Geistlicher Beistand
In der darauffolgenden Woche beauftragte die Regierung zwei Kommissionen mit der Klärung technischer und ethischer Fragen. Die Reaktorsicherheitskommission (RSK) überprüfte mit rund 100 Fachleuten in wenigen Wochen die 17 deutschen Atomkraftwerke. Im Fokus stand der "worst case", das Zusammentreffen mehrere Unglücke wie in Japan, etwa ein Erdbeben und eine Sturmflut. Die RSK kam zu dem Ergebnis, dass die Kernkraftwerke in Deutschland besser als in Japan gegen etwaige Unglücksfälle gewappnet sind. Fündig wurde man allerdings beim Risikogebiet Flugzeugabsturz. Manche Altmeiler, wie Philippsburg I, können offensichtlich dem Aufprall eines grossen Verkehrsflugzeig mit anschliessendem Kerosinbrand nicht standhalten. Aber das war bereits seit Jahren bekannt und ist international nicht anders.
Die von Merkel und Umweltminister Röttgen handverlesene Ethikkommission bestand aus 17 Ratgebern. Darunter waren drei Kirchenvertreter, drei Risikoforscher und Philosophen sowie vier Wissenschaftler der Richtung Umwelt. Die deutsche Wirtschaft, die am Ende alles finanzieren und möglich machen muss, war nur mit einem Manager vertreten (Hambrecht, BASF). Zum Leiter der Ethikkommission wurde der frühere Umweltminister Klaus Töpfer ernennt.
Die Ethikkommission legte ihren 48-Seiten-Bericht Ende Mai vor, worin sie den "schnellstmöglichen Ausstieg" aus der Kernenergie empfahl. Die acht Reaktoren des Moratoriums sollten nicht mehr ans Netz gehen und die restlichen neun innerhalb der nächsten zehn Jahre abgeschaltet werden. Bei der Endlagerung der hochradioaktiven Abfälle riet die Kommission zu Konzepten, die eine spätere Rückholbarkeit des Abfalls ermöglichen. Des weiteren sollte ausserhalb von Gorleben nach alternativen Lagerorten gesucht werden.
Schwarz-gelber Atomausstieg 2011
In den letzten zehn Jahren wurde drei Mal - mehr oder weniger konsensual - aus der Kernenergie ausgestiegen. Für das gemeine Publikum ist das einigermassen verwirrend. Ich beginne mit den Hauptdaten des derzeit gültigen Atomausstiegs.
Die Restlaufzeiten (bzw. die Abschaltung) der 17 deutschen Kernkraftwerke orientieren sich an folgender Tabelle:
1. Biblis A: bis: Juni 2011
2. Neckarwestheim 1: bis: Juni 2011
3. Biblis B: bis Juni 2011
4. Brunsbüttel: bis: Juni 2011
5. Isar 1: bis: Juni 2011
6. Unterweser: bis: Juni 2011
7. Philippsburg 1: bis: Juni 2011
8. Krümmel: bis: Juni 2011
9. Grafenrheinfeld: bis: Anfang 2015
10. Gundremmingen B: bis: Anfang 2016
11. Gundremmingen C: bis: Ende 2016
12. Grohnde bis: Ende 2017
13. Philippsburg 2 bis: April 2017
14. Brockdorf bis: Anfang 2018
15. Isar 2 bis: Anfang 2020
16. Emsland bis: Ende 2020
17. Neckarwestheim 2: bis: Ende 2021
Drei Alternativen zu obiger Tabelle sind in der Diskussion:
a. Bei den sofort abzuschaltenden Kraftwerken 1 bis 8 soll eines bis 2013 in "Kaltreserve" d. h. Standby, gehalten werden, um eine Reserve für kalte Winter zu haben. Man spricht von Philippsburg 1 oder Biblis B.
b. Falls aus Versorgungsgründen erforderlich, sollen die drei jüngsten KKW der zweiten Gruppe ein Jahr länger, also bis 2022 weiter betrieben werden.
c. Da die Energieversorgungsunternehmen RWE und Eon gegen dieses Ausstiegsszenario und die Brennelementesteuer Klage einreichen wollen, ist - als Entgegenkommen der Bundesregierung - eine gleichzeitige Abschaltung der KKW 9 bis 17 im Jahr 2021 in der Diskussion.
Beim Endlager soll der Salzstock Gorleben weiter erkundet werden. Zusätzlich will man auch andere endlagerfähige Erdformationen untersuchen. Auch weitere Endlageroptionen, z. B. die direkte Endlagerung mit der Möglichkeit zur Rückholung der Abfälle, sollen betrachtet werden.
Konsequenzen, Risiken, Chancen
Bei aller Skepsis vor Superlativen: die Entscheidung zum schnellen und kompletten Ausstieg aus der Kernenergie kann man getrost "historisch" nennen. Sie war nur möglich, weil alle politischen Parteien und ein Grossteil der Bevölkerung - sowie fast alle Medien - Deutschland nach Fukushima ebenfalls am Rande einer nationalen Nuklearkatastrophe wähnte. Umfragen ergaben, dass dieser Ausstieg von einer grossen Mehrheit der Deutschen getragen wird. Trotzdem: auch wenn er Chancen bietet, er ist nicht risikolos. Die ersten kritischen Stimmen sind bereits zu hören. Immer wieder klingen Zweifel an über die Versorgungssicherheit und die Wirtschaftlichkeit für die Zeit danach.
Unruhe verbreitet sich bei der Industrie, welche fast die Hälfte des Stroms verbraucht. Insbesondere die energieintensiven Industriebranchen, wie Aluminium, Papier, Glas bis hin zur Chemie ist in Sorge. Die sicherlich nicht atomfreundliche Ministerpräsidentin Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen fürchtet bereits die schleichende Deindustrialisierung ihres Landes, indem solche Firmen nach Frankreich abwandern, wo es billigen Atomstrom gibt. Die Bundesregierung will entgegenwirken, indem sie Steuererleichterungen in Aussicht stellt, was natürlich das Geld der Bürger kostet,
Die privaten Stromverbraucher, die etwa ein Viertel der Elektrizität abnehmen, werden künftige Strompreiserhöhungen besonders hart spüren. Die Regierung wiegelt bereits ab und spricht nur von durchschnittlich einem Cent pro Kilowattstunde, Wirtschaftsinstitute, indes, kommen bei ihren Berechnungen bis auf vier Cent. Wer die Musik bestellt, muss sie eben bezahlen.
Eindeutige Verlierer der Energiewende sind die grossen Stromversorger RWE, Eon, EnBW und Vattenfall. Sie verlieren mit ihren abgeschriebenen Kernkraftwerken die "Gewinnmacher" in ihren Bilanzen. Ab 2013 müssen sie sogar noch teuer die sog. Verschmutzungzertifikate kaufen, um das CO2 in die Luft blasen zu dürfen. Die Börse reagiert darauf bereits mit heftigen Kursverlusten für diese Unternehmen. Wenn es schief läuft können sie zu Übernahmekandidaten für ausländische Konkurrenten, wie EdF und Gazprom, werden. Gewinner in dieser Situation sind viele Stadtwerke, welche sich aus der bisherigen Abhängigkeit von den Oligopolisten befreien, ihre lokalen Netze zurückkaufen und zukünftig als eigenständige Stromanbieter auftreten.
Die Strategie der Bundesregierung sieht vor, die auslaufende Atomenergie bis zum Jahr 2021/22 durch regenerative Energie, vorzugsweise Windkraft, zu ersetzen. Insbesondere in den Südländern wird man sich auf eine weitere "Verspargelung" der Landschaft (und auch des Schwarzwaldes) einstellen müssen. Besondere Gesetze sind in der Vorbereitung, um Hochpannungstrassen und Pumpspeicher schneller planen und realisieren zu können. Man wird sehen, wie die Bevölkerung darauf reagiert.
Atomenergie und erneuerbare Energie;
Beiträge zur Stromerzeugung bis 2022 (BMU,FAZ)
Kurz- und mittelfristig werden die 8.500 Megawatt abgeschaltete Kernenergiekapazität durch Kohle und Erdgas ersetzt werden. Mehr als ein Dutzend grosser Kohlekraftwerke sind derzeit bereits in Bau; weitere werden folgen. In Bayern setzt man sehr stark auf Erdgas. Bei Ingolstadt wurde kürzlich ein grosses Gaskraftwerk in Betrieb genommen. Weitere sollen folgen, wobei man insbesondere die aufgegebenen Standorte ehemaliger Kernkraftwerke nutzen will. Von den schädlichen Klimaauswirkungen redet man nur noch hinter vorgehaltener Hand.
Die internationale Reaktion auf den deutschen Atomausstieg ist von Skepsis bis Entsetzen geprägt. Die Schweden, welche schon 1980 mal ihren Ausstieg propagierten, aber 2009 davon zurückgetreten sind, glauben nicht, dass Deutschland dieses Ziel sschaffen wird. Die Franzosen betrachten den Ausstieg als überstürzt und prophezeihen, dass Deutschland in Zukunft viel Strom importieren wird. Anne Lauvergeon, die Chefin des französischen Atomkonzerns Areva, sieht Deutschland sogar als "blinden Passagier" der Atomenergie.
In Deutschland hat Merkel mit dem Coup des Ausstiegs alle Parteien hinter sich gebracht und den Grünen sogar ihr Alleinstellungsmerkmal "Atomkraft, nein danke" geraubt.
Mutti hat es wieder einmal allen gezeigt.
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