Sonntag, 12. Dezember 2010

Das Grossprojekt Kalkar und seine Politiker

Grossprojekte im Milliardenbereich sind riskant, weil sich ihre Realisierung über viele Jahre, manchmal gar Jahrzehnte, erstreckt. Das gilt besonders, wenn sie nicht privatwirtschaftlich, sondern staatlich finanziert sind, womit sie dem Wohl und Wehe der Parteien und ihren schwankenden Koalitionen ausgesetzt sind. Ein Beispiel ist Stuttgart 21, das von 1994 über 15 Jahre hinweg von allen Parteien im Stuttgarter Landtag gestützt wurde. Als 2009 die ersten Demonstrationen aufzogen, kippten die Grünen ganz und die Roten halb um, mit dem Ergebnis, das allgemein bekannt ist.

Ein Grossprojekt der frühen siebziger Jahre war der Schnelle Brüter in Kalkar, ein Kernkraftwerk, das auch als Schneller natriumgekühlter Reaktor (SNR) bekannt geworden ist. Nur wenige wissen, dass es der ehemalige sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt war, der es aus der Taufe gehoben hat.

Willy Brandt, der Visionär (1913 - 1992); deutscher Bundeskanzler von 1969 bis 1974

Brandts tüchtige Minister

Bei einer Kabinettssitzung im Februar 1972 verwies Brandt auf die knappen Uranressourcen in Deutschland und beauftragte seinen damaligen Forschungsminister Klaus von Dohnany, den Bau eines Schnellen Brüters in Kalkar am Niederrhein (überwiegend) aus Bundesmitteln zu finanzieren. Das Kernkraftwerk Kalkar zeichnete sich dadurch aus, dass es das Uran in seinem Reaktorkern etwa 50 mal besser ausnutzte als ein gängiges leichtwassergekühltes Atomkraftwerk.

Dohnany gelang es, die Belgier und Holländer ins Boot zu holen und schon im November des gleichen Jahres standen fast zwei Milliarden DM für den Bau des sog. SNR 300 mit seiner elektrischen Leistung von 300 Megawatt zur Verfügung. Siemens gründete die Tochterfirma Interatom, welche das Kraftwerk erstellen sollte; ein Ableger des Energieunternehmens RWE wurde mit der Bauüberwachung beauftragt und sollte später das Kernkraftwerk (KKW) betreiben. Ähnliche Tochterfirmen entstanden in Belgien und Holland. Die Zustimmung der damals in der Opposition verweilenden Parteien CDU/CSU sowie FDP brauchte man gar nicht erst einzuholen; deren frühere Forschungsminister Strauß (CSU), Balke (CDU), Lenz (FDP) und Stoltenberg (CDU) hatten bereits während ihrer Amtszeit die Planungsarbeiten für den Schnellen Brüter im Kernforschungszentrum Karlsruhe nach Kräften gefördert.

Im Dezember 1972 wurde Horst Ehmke (SPD) Forschungsminister; unter seiner Ägide erteilte die Genehmigungsbehörde die hochwichtige erste atomrechtliche Teilerrichtungsgenehmigung (1.TEG), womit gleichzeitig das Grundkonzept des Reaktors genehmigt war. Wie erwartet wurde diese Planfeststellung von einem Anlieger, dem Bauern Maas beklagt, der allerdings 1973 vom Verwaltungsgericht Düsseldorf in erster Instanz abgewiesen wurde.

Im Mai 1974 wurde Hans Matthöfer (SPD) zum Forschungsminister ernannt. Der knorrige Gewerkschaftler war ein besonders standfester Förderer des SNR 300. In einem Interview aus dem Jahr 1976 brachte er die Idee des Brüters in nur zwei Sätzen auf den Punkt: "Der Schnelle Brüter soll das in den Leichtwasser-Reaktoren erzeugte hochradioaktive Abfallprodukt Plutonium sinnvoll wiederverwerten. Zudem soll er die knappen Vorräte an Uran so wirtschaftlich nutzen, dass dessen Bedarf in einigen Jahrzehnten nahezu gegen Null geht." Als Ende 1974 Bundeskanzler Willy Brandt wegen der Guillaume-Affäre zurücktreten musste, wurde Matthöfer vom nachfolgenden sozialdemokratischen Kanzler Helmut Schmidt erneut mit dem Forschungsministerium betraut.

Die Ära Matthöfer war eine turbulente Zeit für das KKW Kalkar, in der viele richtungsweisende Entscheidungen gefällt worden sind. Durch zusätzliche Anforderungen der Genehmigungsbehörden auf den Risikogebieten Erdbeben, Flugzeugabsturz und Kernschmelzen erhöhten sich die Kosten des Kraftwerks beträchtlich. Matthöfer gelang es, seine Parteigenossen zur Finanzierung dieser Mehrkosten zu bewegen. 1977 wollte der neugewählte Präsident der USA, Bill Carter, die Brüterprojekte weltweit - ausser in seinem eigenen Land - stoppen; Matthöfer entgegnete diesem Ansinnen erfolgreich durch die globale Expertenkonferenz INFCE. Schliesslich richtete der Deutsche Bundestag eine sog. Enquête-Kommission zum Schnellen Brüter ein, die das Projekt fortan kritisch begleiten sollte

Im Februar 1978 wurde der ehemalige Frankfurter Oberbürgermeister Volker Hauff (SPD) zum Bundesforschungsminister ernannt. Er konnte erreichen, dass das Bundesverfassungsgericht die Gültigkeit des Atomgesetzes auch für den Schnellen Brüter feststellte. Ausserdem waren zwischenzeitlich ein weiteres Dutzend wichtiger Teilgenehmigungen für Kalkar ergangen. Die besagte Enquête-Kommission hatte zudem das Projekt SNR 300 akzeptiert und lediglich zwei weitere Studien verlangt.

Im November 1980 folgte (als letzter SPD-Forschungsminister) Andreas von Bülow nach. Unter ihm gab der Deutsche Bundestag seine politische Zustimmung zur (späteren) Inbetriebnahme des Brüterreaktors; ausserdem konnte Bülow die Industrie zu einer signifikanten finanziellen Eigenbeteiligung am Projekt bewegen.

Die Wende

Im Oktober 1982 erfolgte in Bonn ein Regierungswechsel. Im Zuge der sogenannten "Wende" wurde Helmut Kohl (CDU) zum Kanzler der Bundesrepublik ernannt; er bestimmte Heinz Riesenhuber (CDU) zum Forschungsminister. Im Dezember des gleichen Jahres hob der Deutsche Bundestag den politischen Inbetriebnahmevorbehalt gegen den Schnellen Brüter in Kalkar auf. Durch Einschiessen neuer Finanzmittel kam es zu einem kräftigen Anstieg der Baustellentätigkeit. Mittlerweile waren bereits 17 Teilgenehmigungen (TG) für das Kraftwerk erteilt; die 18. TG - für die Beladung des Reaktors mit Brennelementen und seine Inbetriebnahme - war in Bearbeitung. Das Projekt schien auf dem besten Weg zu seiner Vollendung zu sein.


Der Schnelle Brüter SNR 300 am Niederrhein im Bauzustand 1981

Aber weit gefehlt! Im Mai 1985 gewann Johannes Rau, SPD-Genosse, gelernter Buchhändler und Freizeitprediger, mit absoluter Mehrheit die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und wurde Ministerpräsident dieses Landes, das für die Erteilung der weiteren atomrechtlichen Genehmigungen zuständig war. Er schien der richtige Gegenkandidat zu Helmut Kohl bei der 1987 anstehenden Bundestagswahl zu sein, nachdem Hans-Jochen Vogel zwei Jahre zuvor dem Pfälzer unterlegen war.

Rau war voller Ehrgeiz und drängte seine Partei dazu, sich thematisch neu zu positionieren. Im Parteirat der SPD verlangte er eine "Kurskorrektur" bei den Projekten Kalkar und Wackersdorf, die vorher jahrelang von der SPD getragen wurden. Als sein zuständiger Fachminister Reimut Jochimsen darauf hinzuweisen wagte, dass für Kalkar bereits 17 atomrechtliche Einzelgenehmigungen erteilt worden waren und die Betriebsgenehmigung aus rechtlichen Gründen nicht mehr versagt werden könne, wurde er zurückgepfiffen und sogar gerügt, weil er nicht genügend "Dialektiker" sei. Jochimsen solle eben zusätzliche Forderungen stellen und im übrigen auf Zeit spielen. Hans Apel, der frühere Bundesfinanzminister, nahm an dieser Strategiesitzung teil und beschreibt die Kontroverse recht offen in seinen Lebenserinnerungen "Der Abstieg" auf den Seiten 351ff.
Hans Apels Lebenserinnerungen (Knaur - Taschenbuch)

Das Ende

Minister Jochimsen tat, was ihm sein Chef Rau befohlen hatte. Er erfand immer "neue Bedenken", die dann durch umfängliche Gutachten zeitraubend ausgeräumt werden mussten.

"Mäusetennis" bezeichneten die Leute in Kalkar dieses Procedere in sehr anschaulicher Weise. Im April 1988 riss dem damaligen Bundesumweltminister Klaus Töpfer die Geduld und er forderte in einer "rechtlichen Bundesanweisung" das Land Nordrhein-Westfalen ultimativ auf, das Genehmigungsverfahren des SNR 300 zu beschleunigen. Kess reichte NRW beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Klage gegen diese Weisung ein - und verlor in allen Punkten! Der Bund hatte seine Weisungskompetenz rechtmässig in Anspruch genommen.

Aber dieser Sieg in Karlsruhe war nur ein Phyrrussieg. Die Landesbehörde durfte zwar nicht mehr offen die Betriebsgenehmigung für das KKW Kalkar verweigern, aber "prüfen" war ihr erlaubt. So wurde der SNR 300 letztlich zu Tode geprüft. Der Bundesrichter Fritz Ossenbühl nannte das Kind beim Namen, indem er formulierte: "Das Land hat unter dem Schein der Legalität Obstruktion betrieben". Minister Jochimsen behauptete zwar in der Öffentlichkeit "nach Recht und Gesetz" zu handeln, das wurde ihm aber nicht abgenommen. Die Wochenzeitung "Die Zeit" hat diese Verschleppungstaktik zutreffend als "kalkarisieren" bezeichnet und damit ein neues Wort geprägt. Im juristischen Sprachgebrauch bildete sich dafür die Bezeichnung "ausstiegsorientierter Gesetzesvollzug" heraus. Horst Sendler, der ehemalige Präsident des Bundesverwaltungsgericht, definierte ihn zugespitzt als "Nichtvollzug durch Vollzug" und verglich ihn mit "Dienst nach Vorschrift", welcher gelegentlich bei Tarifstreitigkeiten im öffentlichen Dienst geübt wird.


Johannes Rau (1931 - 2006); verkniffener Blick zurück

Als im Jahr 1990 die deutsche Wiedervereinigung in Kraft trat, waren die Bundeskassen leer und für Kalkar war kein Geld mehr vorhanden. Im März 1991 musste der Forschungsminister Heinz Riesenhuber deshalb das internationale Brüterprojekt beenden, indem er alle Verträge auflöste. In seiner öffentlichen Presseerklärung liess er verlauten: "Die Verantwortung für das Ende von Kalkar liegt eindeutig beim Land Nordrhein-Westfalen".

Fazit

Rekapitulieren wir: Bundeskanzler Willy Brandt, SPD, hat den Brüter politisch auf den Weg gebracht. Seine - und Helmut Schmidts - fünf sozialdemokratische Forschungsminister Dohnany, Ehmke, Matthöfer, Hauff und Bülow haben die Finanzierung dieses Grossprojekts über alle Genehmigungshürden hinweg sichergestellt.

Als Helmut Kohl, CDU, im Herbst 1982 ans Ruder kam, forcierte sein Forschungsminister Riesenhuber erfolgreich den Weiterbau des SNR 300 bis zu dessen Vollendung im Jahr 1985. Zu dieser Zeit beschloss Ministerpräsident Johannes Rau, Bundeskanzler Kohl bei der im Jahr 1987 anstehenden Bundestagswahl herauszufordern. Er fand es opportun, auf der damaligen (grünen) Antiatomwelle zu schwimmen und zwang seinen Fachminister Jochimsen, die Betriebsgenehmigung für Kalkar zu hintertreiben. Sogar einer Bundesanweisung leistete er keine Folge. Damit "hungerte" er das Projekt finanziell aus, sodass es aus Geldgründen 1990 zwangsweise beendet werden musste.

Das einzige Erfreuliche an dieser Malaise ist, dass Johannes Rau 1987 die Bundestagswahl gegen Helmut Kohl krachend verlor -

und nicht als "Kanzler der Wiedervereinigung" in die Geschichtsbücher eingehen durfte.

Sonntag, 5. Dezember 2010

Stuttgart 21: Ein brüchiger Frieden

Einen Gewinner gibt es bei den Schlichtungsgesprächen um den Stuttgarter Bahnhof S 21 auf alle Fälle: den Nachrichtensender "Phönix", dem die Liveübertragungen aller acht Schlichtungsrunden Zuschauerrekorde bescherten. Während sonst zu nachmittäglichen Stunden seine Einschaltquoten kaum messbar sind, zappten an den Schlichtungstagen Hunderttausende, ja Millionen, auf diesen TV-Kanal, um Heiner Geißlers Moderationskünste in Echtzeit mitverfolgen zu können.

Am 30. November war das Finale angesagt und es dauerte fast bis 5 Uhr abends bis der Schlichter seinen Spruch verkünden konnte: "Der Stuttgarter Tiefbahnhof S 21 darf gebaut werden, ebenso die Neubaustrecke zwischen Wendlingen und Ulm".

Bedeutende Fernverkehrsstrecken der deutschen Bahn (aus DB, StZ)

Aber unter Auflagen! So soll eine Stiftung darüber wachen, dass die neu gewonnenen Freiflächen zu erschwinglichen Preisen bebaut werden. Im Schlossgarten sollen keine gesunde Bäume mehr geschlagen, sondern allenfalls umgepflanzt werden. Der Bahnhof soll für Alte und Kranke verkehrssicher werden und ist bei Bedarf um zwei weitere Gleise zu erweitern. Per Computersimulation soll nachgewiesen werden, dass der neue Bahnhof tatsächlich 30 Prozent mehr Kapazität besitzt als der alte Kopfbahnhof. ("Stresstest")

Diese Massnahmen kosten natürlich Geld. Erste Schätzungen gehen von 150 Millionen Euro aus. Die Grünen rechnen sogar mit 500 Millionen, womit die bisherige Kostenplanung überschritten wäre und das Projekt aus wirtschaftlichen Gründen womöglich doch noch zu Fall käme. Die projektführende Bahn hält sich mit Statements vornehm zurück und will in aller Ruhe die Zusatzkosten analysieren. (Wahrscheinlich nach der Landtagswahl.)

Die Befürworter von S 21 sind mit einem blauen Auge davon gekommen und zeigten sich insgeheim zufrieden. Die Gegner waren enttäuscht darüber, dass Geißler weder den Baustopp verlängerte, noch eine Volksbefragung in Erwägung zog. Der öffentliche Streit wird also - vielleicht in moderaterer Form - weitergehen und bei der Wahl im März 2011 wird es dann doch noch zu der (demokratisch legitimierten) Volkabstimmung kommen. Gemäss einer Umfrage ist die Stimmung der Bevölkerung bereits gekippt; mehr als die Hälfte der Menschen in Stuttgart und Umgebung sind mit Geißlers Schlichtungsspruch einverstanden und halten S 21 für ein gutes Projekt, das man bald verwirklichen sollte.



Modell des neuen Stuttgarter Tiefbahnhofs (links das alte Bahnhofsgebäude)

Die Politiker sprechen sich dafür aus, das derzeitige Baurecht zu straffen, um zu kürzeren Planungszeiten zu kommen. Die öffentlichen Anhörungen sowie das Recht zur Klage vor den Verwaltungsgerichten soll aber nicht eingeschränkt werden. Eine Schlichtung - Mappus nennt es "Dialogforum" - könnte man sich zu Beginnn der Projektplanung vorstellen. Ob das die kontroversen Diskussionen vermeidet, wird man sehen, wenn demnächst Grossprojekte wie Stromtrassen und Pumpspeicherkraftwerke auf dem Plan stehen. Unbeeindruckt von diesen Überlegungen ist der harte Kern der Grünen:

Sie haben für kommenden Samstag bereits wieder zu einer "Grossdemo" gegen Stuttgart 21 aufgerufen.

Sonntag, 28. November 2010

Stuttgart 21: pro und contra

Stuttgart 21 - kurz: S 21 - ist in aller Munde, obschon nicht jeder weiss, was wirklich darunter zu verstehen ist. Nun, im Grunde besteht dieses Grossprojekt aus drei Teilprojekten, wovon der tiefgelegte Durchgangsbahnhof (anstelle des derzeitigen Kopfbahnhofs) mit seiner Anbindung an den Flughafen das wichtigste ist. Eine Neubaustrecke über die Schwäbische Alb mit einem 33 Kilometer langen Tunnel zwischen Wendlingen und Ulm ersetzt die sog. Geislinger Steige und, gewissermassen als Bonus, erhält die Stadt Stuttgart wegen der abgeräumten Gleise des Altbahnhofs in Zukunft ca. hundert Hektar Bebauungsfläche in bester Innenstadtlage.

Die Position der Parteien

Die konkreten Planungen für Stuttgart 21 begannen im Jahr 1994. Mehr als 60 Alternativen wurden geprüft; die Variante K 21, ein modifizierter Kopfbahnhof, war sogar Gegenstand eines Verwaltungsgerichtsverfahren in Mannheim und fiel dort durch. Über 11.000 Einsprüche von Bürgern und Verbänden wurden abgehandelt. Das Projekt wurde über 200 mal im Gemeinderat Stuttgart diskutiert und 146 mal im baden-württembergischen Landtag - jeweils in öffentlichen Sitzungen. Zehn Jahre lang war ein ein Grossmodell von S 21 im Turm des Stuttgarter Bahnhofs ausgestellt. Im Jahr 2009 erhielt das Projekt endlich die sog. Planfeststellung, d. h. die Baugenehmigung.
Anfang 2010 wurden Verträge zwischen Bund, Land, Stadt und der Deutschen Bundesbahn AG unterschrieben und mitte des Jahres rückten die Bagger an, um einige Vorbauten des alten Bahnhofs sowie einige Bäume im Stadtgarten zu fällen. Es kam zu öffentlichen Demonstrationen, die zum Teil gewalttätig waren. Nun positionierten sich auch einige politische Parteien neu. Die Grünen, welche vorher in Bund und Land das Projekt S 21 voll mitgetragen hatten - immerhin war es ein Eisenbahnprojekt - wandten sich ab und erklärten das Vorhaben für zu teuer und zu riskant; sie wollten den Kopfbahnhof beibehalten und ausbauen. Die SPD steht zwar - formal - noch zu S 21, will aber ihre endgültige Position von einem Volksentscheid abhängig machen; ausserdem zog sie ihren Projektsprecher, den Landtagsvizepräsidenten Wolfgang Drexler, zurück. Unverändert zu S 21 stehen die FDP und die CDU.
Signet der Gegner des Projekts Stuttgart 21

Im Oktober 2010 einigten sich die politischen Parteien und die Projektparteien (Land, Stadt und Bundesbahn) darauf, im Rahmen einer Schlichtung nochmals alle Fakten auf den Tisch zu legen. Als Schlichter schlugen die Grünen den in Baden-Württemberg (Oberndorf) geborenen und ehemaligen Bundesminister Dr. Heiner Geißler vor; die CDU war einverstanden, die FDP erst nach einigen Vorbehalten. Geißler identifizierte ein knappes Dutzend Sachgebiete, die im Stuttgarter Rathaus vor laufenden Kameras der TV-Sender Phönix und SWR öffentlich diskutiert werden sollten. Gegner und Befürworter durften jeweils sieben Mitglieder benennen, die ihrerseits durch Experten unterstützt werden konnen.

Einige Themen der Schlichtung

Der Durchgangsbahnhof S 21 und die Neubaustrecke (NBS) Wendlingen-Ulm schaffen neue Direktverbindungen mit kürzeren Fahrzeiten. So wird die Strecke Köln-Ulm um 80 Minuten, die Strecke Karlsruhe-Flughafen Stuttgart um 45 Minuten schneller. Im Regionalverkehr entstehen zahlreiche umsteigfreie Direktverbindungen... Die Gegner sprechen von einem menschenfeindlichen Tunnelbahnhof bzw. Kellerbahnhof und vermissen einen integrierten Taktfahrplan nach Schweizer Vorbild. Eine Verringerung des Flugverkehrs sei ebenfalls nicht zu erwarten.

Die Befürworter von S 21 sehen eine verkehrliche Magistrale von Paris bis Bratislava, dessen Herzstück Stuttgart ist. Auch die Europäische Union ist dieser Meinung, weshalb sie das Projekt mitfinanziert. Die europäischen Partner im Westen und die Zukunftsmärkte im Osten werden näher an Baden-Württemberg heranrücken. Im Falle der Nichtrealisierung der Magistrale besteht die Gefahr, dass B-W wegen seines veralteten Gleissystems über Frankfurt, Würzburg, Nürnberg, München etc. umfahren wird... Die Gegner halten den Begriff Magistrale für eine Kopfgeburt und einen Marketing-Gag, weil Stuttgart hinreichend zentral liege und seine Bedeutung immer behalten werde.

Die Gegner von S 21 schlagen einen modernisierten Kopfbahnhof K 21 vor. Er soll auf des Basis des gegenwärtigen Bahnhof abschnittsweise realisiert werden, einschliesslich eines Abstellbahnhofs in Obertürkheim und einer Anbindung an den Flughafen. So könne flexibel auf die jeweilige Finanzsituation reagiert werden. In summa sei der 16-gleisige Kopfbahnhof K 21 leistungsfähiger als der 8-gleisige Durchgangsbahnhof S 21...Für die Befürworter von S 21 ist K 21 lediglich ein Phanton. Es gibt dafür keine Planung, keine Genehmigung und keine Finanzierung. Die Modernisierung des Stuttgarter Bahnhofs würde um 30 bis 40 Jahre hinausgezögert werden. Ausserdem müsste für die Umbaumassnahmen der Betrieb des gegenwärtigen Bahnhofs stark eingeschränkt werden.

Grosse geologische Risiken sehen die Gegner von S 21 bei der Tieferlegung des Stuttgarter Durchgangsbahnhofs und bei dem Tunnel der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm. Diese seien bedingt durch den karstigen, löcherigen Untergrund und durch Anhydridschichten, welche in Verbindung mit Wasser aufquellen könnten. Des weiteren seien die Bad Canstatter Mineralquellen in Gefahr, weil sie durch Grundwasser kontaminiert werden könnten... Die Befürworter boten für diese beiden Themenkreise zwei sehr kompetente Experten auf, die überzeugend darstellen konnten, dass man den Verlauf der geologischen Schichten durch Probebohrungen sehr genau kenne und mit der heutigen Tiefbautechnik darauf reagieren könne. Ausserdem gebe es reichlich Erfahrung durch die vielen Strassenbahntunnels, von denen die Stuttgarter Innenstadt durchzogen sei und wo ähnlichen Problemen erfolgreich begegnet worden ist.

Die Befürworter von S 21 verweisen darauf, dass durch den Rückbau des riesigen Gleisfeldes des heutigen Kopfbahnhofs ein Areal von 100 Hektar in bester Lage für die Stadtentwicklung zur Verfügung stehen würde. Darauf könnten 11.000 Wohnungen und Geschäftsbauten entstehen und 20.000 Arbeitsplätze geschaffen werden... Die Gegner bezweifeln, dass die kleinteilige Wohnbebauung auf diesen Flächen wirklich umgesetzt wird; wahrscheinlicher sei eine Ansammlung öder Bank- und Versicherungsbauten. Sie verweisen auf das abschreckende Beispiel des Europaviertels mit seiner zu dichten Bebauung und architektonischen Verhunzung.


Signet der Grünen für die Beibehaltung des Kopfbahnhofs

Kosten und Finanzierung

Unerbittlich gestritten wurde über die Kosten des Tiefbahnhofs sowie der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm. Auch über die Ausstiegskosten im Falle einer Annullierung der bereits abgeschlossenen Verträge konnte man sich nicht einigen, sodass drei Wirtschaftsprüfungsfirmen mit der Analyse dieser Zahlen beauftragt wurden. Die Bahn schätzt die Kosten für S 21 auf 4,o88 Milliarden Euro und benennt 4,5 Milliarden als obere Grenze. Die Grünen rechnen mit mindestens 5,6 bis 6 Milliarden Euro. Die Wirtschaftsprüfer Pricewaterhouse Coopers und Susat GmbH stützen die Angaben der Bahn; der dritte, die Märkische Revision, sieht ein gewisses Risiko für die Überschreitung der Grenze von 4, 5 Milliarden.

Die Neubaustrecke wird von der Bahn mit 2,89 Milliarden veranschlagt; die Wirtschaftsprüfer stützen diese Zahl. Die Grünen gehen von 4,5 Milliarden Euro aus. Die sog. Ausstiegskosten bewertet die Bahn mit 1,5 Milliarden und erhält dafür ebenfalls das Votum der Prüfer. Die Kritiker von S 21 sehen es mit 0,6 Milliarden Euro weitaus geringer.

Die Finanzierung der o. g. Kosten für S 21 in Höhe von 4,5 Milliarden erfolgt durch Bahn (1747 Millionen Euro), Bund/EU (1229), Land (930), Stadt (291), Flughafen (227), und Region (100). Die Gegner sehen die Projektkosten nicht finanziert, u. a. deswegen, weil der Bund derzeit kein Geld hat.

Die Protagonisten

Die Schlichtungsverhandlungen waren auf 6 Tage angesetzt und wurden auf 8 Tage verlängert. Insgesamt dauerten sie über 60 Stunden, die komplett durch Phönix-TV übertragen wurden. Einen Grossteil davon habe ich mir angesehen. Das genügt, um einen Eindruck von den Hauptdarstellern zu gewinnen.

Heiner Geißler war der Chef im Ring. Als CDU- und Attac-Mitglied gleichzeitig, konnte er zu beiden Seiten gleichermassen Distanz halten. Und seine Erfahrung als langjähriger Generalsekretär der schwer zu bändigenden CDU-Partei blitzte immer wieder durch. War er früher ein jesuitischer Schlaufuchs, so ist der inzwischen 80-jährige zu einem sympathischen Troll mit Dalai Lama-Lachfalten mutiert. Und seine Lateinkenntnisse sind immer noch präsent, wenn er Gegner und Befürworter mit Sentenzen traktiert wie: "Nondum omnium dierum solem occidisse". Er hätte auch ganz einfach sagen können: "Noch ist nicht aller Tage Abend".

Der Bahnvorstand Volker Kefer war für mich die Überraschung der Veranstaltung. Er ist fachlich enorm kompetent und besitzt gleichzeitig eine freundliche bis verschmitzte Aussstrahlung, an der alle rüden Angriffe der S 21-Gegner einfach nur abprallen..Bestens unterstützt wurde er dabei von der baden-württembergischen Verkehrsministerin Tanja Gönner. Diese sympathische Politikerin mit der Kurzhaarfrisur ergänzte Kefer aufs beste in allen juristischen Fragen; ihre Vita als gelernte Rechtspflegerin und spätere Anwältin für Insolvenzrecht kam ihr dabei entgegen. Ministerpräsident Stefan Mappus, der wegen einer Asienreise nur zeitweise anwesend sein konnte, verteidigte das Projekt sehr gekonnt, insbesondere gegen den Bundestagsabgeordneten der Grünen, Winfried Hermann, der gleichzeitig machtvoller Vorsitzender des Berliner Verkehrsausschuss ist. Mappus versucht offensichtlich von seinem Rambo-Image wegzukommen; es schien, als habe er Kreide gefr...

Auf seiten der Gegner von S 21 stach besonders der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer hervor. Seine analytischen Kenntnisse als gelernter Mathematiker blitzten besonders bei den Fahrplandiskussionen immer wieder auf. Ansonsten gerierte er sich als gnadenloser Populist mit offensichtlichem Interesse für das Amt des Stuttgarter Oberbürgermeisters oder für ein Ministeramt, falls die Grünen tatsächlich stärkste Partei bei den Wahlen im März nächsten Jahres werden sollten. Winfried Kretschmann, Fraktionsvorsitzender der Grünen und ehedem Lehrer in Stuttgart spielte den seriösen Part und überzeugte viele mit seinen Argumenten. Lautstarke Aussenseiter waren Gangolf Stocker vom Aktionsbündnis gegen S 21 und Hannes Rockenbauch vom Bündnis Stuttgart Ökologisch Sozial (SÖS). Insbesondere letzterer fiel mehr durch schnoddrige Zwischenrufe als durch fundierte Sachbeiträge auf. Zeitweise entschuldigte er sich beim Vorsitzenden Geißler, weil er mal wieder demonstrieren gehen wollte. Ein Experte der besonderen Art war der schon genannte Grünen-Abgeordnete Winfrid Hermann, ehedem Lehrer an der Volkshochschule Stuttgart. Er sitzt in Berlin an zentraler Stelle bei der Vergabe von Finanzmitteln für Verkehrsprojekte und kann sicherlich viel Sand in S 21 streuen.

Nochmals zurück zu Heiner Geißler. Er soll bis Dienstag einen Kompromiss finden, wo es offensichtlich keinen gibt. Aber als langjähriger Politiker wird er auch diese Aufgabe meistern. In Stuttgart mutmasst man folgendes:

Heiner wird vorschlagen den derzeitigen Kopfbahnhof tiefer zu legen.

Sonntag, 21. November 2010

Promovieren beim Stalinpreisträger

Als ich Professor Riehl wegen eines Doktorthemas in seinem Arbeitszimmer beim Physikinstitut Maier-Leibnitz aufsuchte, sass er hinter seinem Schreibtisch und paffte eine dicke Zigarre. So habe ich ihn später noch oftmals gesehen und ganz selten ohne Zigarre. Er überraschte mich, indem er gleich nach der freundlichen Begrüssung fragte: " Was wissen Sie über Festkörperphysik?" Meine Antwort: "Nicht besonders viel, Herr Professor". Darauf Riehl: "Dann sind Sie für mich der richtige Mann. Sie werden eine Arbeit über strahleninduzierte Schäden an Festkörpern machen". Das Thema war damals heiss, denn wenige Monate vorher, im Oktober 1957, war im britischen Forschungszentrum Windscale einer der beiden Reaktoren durchgegangen, weil die strahleninduzierten Schäden an Grafit (sog. Wigner-Effekt) nicht richtig ausgeheizt worden waren. Es kam zu Brennelementschäden, Jodaustritt und Milchverseuchung im umgebenden Gelände, was zu weltweiter negativer Berichterstattung führte.

Professor Dr. Nikolaus Riehl (1901 - 1990) bei seinem Domizil in München (um 1987)

Ich sollte jedoch nicht Grafit studieren (Riehl: "Das machen jetzt die Engländer schon zur Genüge"), sondern stattdessen Kupfer, ein Metall mit wohldefinierten Eigenschaften. Ausserdem sollte ich nicht Neutronen, sondern Alphateilchen und Rückstossatome zur Bestrahlung verwenden. Riehl warnte mich ehrlicherweise noch vor der bescheidenen apparativen Ausstattung seines Bereichs: "Das Festkörperlabor ist erst im Aufbau; Sie müssen sich das notwendige Instrumentarium selbst beschaffen oder zusammenbauen". Diese offene Auskunft erschreckte mich nur mässig, denn längst hatte ich eine Idee, wie ich meine Doktorarbeit schnell durchziehen konnte. Das verriet ich "Papa Riehl" aber nicht.

Da mir das Gebiet der Veränderung der Materie durch Bestrahlung total fremd war, musste ich mich zuerst einlesen. Die Fachliteratiur war durchgängig anglo-amerikanisch, da bis vor wenigen Jahren den Deutschen die Hantierung mit Strahlenquellen noch verboten war. So las ich denn eifrig die Zeitschrift "Physical Review" zum Thema "radiation damage". Die Autorennamen Seitz, Dienes, Mullins etc. sind mir daraus auch heute noch in Erinnerung.

Die Idee

Als ich genügend Literaturkenntnisse angehäuft hatte, machte ich mir einen Plan, wie ich bei meiner Arbeit vorgehen wollte. Vereinfacht gesagt ging es darum, einen Kupferblock verschiedenen Bestrahlungen zu unterziehen und danach seine Oberfläche und sein Inneres auf Veränderungen zu durchmustern. Hierzu benötigte ich eine grosse Anzahl von Gerätschaften und Instrumenten bis hin zum Elektronenmikroskop. Nichts davon war im Riehl´schen Institut vorhanden. Und hier setzte meine Idee ein, die ich oben schon angedeutet habe, ohne sie jedoch genauer zu erläutern. Sie lautete ganz schlicht: "alles existiert schon, man muss es nur finden". Übertragen auf meine damalige Situation bedeutete dies: "Nichts beschaffen, keine Versuchsapparaturen selbst aufbauen, sondern bei anderen Labors und Instituten, welche diese Geräte bereits besitzen, als Gast experimentieren."

Und Institute und Laboratorien gab es damals an der Universität und der Technischen Hochschule München zuhauf. Die Physikinstitute bei Gerlach und Joos kannte ich aus eigener Anschauung; daneben waren aber auch die Abteilungen der Physikochemie , des Maschinenbaus und der Mineralogie apparativ gut ausgestattet. Und überall gab es auskunftsfreudige (meist ältere) Konservatoren, die jedes Gerät und seinen Standort in der Landeshauptstadt kannten und bereit waren, mir Empfehlungen an ihre dortigen Kollegen mitzugeben.

So ergab es sich, dass ich mit meinen Kupferklötzen fast ständig auf Wanderschaft war und in München von einem Institut zum anderen pendelte. Bei den Metallkundlern benutzte ich deren ausgezeichnete Lichtmikroskope , bei den Mineralogen borgte ich mir die Kristalloflexgeräte für Debye-Scherrer-Aufnahmen aus und am 2. Institut der Uni bei Professor Rollwagen war ich Gastforscher am dortigen Elektronenmikroskop für Oberflächenabbildungen und zur Elektronenbeugung. Alle Geräte waren in der Regel bestens justiert und überall gab es hilfreiche Assistenten, wenn ich den Namen Maier-Leibnitz als "Türöffner" fallen liess. (Später, als Brüterprojektleiter in Karlsruhe, habe ich auch die entgegengesetzte Arbeitsweise erfahren und mich oft darüber geärgert: da gab es Forscher in bestens ausgestatteten Labors, die von ihrem Gerätefetischismus nicht abzubringen waren und jede neue Aufgabe erst mit einer 6 bis 12-monatigen Beschaffungsorgie beginnen mussten.)

Der Effekt

Eine Doktorarbeit anzufangen ist viel leichter, als sie zu beenden. Im Grunde gibt es dafür drei Möglichkeiten. Der Doktorand kann seinen Doktorvater mit einer riesigen Versuchsapparatur beeindrucken, die vom Aufwand her schon doktorwürdig ist und an der andere später weiter experimentieren können. Oder er produziert eine grosse Datenmenge, die zwar niemanden sonderlich interessiert, welche aber vielleicht Eingang in die Gmelinsche Datensammlung findet. Oder - und das ist der Glücksfall - man findet einen "Effekt". Das muss nicht immer gleich etwas Nobelpreisverdächtiges wie im Falle von Mössbauer sein. Es genügt, dass man ein überraschendes Ergebnis findet, das sich visuell gut darstellen lässt und - das ist wichtig - welches die Physikerkollegen als Effekt akzeptieren.

Ich hatte das Glück bei meiner Doktorarbeit einen solchen Effekt zu finden. Bei den Untersuchungen mit dem Elektronenmikroskop stellte ich nämlich fest, dass die ursprünglich raue geätzte Kupferoberfläche sich durch die Bestrahlung mit Alphastrahlen zunehmend glättete. Der Effekt war so überraschend eindeutig und optisch so gut darstellbar, dass Professor Riehl mich aufforderte, nach ein paar Kontrollversuchen an Bor mit den Experimenten aufzuhören und die theoretische Erklärung für dieses Phänomen zu suchen. Ich bot hierfür die Diffusion an, welche nach meiner rechnerischen Abschätzung den Massentransport bewirken konnte. Offensichtlich waren die Gitteratome des Kupfers durch die Bestrahlung beweglich geworden und hatten sich auf andere Potentialplätze begeben. Die bestrahlungsinduzierte Produktion von Leerstellen erhöhte nach meinen Rechnungen die Diffusionskonstante um mehrere Zehnerpotenzen und war wohl für die Einebnung der Kupferoberfläche verantwortlich.

Kupferoberfläche im Elektronenmikroskop; unbestrahlt (links) und bestrahlt (rechts)

Mitte 1959, nach eineinhalb Jahren, war ich in der Lage die Experimente und Theorien abzuschliessen und meine Doktorarbeit zusammen zu schreiben. Das war kein grosser Aufwand, denn 39 Schreibmaschinenseiten waren schnell getippt. Weitere zwei Monate bereitete ich mich auf das Rigorosum vor, bei dem mich Riehl, Maier-Leibnitz und der Theoretiker Hettner ausfragen wollten. Riehl war, wie beim Doktorvater zu erwarten, milde in seinen Fragen; ML liess sich die verschiedenen, damals bekannten Beschleunigertypen erklären und Hettner erkundigte sich über meine Kenntnisse in Thermodynamik. Im Grunde war die Doktorprüfung eine Reprise des Hauptdiploms. Die gelehrten Herren gaben mir, etwas grosszügig wie mir schien, eine Note die zwei Stufen über "rite" lag und damit hatte ich in zwei Jahren den Dr. rer. nat. geschafft - vom Beginn des Studiums an gerechnet in 14 Semestern.

Mein Doktorthema fand in der Folge noch einige Fortsetzungen. Besonders gefreut habe ich mich über die Habilitationsschrift meines Betreuungsassistenten Dr. Rudolf Sizmann. (Bestrahlungssimulierte Diffusion an Metalloberflächen, 1962) und über die Doktorarbeit meines späteren Freundes Ulrich Däunert, der 1964 mit dem Thema Bestrahlungsstimulierte Einebnung von Kupferoberflächen promovierte.

Meine Arbeit durfte ich, wie es damals üblich war, bei der Physikertagung vortragen. Sie fand in Erlangen statt und der Aufwand dafür (früh hin, abends zurück, 2. Klasse Bahn) war überschaubar. Meine verschiedenen Gastgeber an der genannten Münchener Instituten berechneten mir keine Gebühren, sodass als Kosten im wesentlichen nur einige Merk-reine Materialien zu Buche schlugen.

Insgesamt hat meine Doktorarbeit dem Institut Riehl so um die tausend Mark gekostet.

Sonntag, 14. November 2010

Die "Heimkehr der Zehntausend"

An der Rückkehr von Nikolaus Riehl samt Familie und Gefährten war der damalige deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer massgeblich beteiligt. Er nutzte die Gunst der Stunde als 1953 Stalin gestorben war und in der Sowjetunion eine neue politische Generation das Ruder ergriff. Der nunmehrige Parteichef Nikita Chruschtschow war zwar von Emotionen getrieben, aber er brachte auch Bewegung in die seit zehn Jahren festgefahrene Politik zwischen der westdeutschen Bundesrepublik und der UdSSR. Unterstützt wurde er dabei von seinem Ministerpräsidenten Nicolai Bulganin, dem aber noch eine Zeitlang Aussenminister Molotow als "Bremser" beigegeben war.

Die Rückkehrer

Über die sowjetische Botschaft in Paris wurden im Frühjahr 1955 die ersten diplomatischen Fäden geknüpft und schon im September des gleichen Jahres flog Adenauer zu einem Staatsbesuch in die Sowjetunion. Beide Seiten verbanden mit diesem ersten Kontakt unterschiedliche Erwartungen. Die Sowjets wollten diplomatische Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland aufnehmen; die deutsche Seite war daran interessiert, die restlichen Kriegsgefangenen aus der UdSSR zurück zu holen. Damals befanden sich noch knapp 10.000 Wehrmachts- und Waffen-SS-Soldaten sowie rund 20.000 politisch inhaftierte Zivilisten in sowjetischer Gefangenschaft - wozu auch die deutschen Wissenschaftler um Riehl gehörten.


Briefmarke (1953) zum Gedenken an die deutschen Kriegsgefangenen

Über die Kriegsgefangenen war man sich schnell einig; die Freilassung der Zivilinternierten wurde kurz vor dem Ende der offiziellen Verhandlungen in einem persönlichen Gespräch zwischen Adenauer und Bulganin vereinbart. Bei der russischen Bevölkerung war die Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen übrigens äusserst unpopulär, da die massiven Kriegsschäden noch überall zu besichtigen waren. Auch die DDR kritisierte die Einigung zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion heftig, da sie nicht an die gewünschte diplomatische Anerkennung ihres Landes gekoppelt war.

Im Oktober 1955 kamen die ersten Rückkehrer in den Grenzorten Friedland und Herleshausen an. Die sogenannte "Heimkehr der Zehntausend" war ein Ereignis, das die deutsche Öffentlichkeit im Innersten berührte und massgeblich zu Adenauers langer Regentschaft als Bundeskanzler beitrug. Die "Spätheimkehrer" erhielten pro Jahr Gefangenschaft 360 D-Mark Entschädigung - das Vaterland liess sich nicht lumpen. Den Wissenschaftlern machte man Stellenangebote entsprechend ihrer beruflichen Erfahrung. So wurde Günter Wirths ranghoher Manager bei der Brennelementefirma Nukem, H-J Born, K. G. Zimmer und A. Katsch bekamen Institutsleiterposten beim Kernforschungszentrum Karlsruhe angeboten. Nikolaus Riehl wurde, wie früher bereits vermerkt, Professor für Festkörperphysik im Institut von Maier-Leibnitz an der Technischen Hochschule München.



Mutter eines Kriegsgefangenen dankt Bundeskanzler Konrad Adenauer nach seiner Rückkehr aus Moskau auf dem Flughafen Bonn/Köln

Als Diplomand bei Maier-Leinitz

An die Einführung von Riehl im Institut kann ich mich nicht mehr erinnern, da ich zu jener Zeit (um 1956) ganz in meine Diplomarbeit vertieft war. Das Thema war durchaus interessant (Messung der Feinstruktur von Alphastrahlen am Ende der Bragg-Kurve), aber der Weg dorthin erwies sich als sperrig. Ich musste mir alle Messgeräte für dieses kernphysikalische Thema selbst zusammen basteln und das waren nicht wenige: eine Ionisationskammer, Zählgeräte mit Untersetzer und Vielkanalanalysatoren sowie ein siebenstufiger Impulsverstärker. Insbesondere der Bau des Verstärkers war sehr zeitaufwendig, denn die damals noch daumendicken Elektronenröhren hatten die unangenehme Eigenschaft zu oszillieren, sodass am am Schluss meist ein Sender herauskam. Diese "Radiobastelei" bei ML ging mir gewaltig auf die Nerven; ich war einfach nicht der Typ für derlei Aufgaben.

Nun, durch allerlei Abschirmtricks konnte ich das Schwingungsproblem beheben und endlich die eigentlichen Messungen an den Alphastrahlen erledigen. Mein Chef Maier-Leibnitz schien einigermassen zufrieden zu sein, denn mit zehn Semestern liess er mich zur Hauptdiplomprüfung zu und bot mir danach sogar eine Doktorarbeit auf einem ähnlichen Gebiet an. Damit hatte ich insgeheim gerechnet, ich war aber entschlossen abzulehnen und hatte mir dafür bereits eine Strategie zurecht gelegt: ich bedankte mich höflich für sein Angebot, fragte aber keck, ob ich nicht ein Thema aus der Festkörperphysik bearbeiten dürfe - zur Erweiterung meiner Physikkenntnisse. ML war etwas überrascht, ging aber auf den Vorschlag ein und schickte mich zu seinem Kollegen Professor Riehl, dem ich meinen Wunsch vortragen sollte.

Das war mir sehr recht, denn für Riehl hatte ich eine weitere Strategie parat.

Sonntag, 7. November 2010

Deportiert in die Sowjetunion

Als die alliierten Truppen 1945 in Deutschland einrückten, befanden sich die meisten Laboranlagen für das Projekt "Uranmaschine" in der sog. Westzone; die Fabriken zur Herstellung des Urans waren jedoch in der "Ostzone", also im Einzugsbereich der Sowjets, lokalisiert. Wenige Tage vor Eintreffen der russischen Besatzungstruppen bombardierten die Amerikaner das in Oranienburg, nördlich von Berlin, gelegene Werk der Auergesellschaft, einer Tochterfirma der Degussa, und schlugen alles kurz und klein. Der Plan der Sowjets, diese Anlagen zum Aufbau eines eigenen Atomprogramms zu nutzen, war damit fürs erste verhindert. Der "Kalte Krieg" hatte begonnen.

In der Folge demontierten die Russen trotzdem alles, was von dem Werk übrig geblieben war. Alle Restmaterialien bis zur (buchstäblich) letzten Schraube wurden auf Eisenbahnwaggons verladen und in die UdSSR befördert. Zur gleichen Zeit wurden die Wissenschaftler, welche im Osten am deutschen Uranprogramm mitgewirkt hatten, ausfindig gemacht und in Berlin interniert. Dies waren u. a. Gustav Hertz, Manfred von Ardenne, Günther Wirths, K. G. Zimmer, H. J. Born und Nikolaus Riehl. Letzterer war den Besatzern besonders wichtig, denn der 38-jährige Riehl war der technische Direktor des Uranbetriebs bei der Auergesellschaft gewesen. . Er sprach perfekt russisch, weil er als Sohn eines deutschen Siemensdirektors und einer russischen Mutter die ersten 17 Jahre (bis zum Ausbruch der Oktoberrevolution) in St. Petersburg verbracht hatte. Später studierte Riehl Physik in Berlin, wo er bei Otto Hahn promovierte und habilitierte. Er galt als einer der ersten Festkörperphysiker in Deutschland und hatte sich einen internationalen Ruf auf dem Gebiet der Lumineszenz und der Leuchtstoffröhren erworben.

Die genannten Wissenschaftler wurde neben Dutzenden weiterer - zusammen mit ihren Frauen und Kindern(!) - in die Sowjetunion deportiert und auf verschiedene Orte in diesem riesigen Land verteilt. Riehl und seine Kollegen waren in einer ehemaligen Munitionsfabrik 70 Kilometer östlich von Moskau untergebracht. Ihnen wurde unmissverständlich befohlen aus den Überbleibseln der Oranienburger Anlage auf dem schnellsten Weg eine Fabrik zur Gewinnung von Uranmetall und Uranoxid aufzubauen. In diesem jämmerlichen Provinzort namens Ferrostal - der aus Geheimschutzgründen auf keiner Landkarte verzeichnet war - standen sie während der folgenden fünf Jahre unter direkter Aufsicht des sowjetischen Atomministers Sawenjagin, welcher früher Stellvertreter des gefürchteten Geheimdienstchefs Beria war.


Nikolaus Riehl versucht sich als Reiter

Der Druck der Moskauer Politiker auf die deutschen Wissenschaftler war enorm. Sie sollten möglichst umgehend Uran im Tonnenmassstab produzieren, hatten aber angesichts der allseitigen Materialknappheit dafür nicht die notwendigen Ressourcen. Auf einen dringend benötigten Transformator zur Metallschmelze mussten sie beispielsweise acht Monate lang warten, da er 75 Kilogramm Kupfer enthielt, was damals ein sehr rares Element in der UdSSR war. Trotzdem ergaben sich in dieser Zwangslage immer wieder skurrile, ja humorvolle Situationen. Einige davon hat mir Nikolaus Riehl selbst erzählt, mit dem ich später in eine enge Verbindung kommen sollte.

Einmal besuchte der Atomminister Sawenjagin das primitive Laboratorium in der Munitionsfabrik. Er liess sich von dem russischen Laborpersonal, das ehrerbietig um ihn herum stand, erklären, woher die verschiedenen Geräte stammten. Auf alle seine Fragen erhielt er die Antwort, dass es sich um Kriegsbeute aus Deutschland handele. Als dann plötzlich eine Ratte vorbei huschte meinte er grimmig: "Die wird wohl von uns sein."

Sehr negativ wirkte sich auch die bürokratische sowjetische Planwirtschaft aus. Einmal bestellte Riehl zwei Kilogramm Kaliumpermanganat, das aber ewig nicht geliefert wurde. Als es schliesslich nach zwei oder drei Jahren ankam - und längst vergessen war - wurden statt der zwei Kilo zwei volle Güterwaggons dieser Chemikalie geliefert. Irgendjemand hatte in der Zwischenzeit, wohl versehentlich (und ohne nachzudenken), Planübererfüllung betrieben.

Als die Riehl-Gruppe dickwandige Vakuumgummischläuche benötigte musste sie sich hilfesuchend an Moskau wenden. Dort wurde ein Regierungsbeschluss(!) herbeigeführt und eine Fabrik, welche gewöhnlich Gummistiefel herstellte, mit der Produktion beauftragt. Das Ergebnis war von miserabler Qualität. Minister Sawenjagin war wütend und schickte den armen Direktor der Galoschenfabrik für fünf Jahre ins Gefängnis. Die deutsche Gruppe hatte Erbarmen mit ihm und übte daraufhin grösste Zurückhaltung bei Beschwerden.

Zweimal hatte Riehl persönlichen Kontakt mit dem allmächtigen KGB-Geheimdienstchef Beria., dem Organisator der gefürchteten Gulag-Arbeitsläger. Er war im persönlichen Umgang äusserst liebenswürdig; aber es ist wohlbekannt, dass Leute seines Schlags im privaten Verkehr sehr nett sein können. (Auch Himmler soll ein charmanter Gesellschafter gewesen sein.) Beria liess sich von Riehl den Stand der Arbeiten erklären und schien mit den Fortschritten zufrieden zu sein. Trotzdem hinterliess er einen schriftlichen Befehl, dass sich die Bewacher der Deutschen niemals mehr als eineinhalb Meter (!) von der zu begleitenden Person entfernen dürften. (Riehl waren tagsüber zwei und sogar noch nachts ein Bewacher zugeteilt). Übrigens: Beria wurde 1953, nach dem Ende der Stalin-Ära, urplötzlich als "Verräter der Sowjetunion" erkannt und standrechtlich erschossen.

Eine bedrohliche Situation entwickelte sich, als im produzierten Uran eines Tages eine zu hohe Konzentration an Bor festgestellt wurde. Das Element Bor ist bekanntlich der Feind Nr. 1 für die Verwendung im Reaktor. Die Moskauer Nomenklatura drohte der Gruppe bereits mit der Einlieferung in ein Arbeitslager, als schliesslich die Erklärung gefunden werden konnte: Bei der Demontage des Oranienburger Werkes hatten die Arbeiter selbst den Dreck auf dem Boden zusammen gekratzt, der aber mit Borsäure für die Leuchtstoffherstellung vermischt war. Nachdem man dieses Fremdmaterial aus dem Prozess entfernt hatte, verschwand auch das Borproblem und die Funktionäre beruhigten sich.

Im Jahr 1950, fünf Jahre seit der Deportation, war es so weit, dass die Fabrik pro Tag eine Tonne Uran abliefern konnte. Die Sowjets waren zufrieden und beauftragten eigene Wissenschaftler und Ingenieure mit dem weiteren Routinebetrieb. Über die Deutschen ergoss sich ein wahrer Ordens- und Prämiensegen, wo auf Riehl der grösste Anteil abfiel. Er bekam den "Stalinpreis", wurde "Held der sozialistischen Arbeit" und erhielt ausserdem den prestigeträchtigen "Leninorden". Darüberhinaus erhielt er eine "Datscha" geschenkt in einer hübschen bewaldeten Gegend westlich von Moskau, wo sich die Häuser der Regierungsmitglieder befanden.


Der Leninorden (links) und der Stalinpreis (als Briefmarke)

Diese Überhäufung mit Ehrungen und Gütern brachte das Ehepaar Riehl und seine beiden Töchter in arge Bedrängnis. Denn damit verbunden war der dringende Wunsch der russischen Seite, dass die Riehls für immer in der Sowjetunion bleiben sollten. Das kam für die Deutschen aber nicht in Frage. Sie machten deutlich, dass sie nach Deutschland - u. zw. nach Westdeutschland - zurückkehren wollten.

Die russischen "Gastgeber" waren verschnupft und konterten, indem sie Riehl (samt Familie) auf "Quarantäne" setzten. Sie mussten weitere fünf Jahre in der Sowjetunion bleiben, bevor sie ausreisen durften. Die ersten zwei Jahre verbrachten die Riehls mit den befreundeten Kollegen Zimmer, Born, Wirths und Katsch östlich des Urals, also in Sibirien, wo er Leiter eines Instituts für radioaktive Isotope wurde. Die folgenden drei Jahre "genoss" Riehl an der kaukasischen Küste des Schwarzen Meeres; hier durfte er sich mit Festkörperphysik beschäftigen und konnte somit Themen ausserhalb der Geheimhaltung bearbeiten.

Schliesslich, im Jahr 1955, zehn Jahre nach der Deportation in die UdSSR, durfte Nikolaus Riehl mit seiner Familie ausreisen. Bei der Durchfahrt durch die DDR versuchte ihn Walter Ulbricht in einem persönlichen Gespräch noch einmal zum Bleiben zu überreden - aber vergeblich. (Manfred von Ardenne beschloss zu bleiben und wurde zu einen strammen Kommunisten.) Riehl aber war auf dem Weg nach München und niemand konnte ihn mehr aufhalten. Zwei Jahre darauf checkte er an der Technischen Hochschule als Professor für Festkörperphysik und Stellvertreter von Maier-Leibnitz ein.

Ich wurde sein erster Doktorand.

Samstag, 30. Oktober 2010

Interniert in England

Als im Frühjahr 1945 die militärische Front des 2. Weltkriegs immer näher an Hechingen und Haigerloch heranrückte, machten sich die deutschen Atomforscher um Heisenberg, Gerlach und Wirtz ihre Gedanken darüber, wie die Materialien und Experimentieranlagen vor den allierten Truppen zu verstecken seien. Schliesslich beschloss man das Uran und die Neutronenquellen auf einem Feld bei Haigerloch zu vergraben; das Schwere Wasser wurde nahebei im Keller einer Mühle eingelagert.

Ab nach Farm Hall

Im Gefolge der kämpfenden (französischen) Truppen kam eine Spezialeinheit des amerikanischen Geheimdienstes an, die schon 1943 aufgestellt worden war und seitdem alle Erkenntnisse über das deutsche Uranprogramm per Spionage sammelte. Durch einen Trick veranlasste sie Wirtz und C.-F. v. Weizsäcker ihnen das Versteck der Uran- und Schwerwasservorräte mitzuteilen: mit dem Hinweis, "dass diese Materialien gebraucht werden, wenn die Deutschen ihre Forschungen anderswo wieder aufnehmen würden".


Die Amerikaner graben das bei Haigerloch versteckte Uran aus

Im Sommer 1945 wurden die wichtigsten Mitglieder des (west-)deutschen Atomprogramms sistiert, nämlich Werner Heisenberg, Otto Hahn, Max v. Laue, Walter Gerlach, Kurt Diebner, Erich Bagge, Paul Harteck, Horst Korsching sowie Karl Wirtz und Carl-Friedrich von Weizsäcker. Diese Zehn verbrachte man nach England und internierte sie in Farm Hall einem Landhaus nördlich von London. Vorher hatte der amerikanische Geheimdienst noch versichert, dass er ihre in Deutschland verbleibenden Familien, insbes. die Frauen, vor den gefürchteten Übergriffen der Marokkaner schützen würde, was auch eingehalten wurde.

In Farm Hall waren die Forscher "special guests" und konnten sich frei bewegen. Was sie nicht wussten war, dass der Geheimdienst vorher alle Räume bis hin zu den Toiletten mit Abhörmikrofonen bestückt hatte, um die Gespräche der Physiker und damit ihren "trend of thoughts" verfolgen zu können. Daraus entstand ein 212-seitiges Wortprotokoll, das 1992 für die Öffentlichkeit freigegeben wurde.




Das Landhaus Farm Hall (Federzeichnung von Bagge)

Ein besonderer Tag war der 6. August 1945. Die Gruppe befand sich im Aufenthaltsraum, als im Radio der Abwurf der ersten Atombombe auf Hieroshima bekannt gegeben wurde. Erstaunlich war, dass gerade Heisenberg zuerst nicht an eine nukleare Reaktion glauben wollte, sondern eine "Hochdruckbombe auf chemischer Basis" vermutete. Aber die weiteren Meldungen machten klar, dass es sich wirklich um eine Uranbombe gehandelt hatte. Sofort stellte sich die Frage nach der Herkunft des Uran 235. Gerlach vermutete, dass es über magnetische Separation gewonnen worden war; Wirtz, der erfahrene Physikochemiker, tippte auf Diffusion und lag damit richtig. Ganz geknickt und nahe am Suizid war Otto Hahn. Er empfand persönliche Schuld in Verbindung mit der von ihm entdeckten Kernspaltung. Man richtete eine Nachtwache ein, um sicherzustellen, dass Hahn sich nichts antun würde.

Die siegreichen Verlierer

Nach dem Abwurf der zweiten Atombombe auf Nagasaki klärte sich die technische Diskussion. Heisenberg musste zugeben, dass er mit seiner Chemiebombe daneben lag. Hektisch unternahm er - nur mit Bleistift und Papier - eine Anzahl von Rechnungen und überraschte seine Kollegen mit einem "Kolloquiumsvortrag" - der natürlich auch abgehört wurde - und bei dem er die kritische Masse der Bomben auf ca. 50 Kilogramm Spaltstoff bezifferte, womit er um den Faktor 5 zu hoch lag. "Gott sei Dank, wir konnten die Bombe nicht bauen", war seine Aussage.

Carl-Friedrich v. Weizsäcker, politisch clever wie alle im Clan der Weizsäckers, strickte diesen Gedanken weiter. Er hatte als Erster erkannt, dass sich der technische Rückstand der Deutschen in einen moralischen Vorsprung verwandeln liess, wenn es gelang, unzureichendes Können als Indiz für fehlendes Wollen auszugeben. Fortan hiess es, dass die entscheidenden Personen der deutschen Atomforschung die Bombe einfach nicht gewollt hätten - wäre es anders gewesen, dann hätten sie es auch geschafft. Aus diesem Argument ergab sich zudem die Chance als Nazi-Gegner, ja sogar als Widerständler zu erscheinen, was zumindest Gerlach und Diebner nie waren.

In der Nachkriegszeit beherrschten Heisenberg und Weizsäcker mit ihrer apologetischen Darstellung die öffentliche Diskussion. Die anderen schwiegen; wahrscheinlich hatten sie erkannt, wie vorteilhaft es ist, etwas, das man nicht können soll, auch nicht gewollt zu haben. Ihr bekanntestes Dokument ist die "Erklärung der Göttinger Achzehn" aus dem Jahr 1957, das eine atomare Aufrüstung der Bundeswehr ablehnte, gleichzeitig aber dafür plädierte, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern.



Anfang1946 war die Internierung zu Ende und die Zehn wurden zu ihren Familien nach (West-) Deutschland entlassen. Zuvor, im November 1945, erhielt der noch in Farm Hall gefangen gehaltene Otto Hahn den Nobelpreis für Chemie des Jahres 1944. Die schwedische Kommission hatte alle Bedenken beiseite gerückt und nur die wissenschaftliche Grosstat von Hahn bewertet.

Leider hat sie dabei die Verdienste von Lise Meitner übersehen.

Postscriptum:

Etwa zur gleichen Zeit wurden Wernher v. Braun und seine hundert Mitarbeiter mit grossen Ehren in den USA empfangen und in Huntsville, Alabama, zur Fortführung ihrer Arbeiten ermuntert. Zuvor waren bei der Produktion der Raketen in unterirdischen Konzentrationslägern (wie Dora in Thüringen) tausende von jüdischen Zwangsarbeitern umgekommen. Beim Abschuss der V1- und V2-Waffen kamen mehr als 20.000 britische Zivilisten ums Leben.

Spricht hier etwa jemand von Moral?

Sonntag, 24. Oktober 2010

Heisenberg im Abseits

Nach der missglückten Bewerbung um die Sommerfeld-Nachfolge in München (voriger post), erhielt Werner Heisenberg 1928 den Lehrstuhl für theoretische Physik an der Universität Leipzig. In der "Provinz" duldeten die Nazi-Oberen gelegentlich auch Leute, die nicht Mitglied der NSDAP waren.



Werner Heisenberg (1901-1976)

Am 1. September 1939 begann der 2. Weltkrieg und wenige Tage später empfing Heisenberg den sogenannten Gestellungsbefehl. Aber nicht für die Gebirgsjäger, bei denen er gedient hatte, sondern für das Heereswaffenamt (HWA) in Berlin. Dort erhielt er den Auftrag, den Prozess der Kettenreaktion bei Uran zu untersuchen, die Otto Hahn und seine Mitstreiter vor Jahresfrist entdeckt hatten. Heisenberg erledigte diese Arbeit mit Bravour. Bereits Anfang 1940 legte er zwei Berichte unter dem Titel "Die Möglichkeiten der technischen Energiegewinnung aus der Uranspaltung, I u. II" vor. Enrico Fermi hatte in den USA, etwa zur gleichen Zeit, die gleiche wissenschaftliche Aufgabe gelöst. In Deutschland und Amerika lagen die Forscher damals bei der Entwicklung des Kernreaktors also gleichauf.

Arbeiten an der Uranmaschine

Das änderte sich in den darauffolgenden Jahren. Während in den USA - auf Anregung von Albert Einstein und auf Anordnung von Präsident Roosevelt - das Projekt "Manhattan" begonnen wurde, welches über die Entwicklung der Kernreaktoren bis zur Atombombe führte, dümpelte in Deutschland die Entwicklung der "Uranmaschine" (so nannte man damals den Kernreaktor) weitgehend unkoordiniert vor sich hin. Zum Bau einer Atombombe kam es - glücklicherweise - überhaupt nicht.

Verantwortlich dafür die mangelhafte Organisation der Reaktorarbeiten durch das HWA und seinen Bevollmächtigten Walter Gerlach. Zweifellos hatte Heisenberg mit Abstand den besten Durchblick bei der Uranspaltung, aber als Führungsperson kam er nicht infrage, da er den Nazis weiterhin suspekt war. So werkelten parallel eine Reihe von Kleingruppen vor sich hin, von denen jede versuchte , das Ziel - eine sich selbst tragende Neutronenvermehrung in der Urananordnung - als erste zu erreichen. Die Führungspersonen dieser Gruppen waren u. a. Diebner in Berlin, Harteck in Hamburg, Bothe in Heidelberg sowie Heisenberg in Leipzig bzw. später (mit Wirtz) in Berlin und Haigerloch. Eine gravierende Folge dieses Klein-Klein war die Aufsplittung der wertvollen Ressourcen Uran sowie des Schweren Wassers. Spätere Nachrechnungen haben ergeben, dass man bei Zusammenlegung dieser Materialien bereits 1942 einen kritschen Reaktor erhalten hätte.

Bei diesen Miniversuchen offenbarten sich auch die limitierten Fähigkeiten Heisenbergs auf dem Gebiet der experimentellen Physik. Bei einem Versuch im Jahr 1942 an seinem Leipziger Institut geriet durch Unachtsamkeit das Uranmetallpulver ins Brennen und Heisenberg konnte sich (zusammen mit seinem Assistenten Döpel) nur mit einem beherzten Sprung durchs Fenster von der nachfolgenden Explosion retten. "Des is wohl so etwas wie Adomzerdrimmerung" bemerkte der sächsische Feuerwehrhauptmann - wobei er jedoch nicht das Richtige traf.

Die folgenschwerste Fehlleistung unterlief Professor Walter Bothe in Heidelberg. Er sollte den Absorptionsquerschnitt von Grafit für langsame Neutronen bestimmen. Leider geriet die Messung so falsch, dass man vermuten musste, diese Substanz käme als Moderator für Kernreaktoren nicht infrage. Deshalb stand in der Folge nurmehr das rare Schwere Wasser für diese Zwecke zur Verfügung, dessen Produktionsanlagen in Norwegen aber ständig von den Alliierten bombardiert wurden.

Ab 1943 - die Amerikaner hatten längst ihren ersten (grafitmoderierten) Atomreaktor in Chicago ins Laufen gebracht - bündelte man endlich in Deutschland die Kräfte und betrieb den Umzug aus dem bombenbedrohten Berlin ins württembergische Haigerloch. Heisenberg liess, gut versteckt unter der Schlosskirche, einen Felsenkeller für seine Gerätschaften bauen. Zwischendurch entspannte er sich mit Orgelspielen und Fahradfahren. Aber es war zu spät. Beim Grossversuch B8 stellte man zwar eine Neutronenvermehrung um den Faktor 7 fest, zur Kritikalität reicht dies jedoch nicht. Die einrückenden alliierten Streitkräfte beendeten am 20 April 1945, sinnigerweise also an "Führers" Geburtstag, die deutschen Atomversuche abrupt.


Konstruktionsskizze für die Uranmaschine in Haigerloch

Atombombe kein Ziel

Immer mal wieder wird kolportiert, deutsche Wissenschaftler hätten während des Krieges versucht, eine Atombombe zu entwickeln. Dies ist falsch und hätte auch nicht zum Ziel geführt, wie unten noch dargestellt wird. Freilich, das Wissen, dass eine Bombe auf atomarer Basis möglich sein könnte, war unter den Kernphysikern der damaligen Zeit weit verbreitet. Aber nicht alle glaubten an ihre verheerende Wirkung; nicht wenige Wissenschaftler vermuteten, dass der Prozess der Kettenreaktion das Uran vorzeitig zum Verdampfen bringen würde, sodass die Bombe nur eine geringe Brisanz haben würde. Fakt ist, dass es auf seiten der deutschen Politiker keinen Befehl zur Entwicklung einer Atombombe gab. Hitler - darin nicht vergleichbar mit Roosevelt - hielt nicht viel von Kernphysik. Sein militärisches Interesse galt den Raketenwaffen V1 und V2. Wernher von Braun stand ihm unendlich viel näher als Werner Heisenberg.

Der Weg zur Atombombe führt über die beiden Materialien Uran 235 und/oder Plutonium 239. Beide sind in dieser Form in der Natur nicht vorhanden, müssen also künstlich hergestellt werden. Das U-235 gewinnt man über einen Isotopentrennprozess, das Pu-239 über spezielle Kernreaktoren. Wer nach 1945 die Chance hatte, diese Anlagen in USA zu besichtigen, war beeindruckt von ihrer schieren Grösse. Die Isotopentrennanlage in Oak Ridge auf der Basis des Diffusionsprozesses und die Produktionsreaktoren für Plutonium in Hanford bedecken ein Areal von vielen Quadratkilometern und haben einen gewaltigen Energieverbrauch. Damit wurde bis 1945 das Material für nur zwei (!) Bomben hergestellt. Undenkbar, dass in Deutschland, bei den ständigen Luftangriffen, ähnliche Anlagen hätten gebaut und betrieben werden können.

Nicht unmöglich war das viel bescheidenere Ziel eines kritischen Uranreaktors. Dass selbst dies nicht erreicht wurde, ist dem (projektleitenden) Heereswaffenamts und den Wissenschaftlern selbst anzulasten.

Sonntag, 17. Oktober 2010

Hie Theoretiker, hie Experimentator

In der Physik gibt es zwei Sparten: die Theoretiker und die Experimentatoren. Ihr Ansehen innerhalb der Kollegenschaft und beim Publikum wechselte im Verlauf der Geschichte. Heute sind, insbesondere auf dem Gebiet der Astrophysik, die Theoretiker die Stars der Wissenschaft. Sie postulierten den Urknall und errechneten, wie sich unsere Welt innerhalb der ersten drei Minuten entwickelt hat. Der Schotte Peter Higgs legte auf nur zwei DIN A4-Seiten - allerdings gespickt mit komplizierten mathematischen Formeln - dar, dass es ein Kernteilchen geben müsse, welches den Sternen (und auch uns Menschen) ihre Masse verleiht. Die Beschleunigerwissenschaftler bei CERN in Genf nehmen Professor Higgs so ernst, dass sie zwei Milliarden Euro in die Suche des nach ihm benannten Teilchens investieren. Die String-Theoretiker behaupten gar, dass alle Atomteilchen aus winzigen schwingenden Saiten aufgebaut sind und dass es wahrscheinlich nicht nur ein einziges Universum - das unsrige - gibt, sondern deren fast unendlich viele, jedenfalls mehr als es Atome in unserer sichtbaren Welt gibt. Auch danach forscht man in Genf.

Unterschätzte Theoretiker

Zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, so zwischen 1900 und 1940, war das ganz anders. Die Physik galt als empirische Wissenschaft. "Anständige Physik" war - ausgesprochen oder unausgesprochen - immer experimentelle Physik. Wegen der hierarchischen Struktur bei den deutschen Universitäten verfügte der Ordinarius allein über die staatliche Instrumentensammlung an seinem Institut. Es war seiner Entscheidung überlassen, ob er den nachrückenden Dozenten die Mitbenutzung gestattete. Im allgemeinen hatte der "zweite Physiker" die Verpflichtung, die finanziell unattraktiven Spezialvorlesungen zu halten - und das waren meist die über theoretische Physik. Hier war die Hörerzahl geringer, weil der Stoff schwieriger war und hier konnte der Dozent ohne Instrumente auskommen. So gab es in Deutschland eine grosse Anzahl von theoretischen Physikern; viele von ihnen waren allerdings nur verhinderte Experimentalphysiker. Das Ansehen des Fachs war entsprechend gering.

Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass zu Beginn des vorigen Jahrhunderts einige theoretische Physiker auftauchten, die bis heute das Weltbild der modernen Physik bestimmen: Max Planck, Albert Einstein und Werner Heisenberg. Aber auch sie mussten um ihre Mittel (und ihren Lebensunterhalt) hart kämpfen.

Das von Max Planck geleitete "Institut für theoretische Physik" in Berlin bestand nur aus einer Bibliothek und einem Lesezimmer. Seiner Umgebung erschien es sonderbar, dass er die Natur lediglich mit Papier und Bleistift erforschen wollte und nicht mit Geräten und Experimenten. Manche Kollegen hielten ihn - nach Planck - für "ziemlich überflüssig". Doch das sollte sich ändern. Nach fünfjähriger Arbeit hatte er 1899 endlich die Formel für die Verteilung der Strahlungsenergie gefunden. In ihr traten gleich zwei Naturkonstanten auf, nämlich (nach heutiger Bezeichnung) das Plancksche Wirkungsquantum h und die Boltzmannsche Konstante k. Damit hatte er ganz allein die Grundlagen für die moderne Quantenphysik gelegt.

Albert Einstein, vielleicht der grösste theoretische Physiker aller Zeiten, musste sich jahrelang als "Experte III. Klasse" am Berner Patentamt durchschlagen. Er verdiente wenig. Im Leiterwägelchen holte er selbst Holz und Kohlen nach Hause; die Stumpen, die er rauchte, waren von der schlechtesten Sorte. Als er sich den Luxus einer Scheidung leistete, überschrieb er seiner Ex-Frau das Geld des Nobelpreises - den er noch gar nicht erhalten hatte. Sie machte trotzdem ein gutes Geschäft, denn 1921 wurde ihm tatsächlich der Nobelpreis für Physik verliehen. Allerdings nicht für seine beiden Relativitätstheorien, deretwegen er zwischenzeitlich berühmt geworden war, sondern für die Erklärung des photoelektrischen Effekts, also eines experimentellen Phänomens.

Überschätzte Praktiker

Die Koryphäe auf dem Gebiet der Experimentalphysik war in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Robert Wichard Pohl in Göttingen. Sein Leitspruch war: "Theorien kommen und gehen, Tatsachen bleiben". Die Theorie in der Physik war für Pohl immer nur die "Notenschrift" für die "Musik der Tatsachen". Eine andere seiner Devisen war die Forderung: "Messen, was messbar ist; was nicht messbar ist, messbar machen!" Die Schüler seiner Theoriekollegen hatten bei ihm nichts zu lachen. Max Dellbrück, einen Diplomkandidaten bei Max Born, liess er bei der Prüfung in Experimentalphysik durchfallen. Und bei Herta Sponer, der ersten Frau, welche in Göttingen habilitierte hatte, betrieb er sogar die Entlassung, was zu einem schweren Bruch zwischen Pohl und James Franck führte, der ihre Habilitation angenommen hatte.


Professor Pohl demonstriert mittels Schattenrissprojektion

Pohls experimenteller Vorlesungsstil, ohne festes Lehrpult, mit vielen Versuchen im projizierten Schattenriss war lange Jahre richtungsweisend. Er fand seinen Niederschlag in Pohls Lehrbüchern für Experimentalphysik, die in vielen Auflagen erschienen sind und in viele Sprachen übersetzt wurden. Sogar Witze wurden über seine Vorlesungen gerissen, wie etwa jener: "Ein Medizinstudent bei Pohl hätte auf die Frage nach dem elektrischen Kondensator so geantwortet: auf einer Dreikantschiene sitzen zwei Reiter, die vertikale Metallplatten tragen".

Die bleierne Zeit

Das Jahr 1933 bildete eine Zäsur nicht nur in der deutschen politischen Geschichte, sondern auch in der Physik. Fünf Nobelpreisträger dieser Fachrichtung ( u.a. Einstein, Born u. Franck) wurden vertrieben, weitere 150 hochkarätige Forscher verliessen das Land und erhielten zum Teil später den Nobelpreis in Amerika. Das goldene deutsche Zeitalter der Physik war zu Ende. Deutschland hat sich von diesem Verlust - bis heute - nicht erholt. Die Stellen der Emigranten wurden vielfach von Zweit- und Drittklassigen besetzt.

Die Unschärferelation Heisenbergs in eigenhändiger Aufzeichnung

Sehr verhängnisvoll wirkten sich die Eingriffe der Nazis bei der theoretischen Physik aus. Insbesondere die Quantenphysik wurde als "jüdisches, unfruchtbares Blendwerk" gegeisselt. Selbst Werner Heisenberg, der 1933 den Nobelpreis für seine sechs Jahre vorher entdeckte "Unschärferelation" erhalten hatte, blieb davon nicht verschont. Er wurde als "Ossietzky der Physik" und sogar als "weisser Jude" geschmäht. Als er 1937 zum Nachfolger von Arnold Sommerfeld auf den Lehrstuhl der theoretischen Physik an der Universität München vorgeschlagen wurde, blockte der "Reichsdozentenführer" seine Ernennung ab und bestellte einen gewissen Wilhelm Müller als Institutsleiter. Die Eingabe von Ludwig Prandtl beim "Reichsmarschall" war vergeblich. Schliesslich intervenierten der Chemiker und Industrielle Robert Bosch sowie Max Planck persönlich bei Hitler. Die Antwort des "Führers", die sie zum Verstummen brachte, lautete:

"Dann muss Deutschland eben für hundert Jahre ohne Physik und Chemie auskommen".

Sonntag, 10. Oktober 2010

ITER: Köpfe rollen, Deutschland bleibt Zahlmeister

In gut drei Jahren - seit Vertragsabschluss - sind die Kosten des Fusionsprojekts ITER um mehr als das Dreifache gestiegen, nämlich von anfangs 5 Milliarden Euro auf nunmehr 16 Milliarden. Gleichzeitig ist das Jahr der Inbetriebnahme von 2015 auf 2026, also um 11 Jahre nach hinten gerückt. Diese Zahlen haben in allen Partnerländern einen Schock ausgelöst, insbesondere in Deutschland, dessen Beitrag (ca. 10 Prozent) bei Euratom in Brüssel integriert ist.

Schavan redet Tacheles

Die zuständige Bundesforschungsministerin, Frau Annette Schavan, sprach ganz offen von "Missmanagement und Planungspannen", aber sie getraut sich (noch) nicht, das Projekt in Frage zu stellen. Bei einer Serie hektischer Besprechungen in ihrem Ministerium - bei denen sich zeitweise auch die Bundeskanzlerin Angela Merkel einschaltete - verständigte man sich vorab auf folgendes Vorgehen, wie inzwischen durchgesickert ist:

Der Weiterbau des ITER innerhalb des neuen Kostenrahmens wird (zähneknirschend) akzeptiert, aber man fordert von der Lenkungsbehörde Euratom, dass sie die Mehrkosten durch Einsparungen bei anderen EU-Projekten finanziert. Diese generelle Zusage ist allerdings mehrfach konditioniert. So erwartet Schavan "Verbesserungen" bei der organisatorischen Struktur des Projekts und bei den Abwicklungsprozeduren, insbesondere, wenn es zur Vergabe von Grosskomponenten an die Industrie kommt. Diese Forderungen reflektieren bis jetzt die deutsche Position, der auch die Franzosen zuneigen. Aber noch ist kein Konsens mit den übrigen europäischen Partnern hergestellt - und überdies muss das Gesamtpaket am Ende auch noch vom Europäischen Parlament beschlossen werden, was kein Selbstgänger sein dürfte.

Personelle Veränderungen

Eine wichtige organisatorische Massnahme wurde bei ITER bereits vollzogen: der japanische Generaldirektor Kaname Ikeda und sein deutscher Stellvertreter Norbert Holtkamp wurden gefeuert und durch Osamu Motojima, ebenfalls einen Japaner, ersetzt. Natürlich vollzog sich dieses Revirement nach aussen hin nicht so brachial, sondern unter allerlei Lobsprüchen ("erste Phase des Projekts erreicht" etc. etc.) Die Geschassten werden auch nicht Hartz IV zur Last fallen, vielmehr geht Ikeda in den diplomatischen Dienst zurück, dem er entstammt - zuletzt war er japanischer Botschafter in Kroatien - und Holtkamp darf zukünftig die Beschleuniger der amerikanischen Universität Stanford in Schwung halten.

Der neue Generaldirektor bei ITER: Osamu Motojima

Ikeda war von anfang an eine Fehlbesetzung. Er strahlte das typische Charisma japanischer Politiker aus und seine holprigen, in broken-english vorgetragenen Projektpräsentationen verursachten beim Fachpublikum stets nur heftiges Bauchgrimmen. Wegen seiner fachlichen Defizite wurde ihm auch der Deutsche Norbert Holtkamp zur Seite gestellt, was die französische Zeitung La Provence bei seinem Antritt (nach Ikeda) zu der kecken Phrase veranlasste: "Nun ist der wahre Chef angekommen". Der neue Generaldirektor Motojima wollte diesem Gesichtsverlust entgehen und da er selbst aus einem Fusionslabor entstammt, "verzichtete" auf die Dienste eines Stellvertreters. (Eventuell richtet er ein niederrangiges Direktorium ein). Deutschland verliert mit dem stellvertretenden Generaldirektor einen Top-Posten, aber in manchen politischen Kreisen wird dies noch nicht einmal ungern gesehen, weil man dann bei weiteren (absehbaren) Kostenerhöhungen und Terminverzögerungen umso ungenierter auf das operative Management eindreschen kann.

Dubiose Vergabepraxis

Unter Beschuss steht auch die Organisationseinheit zur Vergabe der ITER-Aufträge innerhalb der EU. Sie heisst Fusion for Energy, abgekürzt F4E und ist im schönen Barcelona angesiedelt. Dort umfasst sie stattliche 200 Mann und es scheint, als würden die spanische und die italienische Industrie den maximalen Nutzen aus dieser ortsansässigen Einkaufsabteilung ziehen. Mittlerweile wurden zwei Grossaufträge vergeben, die beide an spanische und italienische Firmen gingen; die mitbietenden deutschen Unternehmen, weltweit bekannt, kamen nicht zum Zuge.

Viel böses Blut entstand bei der Vergabe der Wicklungen für die Toroidalfeldspulen, die einen Auftragswert von ca. 150 Millionen Euro besassen. Die deutsche Firma Babcock Noell hatte zwar das billigste Angebot vorgelegt, der Auftrag ging jedoch an den spanischen Wettbewerber Iberdrola, einem EVU(!) mit italienischen Partnern. Aus "formalen Gründen" wurde Babcock Noell nicht berücksichtigt, fühlte sich demzufolge "ausgetrickst" und zog mit einer Klage vor den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Auch dort scheiterte die deutsche Firma mit der seltsamen Begründung, dass "zur reibungslosen Abwicklung des Projekts das öffentliche Interesse den Vorrang vor dem privaten" haben müsse. Diese Auftragsvergabe hatte Ministerin Schavan wohl im Visier, als sie bei den internen deutschen Gesprächen im Sommer die "Verbesserung" der industriellen Vergabeprozeduren bei Grossaufträgen anmahnte.

Aber mittlerweile kam es noch schlimmer. Vor wenigen Tagen wurde in Barcelona das hochwichtige Vakuumsystem des ITER vergeben, wiederum ein Auftrag im Wert von mehreren hundert Millionen Euro. Und wiederum fiel Deutschland durch. Geboten hatte deutscherseits die Weltfirma MAN, der Auftrag ging jedoch an das italienische Unternehmen Ansaldo mit weiteren italienischen Partnern, die zu einem erheblich niedrigerem Preis angeboten hatten. Bemerkenswert dabei ist die Tatsache, dass MAN einen vergleichbaren Auftrag für Wendelstein 7X kürzlich erfolgreich abgewickelt hat, während Ansaldo keine ähnliche Referenz vorzuweisen hat.

Das Vakuumgefäss des ITER mit 7 Kammern

Vergleicht man die jahrzehntelangen deutschen Forschungsanstrengungen auf dem Gebiet der Fusion - etwa im Forschungszentrum Karlsruhe - mit ihrem finanziellen Return, so ist dieser mehr als bescheiden. Es scheint so, als würden die Deutschen für sündhaft viel Geld die neuen Technologien entwickeln, während die Anderen damit Business machen und die geschäftlichen Gewinne einstreichen.

Eben der Club Mediterranee.

Sonntag, 3. Oktober 2010

Reaktorstörfall beim MZFR

Der Mehrzweckforschungsreaktor (MZFR) war das erste Kernkraftwerk, das Siemens errichtete. Mit seinen 57 Megawatt elektrisch hatte es 1965 eine durchaus ansehnliche Grösse. Der MZFR kostete 200 Millionen Mark und wurde zu 80 Prozent vom Bund und zu 20 Prozent von den Energieversorgern Badenwerk und EVS finanziert. Sein Standort lag am nördlichen Ende des Forschungszentrums Karlsruhe/Leopoldshafen, welches damals Gesellschaft für Kernforschung (GfK) hiess. Für das Management dieses Projekts war eine eigene "Sondergeschäftsführung" bestellt worden.

Der Siemens Mehrzweckforschungsreaktor MZFR im Kernforschungszentrum Karlsruhe

Von der technischen Auslegung her war der MZFR ein Druckwasserreaktor. Als Moderator und Kühlmittel diente Schweres Wasser (D2O), weswegen man den Reaktor mit Natururan, also nichtangereichertem Uran betreiben konnte. Eine weitere Speziakität des MZFR war die Lademaschine, welche es erlaubte, , den Reaktor bei voller Leistung mit Brennelementen zu be- und entladen und die deshalb oberhalb des Reaktortanks positioniert war. Um diese Komponente entwickelte sich in der Frühphase des Betriebs ein Störfall, welcher hohe publizistische Wellen schlug und über den im Folgenden berichtet werden soll.

Lademaschine oberhalb des Reaktortanks

Dieser Betriebsunfall geschah am 2. März 1967, kurz nachdem die Anlage ihre volle Leistung erreicht hatte und vom Kunden übernommen worden war. Während eines Brennelementwechsels bei Vollast hob plötzlich die Lademaschine ab, es kam zum Austritt von etwa 4000 Litern D2O-Dampf, worauf sich diese Komponente wieder auf den Tank absenkte. Sechs Betriebsoperateure, die sich in der Nähe befanden, mussten die Anlage über die Sicherheitsschleuse verlassen, sie wurden jedoch weder verletzt noch verstrahlt.

Was war die Ursache? Nun, das Ladepersonal hatte einen Trick entwickelt, wie man leicht klemmende oder auch schwergängige Brennelemente vom Reaktortank in die Lademaschine bugsieren konnte. Dazu senkten sie den Druck in der Lademaschine kurzzeitig ab wonach das Brennelement aus dem Tank in die Lademaschine "flutschte". ( Im Jargon der Betriebsmannschaft war dies die "Maria-Hilf-Methode"). An diesem Tag hatte sich jedoch unter einem wichtigen Rückschlagventil eine Verschmutzung gebildet, sodass sich ein unzulässiger Druck im Hubzylinder für die Lademaschine ausbildete, der zu ihrem Abheben führte.

Durch eine geringfügige konstruktive Änderung konnte man später Vorfälle dieser Art sicher ausschliessen. Das ausgetretene Schwere Wasser wurde zum grössten Teil aufgefangen, gereinigt und in der Reaktortank zurück befördert. Das war wichtig, denn ein einziger Liter D2O kostete damals auf dem Weltmarkt 600 Mark, entsprechend dem Preis von 20 Litern bestem Whiskey.

Die Information der Öffentlichkeit durch die beiden Sondergeschäftsführer B. und W. war ein Desaster. Sie fand nämlich überhaupt nicht statt. Weder gab es eine Pressekonferenz noch einen Aushang am Schwarzen Brett. Umso heftiger waren die Reaktionen der Zeitungen, als - wohl über Insider - der Vorfall sechs Wochen später dann doch publik wurde. Nun rückten die Verantwortlichen mit der Wahrheit heraus, deklarierten ihre Pressemitteilung aber - man glaubt es kaum - als "Gegendarstellung" in der sie ihrerseits die Medien kritisierten. Dieser unprofessionelle Umgang mit der Öffentlichkeit hat in der Folge dazu beigetragen, dass die grossen Reaktorprojekte Whyl und Breisach unter Beschuss gerieten und aufgegeben werden mussten.

Erstaunlich aber wahr ist, dass der MZFR fortan , bis zu seiner endgültigen Abschaltung im Jahr 1984, wie ein Uhrwerk lief. Es gab keine weiteren Störfälle, im Gegenteil, die Brennelemente, Dampferzeuger und Tanksysteme arbeiteten nahezu perfekt. In den letzten sechs jahren trug der MZFR sogar zur Heizung des Kernforschungszentrums bei, indem man 4 MWe auskoppelte und damit zum ersten Mal die Wärme-Kraft-Kopplung an einem deutschen Kernkraftwerk verwirklichte.

Initiator dieses Unternehmens war - das sei nicht verschwiegen - der Karlsruher Professor Otto Hagena.