich entscheiden.
Zur Benotung der Turnübungen
Die Benotung der turnerischen Übungen geschieht durch zwei Gruppen von Kampfrichtern. Die eine Gruppe wertet den Schwierigkeitsgrad der Übung, die andere ist für die Beurteilung der Ausführung, also die Haltung, zuständig. Der D-Wert (für "Difficulty") und der E-Wert (für "Execution") werden zusammengezählt und bilden den endgültigen Notenwert der vorgeführten Übung.
Die Übungsteile sind in Schwierigkeitsstufen eingeteilt. Am Boden bringt beispielsweise ein Hocksalto 0,1 Punkte, ein gestreckter Salto 0,2 und ein Doppelsalto rückwärts mit Dreifachschraube 0,6 Punkte. Von jeder Übung werden die 10 schwierigsten Übungsteile gewertet und aufaddiert. Des weiteren gibt es am Reck noch Bonifikationen, sofern zwei Höchstschwierigkeiten unmittelbar hintereinander geturnt werden. Der D-Wert ist theoretisch nach oben offen. In London brauchte man für den Olympiasieg im Gerätefinale einen D-Wert von rund 7 Punkten.
Nguyen bei der Hangwaage waagrecht
Hangwaage senkrecht (Blogger W.M. 1956)
Beim E-Wert für die Ausführung gehen die Kampfrichter von der "Traumnote" 10,0 aus. Hiervon werden für schlechte Haltung, technische Mängel, zu kurz gehaltene Kraftteile etc. 0,1 bis o,5 Punkte abgezogen. Stürze vom Gerät oder ein verpatzter Abgang werden sogar mit 1 Punkt Abzug bestraft. Taktisch handelt ein Turner also unklug, wenn er einen eben erst gelernten Übungsteil unsauber turnt. In der Praxis ist es besser, einen Übungsteil erst dann im Wettkampf zu zeigen, wenn man ihn auch voll beherrscht. Nehmen wir an, einem Turner werden wegen verschiedener Haltungsmängel 1,8 Punkte abgezogen, so kommt er auf einen E-Wert von 8,2. Zusammen mit dem D-Wert von 7 (siehe oben) ergibt das also eine Gesamtnote von 15,2 Punkten.
Verstanden?
Wenn nicht, dann trösten Sie sich mit dem alten Turnerspruch:
Wenn Turnen einfach wäre, dann hiesse es Fussball.