Sonntag, 25. November 2012

A Star is born

Deutschlands Sportler haben bei der Sommerolympiade 2012 in London 19 Silbermedaillen gewonnen. Wenn mich jemand danach fragen würde, welche dieser Medaillen die wertvollste ist, dann wäre meine Antwort klar: es ist die Silbermedaille im Mehrkampf der Turner, welche Marcel Nguyen errungen hat.

Marcel wohnt seit 20 Jahren im bayerischen Unterhaching, sein Vater stammt aus Vietnam, wo der Name Nguyen etwa so verbreitet ist wie Müller, Meier, Schmidt in Deutschland. Nguyen wird wie "Nujen" ausgesprochen, man lässt also einfach das g weg. Der heute 24-jährige wurde schon als Vierjähriger an das Geräteturnen herangeführt. Im Schatten von Fabian Hambüchen und Philipp Boy arbeitete er sich Schritt für Schritt an diese grossen Vorbilder heran. Seit dem Abitur im Jahr 2007 trainiert er in Stuttgart bei dem ehemaligen russischen Weltklasseturner Walerie Belenki, der ihm dort die letzten Feinheiten der Turnkunst vermittelt.


Marcel Nguyen freut sich über seine Silbermedaile

Turnen: ein schwieriger Sport

Turnen ist vorallem deswegen ein schwieriger Sport, weil man gleich an sechs Geräten antreten muss, von denen jedes "sperrig" ist und die zudem untereinander total verschieden sind. Der klassische turnerische Wettkampf ist an folgenden Geräten zu absolvieren:  Boden - Seitpferd - Ringe - Sprung - Barren - Reck. Gefürchtet ist insbesondere das Seitpferd. Man kann sich an ihm zwar kaum verletzen, aber bei der geringsten Unachtsamkeit gerät man aus dem Schwung und macht dabei Fehler, die selbst jeder Laie auf den ersten Blick als solche erkennen kann. Ein anderes Problemgerät sind die Ringe, an denen ohne Bärenkräfte nichts geht. Die verschiedenen Hangwaagen, bezeichnenderweise "Christushang" genannt, sind dafür ein Beispiel. Viele schlanke und biegsame Bodenturner kommen mit den Ringen überhaupt nicht zurecht. Der Barren ist vorallem technisch sehr anspruchsvoll, während beim Sprung über einen Tisch Mut und Bewegungsgefühl gefordert ist. (Der Cottbuser Ronny Ziesmer fiel 2004 bei einem kombinierten Doppelsalto rückwärts/vorwärts unglücklich mit dem Kopf auf dem Boden auf und ist seitdem querschnittsgelähmt). Bleibt das Reck, welches als die "Königsdisziplin" gilt. Hier muss die Riesenwelle in verschiedenen Varianten geturnt werden; dazwischen erwartet man von den Besten noch die sogenannten Flugteile oberhalb der Reckstange. Zum Schluss ist ein Mehrfachsalto mit Mehrfach-Twist der angemessene Abgang, wobei man - ohne Wackler - zum sicheren Stand kommen sollte.

Logischerweise muss man für den olympischen Mehrkampf viel mehr trainieren als für ein einzelnes Gerät, wofür es auch Medaillen gibt, die aber in geringerem Ansehen stehen. Der Mehrkampf ist die Krone der turnerischen Disziplinen. In allen Geräten "top" zu sein, verlangt jahrelanges, ausdauerndes Üben.

Nguyen ist der bessere Hambüchen

Da nur zwei Turner je Nation am Mehrkampffinale der Londoner Olpmpiade teilnehmen durften, waren die beiden, bis dahin besten deutschen Turner - Fabian Hambüchen und Philipp Boy - naturgemäss gesetzt. Marcel Nguyen war nur als Drittstärkster eingeordnet. Aber es kam anders. Philipp Boy verletzte sich vor dem Wettkampf beim Einturnen in der Nebenhalle. An seinem Paradegerät, dem Reck, griff er bei einem hochriskanten Flugteil daneben und schlug hart auf dem Boden auf. Er konnte den Wettkampf nicht aufnehmen, sodass Marcel Nguyen in die deutsche Zweiermannschaft kam.

Der Wettkampf lief anfangs nicht gut für Marcel. Am Seitpferd verturnte er die Schere in den Handstand und patzte ausserdem beim Abgang. Damit lag er nach dem ersten Gerät auf dem letzten Platz im Feld der 24 Teilnehmer. Was danach kam war eine grandiose Aufholjagd. An den Ringen turnte er fehlerfrei, beim Sprung machte er nur einen winzigen Sidestep. Als er eine spektakuläre Übung am Reck sicher in den Stand gebracht hatte, wusste er: Das kann etwas werden, eine Medaille ist jetzt drin. Sein Paradegerät, den Barren, turnte er mit Mut und Schwung, sodass nur noch die Bodenübung anstand. Auch hier brachte er die verschiedenen Salti in den sicheren Stand, womit er sich vom 24. auf den 2. Platz vorgearbeitet hatte. Die Silbermedaille im olympischen Mehrkampf gehörte ihm.

Vergleichbares war in der Nachkriegsgeschichte noch keinem deutschen Turner gelungen. Die letzte Mehrkampfmedaille, allerdings in Gold, hatte Alfred Schwarzmann bei der Olympiade 1936 in Berlin gewonnen. Die Goldmedaille in London erhielt der Japaner Kohei Uchimura, der alle sechs Geräte fehlerfrei turnte.

Fabian Hambüchen, der mit grossen Erwartungen in den Wettkampf gegangen war, wurde bitter enttäuscht und war am Ende den Tränen nahe. Auch er hatte einen schweren Patzer am Seitpferd zu beklagen, dazu auch noch am Boden und am Reck, wo er immerhin einmal Weltmeister war. Zum Schluss reichte es bei ihm nur zu Platz 15.  Philipp Boy versuchte es nocheinmal im Mannschaftswettbewerb, aber auch dort griff er mehrfach daneben. Nach vier Jahren intensiven Trainings musste er aus London ohne eine einzige Medaille heimfahren. Noch heute leidet er unter Prellungen am ganzen Körper; die Stürze von seinem Lieblingsgerät, dem Reck, haben bei ihm ein Trauma hinterlassen. Mit 25 Jahren denkt er ernsthaft ans Aufhören und die Wiederaufnahme seiner Bankausbildung. Noch vor Weihnachten will er sich entscheiden.

Zur Benotung der Turnübungen

Die Benotung der turnerischen Übungen geschieht durch zwei Gruppen von Kampfrichtern. Die eine Gruppe wertet den Schwierigkeitsgrad der Übung, die andere ist für die Beurteilung der Ausführung, also die Haltung, zuständig. Der D-Wert (für "Difficulty") und der E-Wert (für "Execution") werden zusammengezählt und bilden den endgültigen Notenwert der vorgeführten Übung.

Die Übungsteile sind in Schwierigkeitsstufen eingeteilt. Am Boden bringt beispielsweise ein Hocksalto 0,1 Punkte, ein gestreckter Salto 0,2 und ein Doppelsalto rückwärts mit Dreifachschraube 0,6 Punkte. Von jeder Übung werden die 10 schwierigsten Übungsteile gewertet und aufaddiert. Des weiteren gibt es am Reck noch Bonifikationen, sofern zwei Höchstschwierigkeiten unmittelbar hintereinander geturnt werden. Der D-Wert ist theoretisch nach oben offen. In London brauchte man für den Olympiasieg im Gerätefinale einen D-Wert von rund 7 Punkten.




Nguyen bei der Hangwaage waagrecht


Hangwaage senkrecht (Blogger W.M. 1956)

Beim E-Wert für die Ausführung gehen die Kampfrichter von der "Traumnote" 10,0 aus. Hiervon werden für schlechte Haltung, technische Mängel, zu kurz gehaltene Kraftteile etc. 0,1 bis o,5 Punkte abgezogen. Stürze vom Gerät oder ein verpatzter Abgang werden sogar mit 1 Punkt Abzug bestraft. Taktisch handelt ein Turner also unklug, wenn er einen eben erst gelernten Übungsteil unsauber turnt. In der Praxis ist es besser, einen Übungsteil erst dann im Wettkampf zu zeigen, wenn man ihn auch voll beherrscht. Nehmen wir an, einem Turner werden wegen verschiedener Haltungsmängel 1,8 Punkte abgezogen, so kommt er auf einen E-Wert von 8,2. Zusammen mit dem D-Wert von 7 (siehe oben) ergibt das also eine Gesamtnote von 15,2 Punkten.

Verstanden?
Wenn nicht, dann trösten Sie sich mit dem alten Turnerspruch:
Wenn Turnen einfach wäre, dann hiesse es Fussball.

Sonntag, 18. November 2012

Dr. Helmut Schmieder †

Liebe Angehörige,
verehrte Trauergemeinde.

Helmut Schmieder gehörte zu unserem Freundeskreis auf der Insel Rott. Regelmässig konnte man ihn am Donnerstag mittag inmitten seiner Freunde dort antreffen. Er war einer der Mitbegründer dieses Kreises; er hielt ihn zusammen, mit der Kraft seiner Persönlichkeit.

In Rott werden seit jeher Dinge besprochen, die sich im 20 Kilometer entfernten Kernforschungszentrum ereignen. Als Ruheständler hat man den zeitlichen Abstand und die Gelassenheit um Vorfälle und Forschungsprogramme des FZK einzuordnen - sine ira et studio.

Bemerkenswert an Helmut war seine starke Bindung an das Institut für Heisse Chemie. Zu den Institutsleitern Baumgärtner, Ebert und Dinjus pflegte er vertrauensvolle Kontakte; für Franz Baumgärtner schien er das alter ego zu sein. Die Mitglieder und Kollegen des Instituts konnten sich in allen fachlichen, aber auch persönlichen, Fragen an Helmut wenden. Er war ihnen stets ein hilfsbereiter Kollege und Freund.
Dr. Helmut Schmieder (1935 - 2012)

Aus meiner Zeit als Projektleiter für den Schnellen Brüter weiss ich, dass Helmut technische und terminliche  Abmachungen punktgenau einhielt - auch wenn es ihm gelegentlich schwerfallen mochte. Wegen dieser Verlässlichkeit stand er auch bei Industriefirmen wie der DWK, der KEWA oder der Firma Alkem in Hanau, in grossem Ansehen. Bei internationalen Konferenzen konnte man beobachten, wie sich prominente Fachkollegen aus Russland, Japan und den USA um Helmut scharten, um seinen fachlichen Rat zu teilen.

Als Ruheständler auf der Insel Rott mussten wir miterleben, wie unsere jahrelangen Bemühungen um die von uns favorisierte Energietechnik durch politische Entscheidungen zunichte gemacht wurden. Helmut stemmte sich dagegen, unter anderem durch eine Vielzahl öffentlicher Vorträge, bei denen sein umfassendes Wissen auf dem Gebiet der Kernenergie zum Ausdruck kam.

Die allwöchentlichen Treffen auf Rott erlauben uns, bei entspannten Gesprächen zur Mittagsstunde, die vielfältigen Ereignisse im eigenen, abgelaufenen Berufsleben neu zu sortieren und einzuordnen. Bei mancher Wegmarke hatten wir die Möglichkeit so oder anders abzubiegen; aber viele Entscheidungen wurden uns von aussen, gewissermassen vom Schicksal, unabweisbar aufgeprägt. Helmut hat dies in seinem eigenen Fachgebiet - Stichwort Wiederaufarbeitung - zur Genüge erfahren müssen.


Letzter Gruss

Dann kam die Krankheit. Sie traf Helmut mit Wucht und hat ihn von Anbeginn sichtbar gehandicappt. Seinen geliebten Tennissport musste er von heute auf morgen aufgeben; schifahren, worin er ein Meister gewesen, war nicht mehr möglich. Bei unseren Besuchen in seiner Wohnung mussten wir mitansehen, wie sich sein körperlicher Zustand von mal zu mal verschlimmerte. Der Tod kam ihm schliesslich als Freund.

Wir werden die Erinnerung an Dich, lieber Helmut, in unserem Herzen bewahren.

(Willy Marth)

Sonntag, 11. November 2012

Was Gorleben mit Shakespeare gemeinsam hat

Die Endlagerung des hochradioaktiven Abfalls aus Kernbrennstoffen ist ein Problem, das gegenwärtig (wieder einmal) vom Bundesumweltminister Peter Altmaier und dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann angegangen wird. Längst ist bekannt, dass dafür eigentlich nur die Salzlagerstätten in Niedersachsen, die Tonschichten in Baden-Württemberg und die Granitvorkommen in Bayern in Frage kommen. Stellen wir uns einen Augenblick lang vor, Politik und Wissenschaft hätten sich auf den Endlagerstandort Gorleben geeinigt - Analoges gilt für die beiden anderen Standorte - dann ist es intellektuell reizvoll sich zu überlegen, wie die Endlagerdiskussion in 500 Jahren, also im Jahr 2500 geführt werden würde - und ob es überhaupt noch eine gäbe.

Gorleben im Jahr 2500

Vor der Einlagerung in Gorleben müsste man die Entscheidung treffen, ob die Abfälle dauerhaft in tausend Meter Tiefe deponiert werden sollen, oder ob man sie gegebenefalls wieder vorzeitig zurückholen möchte. Die derzeitige Tendenz geht in Richtung "final storage", also auf Verzicht der Option Rückholung. Vor der Tiefenlagerung müssen die Kernbrennstoffe bzw. Brennelemente der stillgelegten Kernkraftwerke ca. 50 Jahre lang abklingen und abkühlen. Die Deponierung könnte also um das Jahr 2050 beginnen und wäre vermutlich zur Jahrhundertwende, um 2100, abgeschlossen.

Am Standort Gorleben wären dann an der Oberfläche nur noch die Infrastrukturanlagen sichtbar, wie Verpackungsmaschinen, Lagerhallen und natürlich der Förderturm für den vorherigen Schachtbetrieb. Es würde mich nicht wundern, wenn man dann im nächsten Jahrhundert, also zwischen 2100 und 2200 diese überflüssig gewordenen Betriebseinrichtungen abbauen würde, so wie das auch Ruhrgebiet mit den Schachtanlagen und Fördertürmen geschehen ist. Bald könnten über dem Salzdom also wieder die Schafe und Rinder weiden.

Doch wie steht es mit der Erinnerung der Menschen an das "Endlagerproblem Gorleben"? Da die Kerntechnik in Deutschland im Gefolge von Fukushima im Sommer 2011 aus politischen Gründen abgeschafft wurde, wird der Bestand an Fachleuten auf diesem Gebiet immer dünner werden. Zum Jahrhundertende 2100 hin werden wohl die allermeisten in Rente gegangen sein, bzw. nicht mehr leben. Sie hinterlassen sicherlich eine Menge an technischen Papieren, aber es ist fraglich, ob die Nachkommen etwas damit anfangen können.

In den nachfolgenden Jahrhunderten, spätestens aber bis zum Jahr 2500, werden alle Datenträger bis zur Unleserlichkeit zerstört sein. Die Papierunterlagen verrotten und werden durch die eigene Säure zerstört; die Magnetbänder und digitalen Datenträger werden noch früher unbrauchbar. Fachleute, welche zum Gebiet der Endlagerung Auskunft geben könnten, stehen - siehe oben - nicht mehr zur Verfügung. Die kollektive Erinnerung an den gefährlichen Abfall in der Tiefe wird mehr und mehr abnehmen, ein Risiko wird damit nicht mehr verbunden. Vielleicht werden in 500 Jahren feudale Villen dort gebaut, wo früher die Brennelemente oberirdisch gelagert wurden.

Stammt der Hamlet von Shakespeare?

Dass viel Wissen und viele Fakten in der relativ kurzen Zeit von 500 Jahren "verschütt" gehen können, beweist die anhaltende Diskussion um den grössten englischen Schriftsteller William Shakespeare. Er lebte von 1564 bis 1616 n. Chr. und ihm werden 36 Theaterstücke (14 Komödien, 12 Tragödien und 10 Historiendramen) zugeschrieben, die bis heute noch auf allen Bühnen der Welt gespielt werden. Darüberhinaus verfasste er einige hundert Sonette von allerhöchster literarischer Güte .



William Shakespeare

Trotzdem, immer wieder kommen Zweifel auf, ob dieser "Landlümmel aus dem Drecksnest Stratford-upon-Avon" (Kritiker Alfred Kerr) wirklich sowas allein gemacht haben kann. Vor einigen Jahren hat der deutsche Regisseur Roland Emmerich diese Zweifel zu einem Kinofilm mit dem Titel "Anonymus" verarbeitet, was die Shakespeare-Gemeinde in grosse Unruhe versetzte.

Emmerich fragt beispielsweise, wie es möglich ist, dass in den letzten 500 Jahren kein einziges Manuskript des Dichters gefunden wurde, ja nicht einmal ein einziger Brief, obwohl Shakespeare normalerweise eine Menge Korrespondenz hätte führen müssen. Oder: wie Shakespeare als Kind illiterater Eltern - und nicht der englischen Oberschicht angehörend - so viel über die Lebensweise der Adeligen, Könige und Königinnen bei Hofe wissen konnte. Oder: Woher er als blosser Grundschüler sein umfangreiches Wissen in Medizin, Astronomie, Musik und Rechtswissenschaft hatte. Oder: Warum Shakespeare sich als Endvierziger in seinen Geburtsort zurückzog und nie wieder geschrieben hat, nicht einmal ein kurzes Gedicht. Oder: Warum Shakespeare in seinem Testament kein einziges seiner Bücher erwähnte, dafür aber sein zweitbestes Bett.

Das sind Fragen über Fragen, die mehr als stutzig machen und die auch Emmerich in seinem Film nicht schlüssig beantworten konnte. Trotzdem schlägt er den 17. Grafen von Oxford als den eigentlichen Verfasser der dichterischen Werke vor.  Shakespeare war, nach seiner Meinung, nur der Ghostwriter bzw. der Namensgeber. Nun streiten sich unerbittlich zwei Lager: die Oxfordians auf der einen, die Stratfordians auf der anderen Seite. Erstere unterstützen die Thesen von Anonymus, während letztere Shakespeare aus Stratford verteidigen.

Bei aller Verschiedenheiten der Thematik gibt es zwischen Gorleben und Shakespeare gewisse Ähnlichkeiten. 500 Jahre sind eine lange Zeit, viel zu lange für die Mund-zu-Mund-Überlieferung. Wenn die Dokumente, aus welchen Gründen auch immer, verloren gehen, dann fehlt auch das Wissen über diese Zeit und ihre Menschen - und es fehlen die harten Beweise.

Wie kann man dann erwarten, dass menschliches Wissen über tausende oder gar hunderttausende von Jahren bewahrt werden kann - wie die Kombattanten in der Endlagerfrage dies zuweilen fordern oder gar behaupten?!

Donnerstag, 1. November 2012

Bei KIT knirscht es

Der 15. Juni 2012 bleibt allen Studenten und Mitarbeitern des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) in böser Erinnerung. An diesem Tag verlor das KIT beim bundesweiten Wettbewerb der Exzellenzinitiative seinen schönen Titel "Elite-Universität", worauf es bisher mit Recht sehr stolz war. Die Forschungsprogramme in der Nanotechnik und in der Informatik erschienen den Gutachtern zu leichtgewichtig und sie liessen das KIT durchfallen. Die Studentenvertreter sprachen vom "Todesstoss für das KIT" was wohl leicht übertrieben war; aber ein grosser Verlust an Image und Renommee ist mit diesem Abstieg in die niederen akademischen Ebenen sicherlich verbunden.


Grosse Finanzprobleme

Die "Iden des Juni", um eine altrömische Metapher leicht zu variieren, haben starke negative Auswirkungen auf die Finanzen des KIT, insbesondere im Bereich der früheren Universität. Ein prekäre Lage ist dort im wesentlichen aus drei Gründen entstanden: weil fest eingeplante Gelder aus der Exzellenzinitiative ausbleiben, weil wegen des Doppelabiturs G8/G9 ein Studentenberg an die Hochschule anrollt und weil das Land Baden-Württemberg als Hauptfinanzier des universitären Bereichs derzeit finanziell sehr klamm ist.

Durch die Niederlage im Exzellenz-Wettbewerb entgehen dem KIT, verteilt auf fünf Jahre, mindestens 60 bis 80 Millionen Euro. Der unmittelbare Schlag wird etwas gemildert durch eine Auslauffinanzierung, welche bis 2014 anhält. Das nun entstandene Geldproblem hat viel zu tun mit dem Schuldenberg des Landes Baden-Württemberg, welches seit Jahren bei allen Hochschulen die Finanzmittel eingefroren hat. Das Land gewährt (ausser beim durchfinanziertem Stellenpersonal)  dem KIT keinen Zuwachs bei den Finanzmitteln mehr - trotz steigender Kosten.

Der Finanzchef Ulrich Breuer hat dem KIT deshalb einen rigiden Sparplan verschrieben. Organisatorische Doppelstrukturen am Forschungszentrum und an der Uni sollen zusammengelegt werden. Dies betrifft u. a. die Einkäuferteams und die Alarmzentralen. Frei werdende Arbeitsplätze sollen nicht mehr, oder nur noch in Ausnahmefällen, wiederbesetzt werden. Die "personelle Verschlankung" soll in einem Personalzielplan festgelegt werden. Im Uni-Bereich wird die sog. Budgetierung eingeführt. Die Professoren müssen also in Zukunft ihre Aufwendungen für Rechner, Strom, Maschinen etc. besser im Blick behalten und aus dem eigenen Institutsbudget bezahlen. Auch das Grossinstitut für Nanotechnik wird sich auf Mittelkürzungen einzustellen haben, was nach der Fehlleistung beim Exzellenzwettbewerb durchaus verständlich ist.

Die Landesregierung sendet in letzter Zeit vermehrt Hilferufe an den Bund. Bildungsministerin Annette Schavan soll einen Beitrag leisten bei der Finanzierung der Landesuniversitäten. Aber dies ist seit der Föderalismusreform im Jahr 2006 geradezu ausgeschlossen. Ein dediziertes Kooperationsverbot in der Verfassung gestattet keine Co-Finanzierungen des Bundes. Möglicherweise wäre Berlin (nach einer entsprechenden Verfassungsänderung) bereit, einige Universitäten - wie das KIT - als Bundesuniversitäten unter ihre Obhut zu nehmen. Aber hier zögern die Länder noch. Sie möchten auch ihre Kindergärten und Gesamtschulen finanziert haben, wozu der Bund aber nicht bereit ist. So wird die Finanzmisere der Länder sicherlich noch bis nach der nächsten Bundestagswahl anhalten.


Arme Hiwi

Objektiv betrachtet, erscheint das KIT gar nicht so arm zu sein. Es verfügte im abgelaufenen Jahr 2011 über einen Jahresetat von knapp 800 Millionen Euro, etwa gleich verteilt auf die Bereiche Universität (397 Mio Euro) und Forschungszentrum (392). Darin sind die von aussen eingeworbenen Drittmittel eingerechnet, deren Gemeinkostensatz von 20 Prozent allerdings kaum kostendeckend ist.

Vor diesem Hintergrund ist es unverständlich, dass Hiwi, welche an der Universität jobben, monatelang kein Geld für ihre Arbeit bekommen, bzw. nur abschlagsweise. Über "griechische Verhältnisse" lästern die Studentenvertreter und die Lokalzeitung BNN fragt: "Geht dem KIT das Geld aus?" Nun, an der Liquidität soll es beim KIT nicht mangeln, vordergründig sollen es Probleme mit den neuen Computerprogrammen sein, welche den rund 1000 Studenten ihren Lohn vorenthalten. Und dieser ist bescheiden genug: 320 Euro verdient ein Bachelor-Student, wenn er 40 Stunden monatlich als Hilfswissenschaftler an der Uni werkelt. Da aber der Durchschnittsstudent nur 750 Euro im Monat zur Verfügung hat, ist der Hiwi-Verdienst  wiederum auch nicht marginal. Der Personalrat des KIT mutmasst, dass es zu wenige Sachbearbeiter gibt für die Bearbeitung der Hiwi-Verträge; offensichtlich ist die Verwaltung des KIT bereits jetzt zu "schlank". Die zuständige Vizepräsidentin Elke Luise Barnstedt rechnet mit einer Normalisierung der Auszahlungen erst zum Jahresende!

Dass beim KIT allenthalben gespart werden muss, merkt man auch bei den Veranstaltungen "Junge Talente". Die beliebten Treffen mit Vortrags- und Musikdarbietungen sind neuerdings kostenpflichtig und die Bretzeln samt Getränk zum Schluss sind auch gestrichen. Die Managerin, Frau Tatubaeva, wird sich künftig auf weniger Publikum einstellen müssen.


KIT als Dienstherr

Ab 1. Januar 2013 bricht bei KIT eine neue Ära an: das KIT wird Dienstherr und Arbeitgeber. Im sog. Zweiten KIT-Gesetz soll dies geregelt werden. Die wichtigste Konsequenz aus der Dienstherrenfähigkeit ist der damit einhergehende Wechsel vom Arbeitgeber Land zum Arbeitgeber KIT. Das Präsidium informiert alle Beschäftigte persönlich per Einschreiben. Gegen diese "Überleitung" können die Beschäftigten innerhalb von drei Monaten Einspruch einlegen; sie verbleiben dann im bisherigen Dienstverhältnis. Die richtige Entscheidung zu treffen ist nicht trivial, jedenfalls sah sich der Personalrat bei einer kürzlichen Versammlung nicht in der Lage Empfehlungen für die Beschäftigten des ehemaligen Forschungszentrums abzugeben.

In der Hauszeitschrift KIT-Dialog klingt Skepsis durch, wenn man  dort liest: "Die Beschlüsse zur Harmonisierung hinterlassen eher gemischte Gefühle. Als Vergütungsgrundlage für den Universitäts- und den Forschungsbereich soll nämlich nicht der - auch vom KIT-Präsidium favorisierte - bundesbezogene Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst (TVöD) gelten, sondern der weniger vorteilhafte länderbezogene TV-L. Begründet wird diese, wenn man so will, Anpassung nach unten, mit dem aktuell angespannten Budget des KIT - ein haushälterisch nachvollziehbares, für die Motivationslage eines KIT-Beschäftigten freilich ziemlich knöchernes Argument."

Mancher (jüngere) KIT-MItarbeiter macht sich so seine Gedanken darüber, was wohl bei einem "organisatorischen GAU" passieren würde, etwa wenn das KIT stark verkleinert oder gar bankrott gehen würde. Dazu hat das Wissenschaftsministerium des Landes (Zitat Barnstedt) folgendes mitgeteilt: "Es geht bei der Frage der Haftung nicht um Insolvenz, sondern, wenn überhaupt, um unvorhergesehene Probleme. Das Land wird das KIT im Falle grösserer Schwierigkeiten nicht alleine lassen. Das ergibt sich schon daraus, dass das künftige KIT ein Teil der sogenannten "mittelbaren Landesverwaltung" ist". -  Irgendwie pflaumenweich.

Aktive und emeritierte Professoren sowie Beamte werden ab dem 1. Januar 2013 zum Dienstherrn KIT übergehen. Bereits pensionierte Professoren und Beamte bleiben solche des Landes Baden-Württemberg. Mit dem Übergang zum KIT ist zum Teil ein Wechsel im Namenszusatz verbunden. Beamte heissen dann nicht mehr "Regierungsbeamte" sondern "Verwaltungsbeamte". Die Änderung ergibt sich daraus, weil diese Beamten nicht mehr der Landesregierung unmittelbar zugeordnet sind, sondern nur noch der sogenannten mittelbaren Landesverwaltung. - Beamte 2. Klasse?


Die organisatorische Struktur wird gesucht

Derzeit wird unter Hochdruck eine neue organisatorische Struktur für das KIT gesucht. Den Ministerien in Stuttgart und Berlin ist die bisherige Struktur einerseits zu komplex, andererseits zu wenig integriert. So gibt es Programme nur im Forschungszentrum, Fakultäten nur an der Universität. Der Austausch des wissenschaftlichen Know-how zwischen Nord und Süd  ist noch ungenügend. In die Lehre an der Uni sind die Nord-Wissenschaftler zu wenig integriert. Ein neues, überzeugendes Organigramm soll also her, u. zw. bis zur nächsten Aufsichtsratssitzung am 5. November 2012.

Damit beauftragt ist der Senat mit seinen 58 Mitgliedern. Er nennt sich gerne das "Parlament des KIT", hat aber den organisatorischen Schönheitsfehler, dass er vom Präsidium geleitet wird, also nicht eigenständig (wie der frühere wissenschaftliche Rat am Kernforschungszentrum) agieren kann. Immerhin hat er eine Reihe von Vorschlägen zur Neustrukturierung des KIT gemacht, von denen hier einige vorgestellt werden sollen. Der Entscheidungsprozess ist noch im Gange.

Die neue Struktur des KIT orientiert sich an der seit Jahrzehnten bewährten Matrixstruktur im Forschungszentrum. Es soll fünf bis sechs (senkrechte) Bereiche geben, die beim FZK den sog. Projekten entsprachen. In der Matrixdarstellung waagrecht dazu verlaufen die Forschungs- und Lehreinheiten. Jedem Institut ist ein Bereich zugeordnet. Heftig diskutiert wird, ob die Bereiche eher nach Disziplinen (wie Mathematik, Physik, Chemie...) oder nach Forschungsthemen (wie Energie, Klima, Mobilität...) benannt werden sollen. Die Bereiche werden geleitet von Chief Science Officers, abgekürzt CSO, entsprechend den früheren Projektleitern. In der Diskussion ist noch, ob die CSO gegenüber den Institutsleitern Vorgesetztenfunktion haben sollen. Für die Koordination der Lehre gibt es einen Chief Higher Education Officer (CHEO); kommissarisch ist, nach Hipplers Weggang, dafür der Maschinenbauprofessor Alexander Wanner benannt.

Die Fakultäten, welche sich bislang sowohl um die Lehre als auch um die Forschung kümmerten, sollen künftig ausschliesslich für die Lehre zuständig sein, allerdings unter neuer Namensbezeichnung. Statt Fakultäten soll es in Zukunft nur noch Fachbereiche geben. Aus dem Fakultätsrat wird der Fachbereichsrat und - aufgemerkt! - die traditionsumrankten Dekane sollen entfallen. Sie werden zukünftig zu Fachbereichssprechern. Klingt ein bisschen nach Kaufhaus und Supermarkt, weswegen über diesen Vorschlag auch noch heftig gestritten wird.

Angesichts der doppelten Abiturjahrgänge, welche jetzt auf das KIT zukommen, will man die Wissenschaftler von Campus Nord stärker in die Lehre einspannen. Gedacht ist vorallem an promovierte Gruppenleiter, die - nach externer Begutachtung -  als KIT Associate Fellows an die Lehre herangeführt werden sollen und beispielsweise bei Promotionsverfahren als Referenten mitwirken können.


Ein Brief an den Präsidenten

Vor einigen Wochen erreichte Professor Eberhard Umbach ein Brief, den der Präsident des KIT vermutlich nur mit spitzen Fingern angefasst hat. Der frühere Betriebsratsvorsitzende des Forschungszentrums monierte, dass der ehemalige Geschäftsführer des Kernforschungszentrums, Dr. Rudolf Greifeld, immer noch in der Liste der 182 Ehrensenatoren des KIT bzw. der früheren Universität geführt wird. Angeblich war Greifeld als SS-Kriegsverwaltungsrat während des 2. Weltkriegs auch Kommandant von Gross-Paris. Bei seinem Ausscheiden 1976 wurde er wegen seiner grossen Verdienste um den Aufbau des Forschungszentrum mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Inzwischen findet sich Greifelds Name nicht mehr in der KIT-Liste der Ehrensenatoren - sehr wohl aber noch in der entsprechenden Wikipedia-Liste.





 

 

















Impressum

Angaben gemäß § 5 TMG:

Dr. Willy Marth
Im Eichbäumle 19
76139 Karlsruhe

Telefon: +49 (0) 721 683234

E-Mail: willy.marth -at- t-online.de