Sonntag, 29. Mai 2011

Tabus und Lücken in der Nuklearforschung

 Mit dem Bau von kommerziellen Kernkraftwerken begann man weltweit Ende der fünfziger Jahre, nachdem der amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower bei der Genfer Atomkonferenz 1955 seine Nukleararchive für die friedliche Nutzung der Kernenergie öffnen liess. In Deutschland entstanden u.a. die Kleinkraftwerke VAK Kahl, MZFR Karlsruhe und KWL Lingen; in Japan baute die US-Firma General Electric (GE) dem Betreiber TEPCO  in den sechziger Jahren das schon beträchtlich grössere Siedewasserkernkraftwerk Fukushima 1- Mark 1. Die Sicherheitsphilosophie für diese wassergekühlten Anlagen war geprägt von den Vorgaben der Amerikaner und beruhte zum Teil auf den Erfahrungen mit den nuklear angetriebenen U-Booten des US-Admirals Rickover.

"Der Reaktortank platzt nicht"

Ein Kernkraftwerk besteht (neben viel Elektrik) im wesentlichen aus einer grossen Anzahl von Behältern und Rohrleitungen. All diesen Komponenten wurde zugestanden, dass sie im Betrieb kaputt gehen können - nur nicht dem Reaktortank. Im allgemeinen ist dies ein zylindrischer Behälter von zwölf Metern Länge, fünf Metern Durchmesser und einer Wandstärke von über hundert Millimetern. Es war quasi ein Axiom dieser frühen Jahre, dass ein solcher Tank, welcher die Brennelemente beinhaltet und unter einem Druck von 70 bis 150 Atmosphären steht, nicht spontan aufreissen durfte. Sein Versagen ist  - bis zum heutigen Tag - gewissermassen tabuisiert. Die Folgen wären nicht beherrschbar, denn die Trümmer würden den umgebenden Sicherheitsbehälter durchschlagen und und die Radioaktivität der Brennelemente  in die Umgebung freisetzen. Bei einem geplanten Kernkraftwerk in Ludwigshafen hat die deutsche Reaktorsicherheitskommission (RSK) später sogar einen sog. Berstschutz für den Reaktortank verlangt, worauf die BASF dankend auf dieses (teure) Projekt verzichtete.

In den siebziger Jahren kam die Tabuisierung des Reaktordruckbehälters (RDB) - so nannte man den Reaktortank fortan - zunehmend ins Visier der kritischen Wissenschaftler. Zu nennen ist besonders der Engländer Frank R. Farmer, der die Integrität des RDB skeptisch beurteilte, weil diese Komponente während des Betriebs durch die Neutronenbestrahlung zunehmend versprödet. Das war auch der Grund, weswegen die Briten so lange zögerten, den Druckwassereaktor in ihrem Land zuzulassen. Die wassergekühlten Reaktoren schienen ein ernstes Problem zu haben.

In der Folge wurden deshalb weltweit gigantische Forschungsprogramme aufgelegt, um die Sicherheit des Reaktordruckbehälters auch noch nach dreissig, vierzig oder gar fünfzig Jahren Laufzeit garantieren zu können. Es entstand ein völlig neues Forschungsgebiet: die Bruchmechanik. Der Zähbruch und der Sprödbruch wurden analysiert, dazu die Rissbildung und Rissausbreitung. Die "kritische Risslänge" wurde definiert und das "Leck-vor-Bruch-Kriterium" geboren. Die Wartungsvorschriften ("in-service-inspection") wurden auf ein hohes technisches  Niveau gehoben. Die technischen Spezifikationen für die Fertigung eines solchen RDB (welche zumeist in Japan erfolgt) besteht aus mehr als tausend Blatt Papier!

Die kerntechnische Community ist inzwischen von der Integrität de Reaktordruckbehälter während der Laufzeit überzeugt und rechnet ihr hypothetisches Bersten dem Restrisiko zu, das nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts der Bevölkerung zuzumuten ist.

Die unterschätzte Nachwärme

Wenn ein Kernkraftwerk nach längerem Betrieb abgeschaltet wird, dann vermindert es nicht schlagartig seine Leistung auf Null, sondern es produziert - ähnlich wie ein Küchenherd - noch eine geraume Zeit die sog. Nachwärme. Dies dauert in der Regel drei bis sechs Monate, währendessen der Reaktorkern sich ständig aufheizt, als wären dort einige zehntausend Tauchsieder installiert. Ursächlich dafür ist die radioaktive Strahlung, welche beim Durchgang durch den Uranbrennstoff diesen erhitzt. Um die Nachwärme gefahrlos abzuführen, werden die Kühlkreisläufe auch bei abgeschalteten Reaktor noch eine zeitlang (bei gedrosselter Fahrweise) in Betrieb gehalten.

Bei den havarierten Kernkraftwerken in Fukushima hat dies offensichtlich nicht funktioniert. Vermutlich beschädigte bereits das erste schwere Erdbeben am 11. März die Reaktorkühlkreisläufe so stark, dass sie den Betrieb aufgaben. Das für solche Ausfälle installierte Notkühlsystem war ebenfalls nicht funktionstüchtig, da die Notdiesel durch den nachfolgenden Tsunami weggeschwemmt wurden und somit keine Notstrom zur Verfügung stand. Der Reaktorkern wurde also über Stunden und Tage nicht gekühlt, sondern durch die Nachwärme immer mehr aufgeheizt. Schliesslich kam es in drei Reaktoren zu einer Kernschmelze; 30 bis 50 Prozent des Kernmaterials vermutet man auf dem Boden des Reaktortanks. Gleichzeitig wurden radioaktive Isotope wie Jod 131 und Cäsium 137 freigesetzt, welche das umgebende Gebiet kontaminierten und die Evakuierung vieler Menschen erzwangen.


Schemazeichnung der Reaktoren in Fukushima

Die Nachwärme, welche nur ca. ein Prozent der betrieblichen Leistung darstellt, wird in den kerntechnischen Sicherheitsanalysen meist recht stiefmütterlich behandelt. Dort stehen im Vordergrund die "grossen Störfälle" welche sich im vollen Reaktorbetrieb ereignen können, z. B. das Abreissen einer Hauptkühlmittelleitung oder das Durchgehen des Reaktors. Beispielhaft dafür ist das Standardwerk "Reaktor-Sicherheitstechnik" (D. Smid), erschienen 1979 im Springer-Verlag. Dort sind die von General Electric in Fukushima gebauten Siedewasserreaktoren zwar erwähnt, aber das Kapitel "Not- und Nachkühlsystem" umfasst gerade mal drei Seiten. In dieser komprimierten Darstellung findet sich kein Hinweis auf die dramatischen Störfallkonsequenzen, die oben beschrieben sind.

Auch das Risiko von Brennelement-Lagerbecken wird in den meisten Sicherheitsanalysen nur am Rande behandelt. In Fukushima befindet sich beim Reaktorblock 4 ein riesiges Becken mit 1.331 abgebrannten Brennelementen auf der Höhe des vierten Stockwerks, teilweise unter freiem Himmel. Brechen die Tragestrukturen (z. B. durch ein Nachbeben ) zusammen, so könnte es, wegen ausfallender Kühlung, auch heute noch zu einem ausgedehnten Brand mit massiver Freisetzung von radioaktiven Nukliden kommen.

Evakuierung versus "walk-away".

Das Stichwort "Evakuierung" vermisst man ebenfalls in den Registern der allermeisten kerntechnischen Veröffentlichungen. Dabei ist es eine der allerschlimmsten Folgemassnahmen bei katastrophalen Reaktorstörfällen; Tschernobyl und Fukushima haben das gelehrt. Hinzu kommen noch die nicht geringe Zahl verängstigter Menschen, die - obschon ausserhalb der Evakuierungszone - aus eigenem Antrieb fliehen und ihr Besitztum zumindest zeitweise aufgeben. Sogar die deutsche Botschaft in Tokio, ein jammervolles Beispiel, hat ihren Sitz derzeit nach Osaka verlegt.

Die grossen Entwicklungsfirmen für moderne Kernkraftwerke haben dieses Defizit früherer Anlagen gesehen und einen "supersicheren" Reaktor kreiert. Er soll unter allen Umständen sicher sein, selbst ohne Eingriff der Betriebsmannschaft. ("walk-away"-Prinzip). Volle zwei bis sechs Tage nach einem Störfall kann dieser Reaktortyp sich selbst überlassen werden, währenddessen er sich automatisch in eine sichere Betriebsposition steuert. Die Firma Siemens und der französische Partner Framatome haben in den neunziger Jahren (mit Unterstützung des Kernforschungszentrums Karlsruhe) den sog. "Evolutionary Power Reactor" (EPR)  entwickelt, welcher diese Sicherheitseigenschaften besitzen soll. Ähnliche Konzepte gibt es in Asien. Der EPR  hat ein doppelwandiges Containment aus Stahlbeton mit der Gesamtdicke von 2,6 Metern; der Reaktortank besitzt eine Wandstärke von satten 250 Millimetern. Ein keramisches Auffangbecken unterhalb des Reaktorkerns ("core-catcher" genannt) soll im Falle eines GAU die Kernschmelze aufhalten. Viele weitere Sicherheitsvorkehrungen müssen hier unerwähnt bleiben.


Die sogenannten Einwirkungen von aussen auf Kernkraftwerke

Zwei Kernkraftwerke vom Typ EPR werden derzeit in Finnland und Frankreich gebaut. Schon melden sich die Kritiker zu Wort, insbesondere aus England. Sie bestreiten u.a., dass das Containment dem Aufprall eines grossen Verkehrsflugzeug standhalten kann sowie dem nachfolgenden Brand von 100 Tonnen Kerosin und verweisen dabei auf die eingestürzten Türme des World Trade Centers in New York. Auch bei Kernschmelzen im Bereich des Fundaments könne es zu nicht beherrschbaren Dampfexplosionen kommen und sogar zur Verseuchung des Grundwassers. Ganz wird man diese Argumente nicht ausräumen können, da Forschungsexperimente im Massstab 1:1 eben nicht möglich sind. Auch Laborversuche mit Kernschmelzen sind ausserordentlich schwierig. Unbestreitbar ist aber, dass diese neuen Reaktorkonzepte einen riesigen Sicherheitsschritt, verglichen mit Fukushima Mark I, bedeuten. Dass bei ihnen Evakuierungen unter keinen Umständen mehr erforderlich sein werden, beruht aber auch auf einem Stück Hoffnung.

Umzingelt von Nuklearstandorten

Logischerweise sind die Folgemassnahmen bei einem sehr schweren Reaktorunfall auch abhängig vom Standort und der Anzahl von Kernkraftwerken oder  nuklearen Anlagen. Hier ist das vergleichsweise kleine und gebirgige Land Japan besonders gehandikapt. Die kerntechnischen Standorte liegen wegen der Kühlungserfordernisse fasst alle an der Küste, wo wegen der geologischen Struktur häufig starke Erdbeben zusammen mit Tsunamis auftreten können. Zieht man um die Metropole Tokyo mit ihren 30 Millionen Einwohnern einen Kreis mit dem Radius von 200 Kilometern, so befinden sich darin (jetzt schon) folgende Nuklearanlagen:

-  21 kommerzielle Kernkraftwerke,
-  11 Forschungsreaktoren,
-  3 Brennelementfabriken,
-  1 Wiederaufarbeitungsanlage,
-  1 Zwischenlager für bestrahlte Brennelemente.

Inzwischen hat die Regierung die Abschaltung dreier Kernkraftwerke (am Standort Hamooka) wegen unmittelbarer Erdbebengefahr verfügt; am Ausbau der Kernenergie auf das doppelte der jetzigen Kapazität hält sie jedoch fest. Das heisst: die gegenseitige Beeinflussung der Nuklearanlagen bei Störfällen steigt. Siehe Fukushima, wo aus einer Ursache heraus vier Kernkraftwerke zerstört wurden.

Ähnlich ist die Bilanz in der zweiten japanischen Metropolregion um die Grosstädte Kyoto, Osaka und Nagoya. Knapp hundert Kilometer von Kyoto entfernt befindet sich sogar ein  Kernkraftwerk vom Typ Schneller Brüter ("Monju").  Es ist mit Plutoniumbrennstoff gefüllt und wird mit 550 Grad heissem, flüssigen Natrium gekühlt.

Im Falle einer Havarie wäre Bespritzen mit Meerwasser nicht empfehlenswert.

Sonntag, 22. Mai 2011

Vorsicht Sushi!

Inzwischen werden sich die japanischen Hausfrauen der Präfekturen Fukushima,Ibaraki und Tokio daran gewöhnt haben, dass sie bei ihren Lebensmitteleinkäufen nicht nur auf die Frische und Menge, sondern auch auf die radioaktive Strahlung - gemessen in Bequerel - zu achten haben. Die Regierung hat schon bald nach den Reaktorstörfällen Grenzwerte für die wichtigsten strahlenden Isotope erlassen, im wesentlichen für das Jod 131 und das Cäsium 137. Flüssige Lebensmittel, wie Milch, sollten nicht mehr als 300 Bequerel pro Kilogramm (Bq/kg) an Jod enthalten; bei Kleinkindern ist dieser Grenzwert auf 100 Bq/kg herabgesetzt. Bei den allermeisten anderen Nahrungsmitteln, wie Fisch und Fleisch, gilt ein Limit vom 500 Bq/kg, das nicht überschritten werden sollte. Aber wenn ein hungriger Holzfäller mal ein Steak von 600 Gramm vertilgen sollte, dann wird er auch nicht daran sterben.

Die Europäische Union hat diese Grenzwerte übernommen, wodurch es nun nicht mehr zu der absonderlichen Situation kommen dürfte, dass der gleiche Salatkopf im Elsass gegessen werden darf, während er in Baden ungeniessbar ist. Da Japan wegen seiner gebirgigigen Topografie nur wenige Agrarflächen besitzt, kann es auch nur wenige Nahrungsmittel exportieren. Das Risiko, in Deutschland oder Europa auf japanische Lebensmittel zu stossen, ist also gering. Doch halt, es gibt eine Ausnahme: die Sushi-Restaurants. In jeder grösseren deutschen Stadt findet man sie, so zum Beispiel auch in Karlsruhe am Marktplatz. Die kleinen Reisbällchen, belegt mit Fisch, Garnelen, Seetang oder Tofu sind als Abschluss einer Einkaufstour sehr beliebt. Und nicht selten rühmen  die Esslokale, dass ihre Vorprodukte direkt aus Japan kommen.




Die Sushi-Box "Freundschaft" für 3-5 Personen zu 29,95 Euro

Gestern war ich mit Brigitte mal wieder in unserem Sushi-Lokal und die kleinen Leckereien schmeckten delikat wie immer. Als ich den Sushi-Meister beim Bezahlen fragte, wie er nach Fukushima mit seinen Lieferanten zurecht käme, drückte er mir (etwas verschämt) einen Flyer in die Hand. Beim Hinausgehen las ich folgendes:
Liebe Gäste, wir hoffen natürlich, dass das Schlimmste in Japan überstanden ist, möchten Sie aber dennoch über die Herkunft unserer wichtigsten Produkte informieren. Unseren Thunfisch beziehen wir aus Sri Lanka, den Lachs aus Norwegen. Viele Delikatessen kommen aus Thailand, Indonesien und China; der Sushireis wird in Südeuropa angebaut. Der Tee wurde bereits im Jahr 2010 geerntet. Wegen extrem gestiegener Einkaufspreise dieser Produkte mussten wir unsere Preise leider anpassen.

Nun hat mich der japanische Reaktorstörfall auch noch persönlich in Karlsruhe erwischt. Wenn ich über die besagten "Delikatessen aus Thailand" nachdenke und mir die dortigen Pools mit der medikamentösen Überversorgung vorstelle, dann wäre mir japanischer Thunfisch - selbst aus den Gewässern von Fukushima -  fast noch lieber.

Insbesondere, weil dort Radioaktivität des Jod 131 inzwischen auf ein Tausendstel abgeklungen ist.

Sonntag, 8. Mai 2011

Wohin mit dem Schrott aus Fukushima?

Die vier havarierten Kernkraftwerke in Fukushima sollen nicht mehr in Betrieb genommen, sondern abgerissen werden. Zumindest nach den Vorstellungen der japanischen Regierung. Der Betreiber TEPCO hat sich dazu noch nicht so eindeutig geäussert; vielleicht hält er die Wiederinbetriebnahme des einen oder anderen Blocks doch noch für möglich. Da die Kraftwerke jedoch wochenlang mit hochkorrosivem Meerwasser besprüht wurden, ist dies eher unwahrscheinlich.

Der Rückbau eines lange betriebenen Atomkraftwerks unterliegt anderen Regeln als beispielsweise der Abriss eines Hochhauses. Deutschland hat auf diesem Gebiet weltweit den grössten Erfahrungsschatz, ist gewissermassen Weltmeister im Abreissen von Kernkraftwerken. Von den ursprünglich 36 Meilern sind nur noch 17 in Betrieb, wobei 8 von der Bundesregierung aufgrund der Fukushima-Störfälle zur Stilllegung verpflichtet wurden. Von den schon seit längerem ausser Betrieb gestellten 19 Kernkraftwerken sind drei bereits bis zu der berühmten "Grünen Wiese" vollständig abgebaut (VAK Kahl, KKN Niederaichbach, HDR Grosswelzheim); der Rest befindet sich in den verschiedenen Stadien des Rückbaus.



Der ehemalige Standort des KKN Niederaichbach bei Landshut, nunmehr "Grüne Wiese" mit Gedenkstein und neu gepflanzten Baum.
(Im Bild der Verfasser)

Die strahlende Bratpfanne

Wie baut man ein Kernkraftwerk ohne Gefahr für die mitwirkenden Arbeiter und die Umwelt ab? Nun, dafür gibt es mittlerweile wohlerprobte Regeln. Zuerst werden die Brennelemente und das Kühlmedium entfernt. Die Brennelemente bringt man zu einer Wiederaufarbeitungsanlage (in England oder Frankreich) oder in ein externes Zwischenlager. Das Kühlmittel, zumeist Wasser - in seltenen Fällen auch Natrium - wird aus den Kreisläufen entfernt und in Spezialanlagen von der Strahlung befreit. Was dann an Materialien noch übrig bleibt ist im wesentlichen Metall aus den Kreisläufen und Betonschutt aus den Reaktorgebäuden, zuzüglich geringen Mengen an Plastik.

Der Rückbau eines weitläufigen Kernkraftwerks wird so organisiert, dass man zuerst  die äusseren - nichtradioaktiven - Gebäude (mit der Abrissbirne) abreisst und sich von dort ins Innere (Richtung Reaktortank) vorarbeitet. Ab einer gewissen Stelle ist die "hands on - Methode" aus Gründen der Strahlung nicht mehr möglich und man muss ferngesteuerte Abrissroboter einsetzen. Die abgebrochenen Materialien werden sortiert, sodass man zum Schluss - bildlich gesprochen - im wesentlichen zwei Haufen vorliegen hat: den Metallschrott und den Betonschrott.

Diese Haufen werden nun feinsortiert je nach der Stärke ihrer Strahlung. Die stark strahlenden Materialien werden zur (späteren) Endlagerung vorgesehen, die nichtstrahlenden können wie jedes normale Abbruchmaterial weiterverwendet werden und die dazwischen liegenden Chargen müssen vor ihrer Rezyklierung gesondert behandelt werden, insbesondere von der Strahlung (so gut wie möglich) befreit werden. Der Laie macht sich häufig ein falsches Bild von den Quantitäten dieser drei Kategorien. Im Falle des KKN Niederaichbach waren insgesamt 75.000 Tonnen Schrott angefallen. Davon waren 92 Prozent nicht radioaktiv und konnten sofort wiederverwendet werden. Zwei Prozent, also weniger als 2.000 Tonnen mussten dem Endlager zugeführt werden; sechs Prozent, also etwa 5.000 Tonnen, wurden nach der Dekontamination wieder verwendet.

Grosse Sorgfalt ist darauf zu legen, dass die strahlenden Chargen keinesfalls mit den nichtstrahlenden  vermengt werden. Radioaktiver Eisenschrott darf nicht in normale Hochöfen gelangen und von dort zu Bratpfannen oder Blechen für Automobile verarbeitet werden. Die Hausfrau bzw. der Taxifahrer würden sich sonst unbewusst permanent bestrahlen. Da am Ende der Rezyklierungskette im allgemeinen nicht mehr auf Radioaktivität kontrolliert wird, hat dies am Anfang, also gleich beim Rückbau der Kernkraftwerke zu geschehen. Dafür gibt es bindende Richtwerte, die von der Bundesregierung erlassen und von den Aufsichtsgremien überwacht werden.

Grenzwerte und Freigabe

Die Internationale Atombehörde in Wien (IAEO) hat einige grundlegende Empfehlungen für die Beseitigung und Verwertung von radioaktiven Stoffen aus zurückgebauten Kernkraftwerken aufgestellt. Die wohl Wichtigste ist, dass die Strahlendosis, welche auf die Kerntechnik zurückzuführen ist, sich im Bereich der Schwankungen der natürlichen Radioaktivität bewegen soll. Die Strahlendosis, welcher jeder Mensch in Deutschland im Mittel aufgrund der kosmischen und terrestrischen Stahlung ausgesetzt ist, beträgt im Mittel 2.400 Mikro-Sievert plus/minus 10 Prozent. Den rechnerischen Wert von 240 Mikro-Sievert hat die Deutsche Strahlenschutzkommision (SSK) nochmals auf 10 Mikro-Sievert reduziert.

Die SSK hat auch Regeln für die tägliche Praxis erlassen. So erhält beispielsweise der Metallschrott aus Kernkraftwerken die Freigabe zur Wiederverwertung, wenn seine Aktivität weniger als 0,1 Becquerel pro Gramm (Bq/g) beträgt. Bequerel ist ein Mass für die pro Sekunde ausgesandten Strahlen. Liegt die Aktivität (oder die Oberflächenkontamination) über 1 Bq/g, so muss der Schrott zu einer speziellen Giesserei gegeben werden, welche die Lizenz zur Handhabung solcher Materialien besitzt. Interessant ist, das die Radioaktivität von Eisenschrott nur zum geringen Teil aus dem Eisen selbst stammt, sondern grösstenteils von dem zulegierten Cobalt. Das im Reaktor generierte Nuklid Co-60 sendet eine intensive Gammastrahlung aus und besitzt eine Halbwertszeit von 5,3 Jahren. Das bedeutet, dass die Strahlung des Eisenschrotts nach etwa 25 Jahren auf 4 Prozent des Ausgangswerts abgeklungen ist.

Die Freigabe von Betonschutt erfolgt sinngemäss nach den gleichen Regeln. In Falle seiner Wiederverwertung wird er häufig für den Unterbau von Strassen bzw. zur Auffüllung von Hohlwegen verwendet. Stark strahlender Schutt und Schrott werden dem Endlager zugeführt.

Die genannten Bequerel-Grenwerte lassen sich am besten durch den Vergleich mit natürlichen radioaktiven Stoffen beurteilen, von den einige in der untenstehenden Tabelle zusammengestellt sind.


Bq/Gramm
Mensch0,1
gedüngter Ackerbodem0,4
Zement0,2 bis 1,0
Beton0,3 bis 2,2
natürlicher Gips0,1 bis 1,3
Granit0,9 bis 1,2
Phosphat0,3 bis 10,0
Kalidünger15


Tabelle einiger "natürlich" radioaktiverStoffe


Die wichtigsten natürlichen Radioisotope im menschlichen Körper sind die Betastrahler, wie Kalium-40. Ihre Zerfallsenergie wird nahezu vollständig im Körper absorbiert. Baumaterialien, wie Beton und Gips, geben Radon ab und belasten hauptsächlich die Lungen der Hausbewohner. Die im Boden, z. B. im Granit enthaltenen Radionuklide sind die Ursache des terrestrischen Anteils der natürlichen Strahlenbelastung des Menschen. Sie wird vorallem durch Gammastrahlung verursacht. Der Kalidünger, schliesslich, ist ein Beispiel für für den langen Weg eines Radioisotops vom Boden über die Pflanze und das Tier zum Menschen.

Deshalb: den Rasen mit Kalidünger aufbessern und auf der granitenen Steinbank den Blumen beim Wachsen zusehen, ist nicht ganz ungefährlich.

Sonntag, 1. Mai 2011

Ethikkommission vs. Realität

Die Bundesregierung hat im Gefolge von Fukushima eine Ethikkommision eingesetzt. Politische Rentner, angereichert mit dem nuklearen Sachverstand von Bischöfen und gar leibhaftigen Kardinälen, sollen über die Risiken der Atomkraftwerke befinden und Frau Merkel Vorschläge machen für einen schnellen Ausstieg aus der ungeliebten Kernenergie. In vier Wochen will die Kommission ihren Abschlussbericht vorlegen, der die Basis für ein Gesetzespaket bilden wird, mit dem - noch vor dem Sommer - die Wende in der deutschen Energiepolitik eingeläutet werden soll. Ich habe mir am vergangenen Donnerstag im TV-Kanal "Phönix" die sogenannte Expertenbefragung angehört und war verblüfft, wie einfach der Wechsel zum Sonnenzeitalter ist. Mit Ausnahme von E.ON-Chef Johannes Teyssen ("spricht nur pro domo") und weniger anderer, waren die allermeisten der geladenen Experten der Meinung, dass der Übergang keine sonderlichen Probleme bereiten würde. Eine ganz Reihe - die mir bislang als Energiefachleute noch gar nicht bekannt waren - hatten sogar  Mut zu der Feststellung, dass die besagte Energiewende ohne Strompreiserhöhungen, ohne Importe oder gar Blackouts, und bei vollem Erhalt der industriellen Wettbewerbsfähigkeit und des globalen Klimaschutzes implementiert werden könnte.

Die Situation in Baden-Württemberg

Da hatte ich vor einer Woche, bei der Aktionärsversammlung der EnBW, noch ganz anderes gehört. Der Konzernchef Hans-Peter Villis beklagte mit bewegten Worten die vom Moratorium der Kanzlerin verursachte Abschaltung seiner beiden Kernkraftwerke in Philippsburg und Neckarwestheim. KKP 1 (930 Megawatt) und GKN I (840 MW) produzierten bislang fast 2 Gigawatt Strom, den er nun aus Frankreich und Tschechien  zukaufen muss. In beiden Fällen sind die Lieferanten Kernkraftwerke jenseits der deutschen Grenze, deren Sicherheitsstandards die der heimischen nicht übertreffen. Übertreffen wird dieser Importstrom jedoch die Kosten der eigenen Produktion - weshalb das EnBW  diese Mehrkosten an ihre Kunden weitergeben wird.

In ein bis zwei Jahren werden sich diese Stromimporte reduzieren, weil dann zwei Steinkohleblöcke in Karlsruhe und Mannheim in Betrieb gehen sollen. RDK 8 (910 Megawatt) und GKM 9 (820 MW) besitzen zwar annähernd die gleiche Kapazität wie die stillgelegten Meiler - aber sie spucken viele Tonnen Kohlendioxid aus, was die deutsche Klimagasbilanz merklich verschlechtern wird. (Eine praktische Faustformel sei verraten: von der Leistung des Kraftwerks die letzten beiden Ziffern streichen, die restliche Ziffer bzw. Zahl durch 2 dividieren, dann erhält man den Jahresausstoss  an Kohlendioxid in Millionen Tonnen. Beispiel RDK 8:  = 4,5 Mio Tonnen pro Jahr.)

Ausserdem, das ist auch nicht allseits bekannt:  die Emission radioaktiver Stoffe im Normalbetrieb ist bei fossilen Kraftwerken drei Mal höher als bei den genannten Atomkraftwerken! Schliesslich, nicht ganz unwichtig, sind die Kosten der Stromproduktion bei Kohlekraftwerken signifikant höher als bei abgeschriebenen Kernkraftwerken.


Das Rheinhafendampfkraftwerk RDK 8 in Karlsruhe

Damit sind vorläufig die Standorte für Kohlekraftwerke in Baden-Württemberg ausgeschöpft. Wegen der Anlieferung der riesigen Mengen an Brennmaterial braucht man grosse Hafenanlagen, die nicht überall verfügbar sind. Mancher wird vielleicht auf den Neckar verweisen, aber dieser Fluss ist praktisch nicht mehr schiffbar. Zwischen Stuttgart und Mannheim befinden sich nicht weniger als 26 Laufwasserkraftwerke, die zwar "ökologische" Wasserkraft erzeugen, aber gleichzeitig den schönen Fluss zu einer Anreihung von Teichen machen.

Trotzdem: die Zeit drängt. In etwa zehn Jahren sollen auch die restlichen Kernkraftwerke der EnBW  abgeschaltet sein. ( Der Experte des World Wild Life Fund hielt sogar den Atomaustieg bis 2017 für möglich). Das trifft  die beiden grossen Blöcke KPP 2 (1.460 Megawatt) und GKN II (1.400 MW). Fast 3 Gigawatt sind dann zu ersetzen - und wenn es nach der Ethikkommission geht -  vorzugsweise durch Solar- und Windenergie. Bilanzieren wir diese Kapazitäten, wobei ich mich auf den Geschäftsbericht der EnBW berufe, sowie sonstige Firmenunterlangen:

Derzeit betreibt unser Landes-EVU Solarkraftwerke auf eigenen Dächern sowie auf Wiesen in den schönen Orten Leibertingen und Eggingen. Etwa 10 Megawatt kommen dabei zusammen - wenn die Sonne scheint. Den Windstrom sammelt die EnBW ausserhalb des Ländles. Im niedersächsischen Buchholz, kurz hinter Hanover drehen sich - onshore - 18 Windräder. In der Ostsee, also offshore, wird derzeit nördlich von Zingst der Windpark Baltic 1 mit 48 MW in Betrieb genommen. Weiter östlich soll die vier mal so grosse Anlage Baltic 2 folgen, in einer Meerestiefe zwischen 23 und 44 Metern. Die Ingenieure klagen über die technischen Probleme bei der Fixierung der Monopiles und über die horrenden Umweltauflagen. Die Dänen und Briten sind in dieser Hinsicht wesentlich smarter: sie installieren ihre Windgeneratoren im Seichtwasser des Ufergebiets.

Damit ist der Strom aber noch nicht in Baden-Württemberg. Neue Hochspannungsleitungen sind erforderlich und mindestens 4 Pumpspeicherkraftwerke von der Grösse des Walchenseekraftwerks. Geografisch infrage kommt dafür eigentlich nur der Schwarzwald. Das Geschrei der Anlieger und Naturfreunde ist jetzt schon zu hören.

Fassen wir zusammen: die Umstellung des EnBW-Konzerns von der bisherigen Stromerzeugung auf Erneuerbare Energien ist eine Herkulesaufgabe für den Vorstandsvorsitzenden Villis. Sie wird in dieser Dekade nicht zu schaffen sein. Bei weiteren politischen Eingriffen, etwa durch den designierten Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann und seiner Crew, besteht die reale Gefahr, dass der Konzern in Schieflage gerät und nicht mehr zu steuern ist. Dass dies negative Auswirkungen auf die heimische Industrie haben wird, liegt auf der Hand.

Die Situation im übrigen Deutschland

Ausserhalb von Baden-Württemberg, im Westen, Norden und Osten Deutschlands, liegt das Verbreitungsgebiet der übrigen drei Stromgiganten. Es ist der Beritt von RWE, E.ON und Vattenfall. Dort wurden aufgrund des Fukushima-Moratorium sechs weitere grosse Kernkraftwerke urplötzlich abgeschaltet, nämlich: Biblis A (mit 1.250 Megawatt), Brunsbüttel (800 MW), Isar 1 (910 MW), Biblis B (1.240 Mw), Krümmel (1.400 MW) und Gundremmingen B (1.350 MW). Nochmals sieben Anlagen, zumeist die grösseren Schwesterkraftwerke, stehen bis zum Jahr 2020 zur Stillegung an.

An deren Stelle sollen etwa zwei Dutzend Stein- und Braunkohlekraftwerke treten, die schon im Bau bzw. zumindest in der Planung sind. Viele sind - verglichen mit den Kohlekraftwerken der EnBW in Karlsruhe und Mannheim - wahre Giganten (um nicht zu sagen Monster). In Stade, bei Hamburg, neben dem stillgelegten Atomkraftwerk, entstehen gleich drei Steinkohleeinheiten mit 800 und zwei Mal 1.100 MW. Darüberhinaus baut Vattenfall im benachbarten Moorburg ein riesiges Kraftwerk mit 1.650 MW, das noch in diesem Jahr in Betrieb gehen soll. Und in Schlewig-Holstein, neben dem abgeschalteten Atomkraftwerk Brunsbüttel, wird nächstes Jahr ein Steinkohleblock mit 1.800 MW angefahren werden. In Hamm, Westfalen, in der Umgebung des  in den achziger Jahren auf politischen Druck hin abgeschalteten Hochtemperaturreaktors, werden ebenfalls nächstes Jahr zwei Steinkohleblöcke mit insgesamt 1.600 MW in Betrieb gehen. Den Vogel schiesst aber RWE mit seinen zwei Braunkohleanlagen von insgesamt 2.200 MW ab, die letztes Jahr in Neurath in Betrieb gesetzt wurden. Neurath kann wahrscheinlich nicht jedermann geografisch verorten: es liegt mitten zwischen Köln, Düsseldorf und Mönchengladbach. Hier wird in einem Superkraftwerk Braunkohle der übelsten Sorte verbrannt. Man schätzt seinen CO2-Austoss auf 15 Millionen Tonnen pro Jahr. Das ist so viel wie ganz Boliven produziert!

Steinkohlekraftwerke sind, über das Jahr gesehen, nur halb so lang mit Volllast an Netz wie Kernkraftwerke. In Zukunft wird diese Verfügbarkeit sogar noch sinken, weil nach dem deutschen Erneuerbare-Energien-Gesetz sie den alternativen Technologien untergeordnet sind. Wenn ein Windmüller Strom anliefert und das Netz ausgelastet ist, dann muss ein Kohlekraftwerk zurückgefahren oder ganz abgeschaltet werden, um Netzüberlastung zu vermeiden. Auch wenn das Kohlekraftwerk seinen Strom billiger anbietet. Daraus ergibt sich, dass die Elektrizitätserzeugung bei fossilen Kraftwerken inhärent teurer ist. Ganz abgesehen von den Kapitalkosten, welche bei den heutigen Kernkraftwerken nicht mehr zu Buche schlagen, da sie abgeschrieben sind, während sie bei den genannten Neuinvestitionen noch jahrzehntelang finanziell wirksam sind.


Volllaststunden der deutschen Kraftwerke im Jahr 2009

Die Braun- und Steinkohlekraftwerke (nebst einigen Gaskraftwerken) werden die deutsche Stromproduktion in den kommenden Jahrzehnten bestimmen. Wind- und Sonnenenergie ist demgegenüber untergeordnet, solange nicht effiziente Stromspeicher installiert sind. Dafür wären im genannten Verbreitungsgebiet etwa 20 Pumpspeicherkraftwerke von der Grösse des oben genannten Walchenseekraftwerks erforderlich. Dafür infrage kämem die deutschen Mittelgebirge vom Fichtelgebirge bis zum Hunsrück. Von den 3.600 Kilometern neuer Stromtrassen ganz zu schweigen.

Fazit

Die Ethikkommission mag entscheiden wie sie will:  kurzfristig wird es in Deutschland kaum zu Abschaltungen kommen, weil wir umgeben sind von vielen Nachbarländern, die bereit sind, ihre Produktion hochzufahren und Strom an uns zu exportieren. Mittel- und längerfristig wird die deutsche Atomstromerzeugung ausgetauscht werden durch die fossile Produktion aus Braun- und Steinkohle. CO2-freier Strom wird zu schmutzigem Strom! Und der Strom wird teurer werden mit allen Konsequenzen für den industriellen Wettbewerb unserer Firmen im weltweiten Bereich.

Die politischen Implikationen dieser Energiewende sind enorm: die Risiken eines regional begrenzten Atomunfalls werden ausgetauscht gegen die globalen Risiken einer Klimakatastrophe. Bei zukünftigen internationalen Klimakonferenzen wird die Bundeskanzlerin nicht mehr als Hüterin des Weltklimas auftreten können. Die Chinesen und Inder werden sagen:

"Madam, mind your own business"