Sonntag, 28. November 2010

Stuttgart 21: pro und contra

Stuttgart 21 - kurz: S 21 - ist in aller Munde, obschon nicht jeder weiss, was wirklich darunter zu verstehen ist. Nun, im Grunde besteht dieses Grossprojekt aus drei Teilprojekten, wovon der tiefgelegte Durchgangsbahnhof (anstelle des derzeitigen Kopfbahnhofs) mit seiner Anbindung an den Flughafen das wichtigste ist. Eine Neubaustrecke über die Schwäbische Alb mit einem 33 Kilometer langen Tunnel zwischen Wendlingen und Ulm ersetzt die sog. Geislinger Steige und, gewissermassen als Bonus, erhält die Stadt Stuttgart wegen der abgeräumten Gleise des Altbahnhofs in Zukunft ca. hundert Hektar Bebauungsfläche in bester Innenstadtlage.

Die Position der Parteien

Die konkreten Planungen für Stuttgart 21 begannen im Jahr 1994. Mehr als 60 Alternativen wurden geprüft; die Variante K 21, ein modifizierter Kopfbahnhof, war sogar Gegenstand eines Verwaltungsgerichtsverfahren in Mannheim und fiel dort durch. Über 11.000 Einsprüche von Bürgern und Verbänden wurden abgehandelt. Das Projekt wurde über 200 mal im Gemeinderat Stuttgart diskutiert und 146 mal im baden-württembergischen Landtag - jeweils in öffentlichen Sitzungen. Zehn Jahre lang war ein ein Grossmodell von S 21 im Turm des Stuttgarter Bahnhofs ausgestellt. Im Jahr 2009 erhielt das Projekt endlich die sog. Planfeststellung, d. h. die Baugenehmigung.
Anfang 2010 wurden Verträge zwischen Bund, Land, Stadt und der Deutschen Bundesbahn AG unterschrieben und mitte des Jahres rückten die Bagger an, um einige Vorbauten des alten Bahnhofs sowie einige Bäume im Stadtgarten zu fällen. Es kam zu öffentlichen Demonstrationen, die zum Teil gewalttätig waren. Nun positionierten sich auch einige politische Parteien neu. Die Grünen, welche vorher in Bund und Land das Projekt S 21 voll mitgetragen hatten - immerhin war es ein Eisenbahnprojekt - wandten sich ab und erklärten das Vorhaben für zu teuer und zu riskant; sie wollten den Kopfbahnhof beibehalten und ausbauen. Die SPD steht zwar - formal - noch zu S 21, will aber ihre endgültige Position von einem Volksentscheid abhängig machen; ausserdem zog sie ihren Projektsprecher, den Landtagsvizepräsidenten Wolfgang Drexler, zurück. Unverändert zu S 21 stehen die FDP und die CDU.
Signet der Gegner des Projekts Stuttgart 21

Im Oktober 2010 einigten sich die politischen Parteien und die Projektparteien (Land, Stadt und Bundesbahn) darauf, im Rahmen einer Schlichtung nochmals alle Fakten auf den Tisch zu legen. Als Schlichter schlugen die Grünen den in Baden-Württemberg (Oberndorf) geborenen und ehemaligen Bundesminister Dr. Heiner Geißler vor; die CDU war einverstanden, die FDP erst nach einigen Vorbehalten. Geißler identifizierte ein knappes Dutzend Sachgebiete, die im Stuttgarter Rathaus vor laufenden Kameras der TV-Sender Phönix und SWR öffentlich diskutiert werden sollten. Gegner und Befürworter durften jeweils sieben Mitglieder benennen, die ihrerseits durch Experten unterstützt werden konnen.

Einige Themen der Schlichtung

Der Durchgangsbahnhof S 21 und die Neubaustrecke (NBS) Wendlingen-Ulm schaffen neue Direktverbindungen mit kürzeren Fahrzeiten. So wird die Strecke Köln-Ulm um 80 Minuten, die Strecke Karlsruhe-Flughafen Stuttgart um 45 Minuten schneller. Im Regionalverkehr entstehen zahlreiche umsteigfreie Direktverbindungen... Die Gegner sprechen von einem menschenfeindlichen Tunnelbahnhof bzw. Kellerbahnhof und vermissen einen integrierten Taktfahrplan nach Schweizer Vorbild. Eine Verringerung des Flugverkehrs sei ebenfalls nicht zu erwarten.

Die Befürworter von S 21 sehen eine verkehrliche Magistrale von Paris bis Bratislava, dessen Herzstück Stuttgart ist. Auch die Europäische Union ist dieser Meinung, weshalb sie das Projekt mitfinanziert. Die europäischen Partner im Westen und die Zukunftsmärkte im Osten werden näher an Baden-Württemberg heranrücken. Im Falle der Nichtrealisierung der Magistrale besteht die Gefahr, dass B-W wegen seines veralteten Gleissystems über Frankfurt, Würzburg, Nürnberg, München etc. umfahren wird... Die Gegner halten den Begriff Magistrale für eine Kopfgeburt und einen Marketing-Gag, weil Stuttgart hinreichend zentral liege und seine Bedeutung immer behalten werde.

Die Gegner von S 21 schlagen einen modernisierten Kopfbahnhof K 21 vor. Er soll auf des Basis des gegenwärtigen Bahnhof abschnittsweise realisiert werden, einschliesslich eines Abstellbahnhofs in Obertürkheim und einer Anbindung an den Flughafen. So könne flexibel auf die jeweilige Finanzsituation reagiert werden. In summa sei der 16-gleisige Kopfbahnhof K 21 leistungsfähiger als der 8-gleisige Durchgangsbahnhof S 21...Für die Befürworter von S 21 ist K 21 lediglich ein Phanton. Es gibt dafür keine Planung, keine Genehmigung und keine Finanzierung. Die Modernisierung des Stuttgarter Bahnhofs würde um 30 bis 40 Jahre hinausgezögert werden. Ausserdem müsste für die Umbaumassnahmen der Betrieb des gegenwärtigen Bahnhofs stark eingeschränkt werden.

Grosse geologische Risiken sehen die Gegner von S 21 bei der Tieferlegung des Stuttgarter Durchgangsbahnhofs und bei dem Tunnel der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm. Diese seien bedingt durch den karstigen, löcherigen Untergrund und durch Anhydridschichten, welche in Verbindung mit Wasser aufquellen könnten. Des weiteren seien die Bad Canstatter Mineralquellen in Gefahr, weil sie durch Grundwasser kontaminiert werden könnten... Die Befürworter boten für diese beiden Themenkreise zwei sehr kompetente Experten auf, die überzeugend darstellen konnten, dass man den Verlauf der geologischen Schichten durch Probebohrungen sehr genau kenne und mit der heutigen Tiefbautechnik darauf reagieren könne. Ausserdem gebe es reichlich Erfahrung durch die vielen Strassenbahntunnels, von denen die Stuttgarter Innenstadt durchzogen sei und wo ähnlichen Problemen erfolgreich begegnet worden ist.

Die Befürworter von S 21 verweisen darauf, dass durch den Rückbau des riesigen Gleisfeldes des heutigen Kopfbahnhofs ein Areal von 100 Hektar in bester Lage für die Stadtentwicklung zur Verfügung stehen würde. Darauf könnten 11.000 Wohnungen und Geschäftsbauten entstehen und 20.000 Arbeitsplätze geschaffen werden... Die Gegner bezweifeln, dass die kleinteilige Wohnbebauung auf diesen Flächen wirklich umgesetzt wird; wahrscheinlicher sei eine Ansammlung öder Bank- und Versicherungsbauten. Sie verweisen auf das abschreckende Beispiel des Europaviertels mit seiner zu dichten Bebauung und architektonischen Verhunzung.


Signet der Grünen für die Beibehaltung des Kopfbahnhofs

Kosten und Finanzierung

Unerbittlich gestritten wurde über die Kosten des Tiefbahnhofs sowie der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm. Auch über die Ausstiegskosten im Falle einer Annullierung der bereits abgeschlossenen Verträge konnte man sich nicht einigen, sodass drei Wirtschaftsprüfungsfirmen mit der Analyse dieser Zahlen beauftragt wurden. Die Bahn schätzt die Kosten für S 21 auf 4,o88 Milliarden Euro und benennt 4,5 Milliarden als obere Grenze. Die Grünen rechnen mit mindestens 5,6 bis 6 Milliarden Euro. Die Wirtschaftsprüfer Pricewaterhouse Coopers und Susat GmbH stützen die Angaben der Bahn; der dritte, die Märkische Revision, sieht ein gewisses Risiko für die Überschreitung der Grenze von 4, 5 Milliarden.

Die Neubaustrecke wird von der Bahn mit 2,89 Milliarden veranschlagt; die Wirtschaftsprüfer stützen diese Zahl. Die Grünen gehen von 4,5 Milliarden Euro aus. Die sog. Ausstiegskosten bewertet die Bahn mit 1,5 Milliarden und erhält dafür ebenfalls das Votum der Prüfer. Die Kritiker von S 21 sehen es mit 0,6 Milliarden Euro weitaus geringer.

Die Finanzierung der o. g. Kosten für S 21 in Höhe von 4,5 Milliarden erfolgt durch Bahn (1747 Millionen Euro), Bund/EU (1229), Land (930), Stadt (291), Flughafen (227), und Region (100). Die Gegner sehen die Projektkosten nicht finanziert, u. a. deswegen, weil der Bund derzeit kein Geld hat.

Die Protagonisten

Die Schlichtungsverhandlungen waren auf 6 Tage angesetzt und wurden auf 8 Tage verlängert. Insgesamt dauerten sie über 60 Stunden, die komplett durch Phönix-TV übertragen wurden. Einen Grossteil davon habe ich mir angesehen. Das genügt, um einen Eindruck von den Hauptdarstellern zu gewinnen.

Heiner Geißler war der Chef im Ring. Als CDU- und Attac-Mitglied gleichzeitig, konnte er zu beiden Seiten gleichermassen Distanz halten. Und seine Erfahrung als langjähriger Generalsekretär der schwer zu bändigenden CDU-Partei blitzte immer wieder durch. War er früher ein jesuitischer Schlaufuchs, so ist der inzwischen 80-jährige zu einem sympathischen Troll mit Dalai Lama-Lachfalten mutiert. Und seine Lateinkenntnisse sind immer noch präsent, wenn er Gegner und Befürworter mit Sentenzen traktiert wie: "Nondum omnium dierum solem occidisse". Er hätte auch ganz einfach sagen können: "Noch ist nicht aller Tage Abend".

Der Bahnvorstand Volker Kefer war für mich die Überraschung der Veranstaltung. Er ist fachlich enorm kompetent und besitzt gleichzeitig eine freundliche bis verschmitzte Aussstrahlung, an der alle rüden Angriffe der S 21-Gegner einfach nur abprallen..Bestens unterstützt wurde er dabei von der baden-württembergischen Verkehrsministerin Tanja Gönner. Diese sympathische Politikerin mit der Kurzhaarfrisur ergänzte Kefer aufs beste in allen juristischen Fragen; ihre Vita als gelernte Rechtspflegerin und spätere Anwältin für Insolvenzrecht kam ihr dabei entgegen. Ministerpräsident Stefan Mappus, der wegen einer Asienreise nur zeitweise anwesend sein konnte, verteidigte das Projekt sehr gekonnt, insbesondere gegen den Bundestagsabgeordneten der Grünen, Winfried Hermann, der gleichzeitig machtvoller Vorsitzender des Berliner Verkehrsausschuss ist. Mappus versucht offensichtlich von seinem Rambo-Image wegzukommen; es schien, als habe er Kreide gefr...

Auf seiten der Gegner von S 21 stach besonders der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer hervor. Seine analytischen Kenntnisse als gelernter Mathematiker blitzten besonders bei den Fahrplandiskussionen immer wieder auf. Ansonsten gerierte er sich als gnadenloser Populist mit offensichtlichem Interesse für das Amt des Stuttgarter Oberbürgermeisters oder für ein Ministeramt, falls die Grünen tatsächlich stärkste Partei bei den Wahlen im März nächsten Jahres werden sollten. Winfried Kretschmann, Fraktionsvorsitzender der Grünen und ehedem Lehrer in Stuttgart spielte den seriösen Part und überzeugte viele mit seinen Argumenten. Lautstarke Aussenseiter waren Gangolf Stocker vom Aktionsbündnis gegen S 21 und Hannes Rockenbauch vom Bündnis Stuttgart Ökologisch Sozial (SÖS). Insbesondere letzterer fiel mehr durch schnoddrige Zwischenrufe als durch fundierte Sachbeiträge auf. Zeitweise entschuldigte er sich beim Vorsitzenden Geißler, weil er mal wieder demonstrieren gehen wollte. Ein Experte der besonderen Art war der schon genannte Grünen-Abgeordnete Winfrid Hermann, ehedem Lehrer an der Volkshochschule Stuttgart. Er sitzt in Berlin an zentraler Stelle bei der Vergabe von Finanzmitteln für Verkehrsprojekte und kann sicherlich viel Sand in S 21 streuen.

Nochmals zurück zu Heiner Geißler. Er soll bis Dienstag einen Kompromiss finden, wo es offensichtlich keinen gibt. Aber als langjähriger Politiker wird er auch diese Aufgabe meistern. In Stuttgart mutmasst man folgendes:

Heiner wird vorschlagen den derzeitigen Kopfbahnhof tiefer zu legen.

3 Kommentare:

  1. Daß es Schwaben gibt, die diese Geldschenkung verweigern, ist für mich ein Rätsel, und im Vergleich mit der Schenkung (Ausbau) Ost bis heute von über 1600 Milliarden Euro, kann man bei den Kosten von Stuttgart21 nur von Peanuts reden. Gruß Drazen

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  2. Danke für diese fundierte Zusammenfassung eines so umstrittenen Sachverhaltes. Ich kann nicht verhehlen, dass ich die mediale Behandlung dieses Streites eher als Reklame für Grün-Rot (in Stuttgart und anderswo) denn als neutrale Berichterstattung empfunden habe. Die Unterscheidung zwischen Nachricht und Meinung wird immer weniger praktiziert. Gruß! Hagena

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  3. Beispiel Reisezeiten Stuttgart München:
    Taktfahrplan von 1993 für das Jahr 2000, 1:50h;
    DB Vision 2015: 1.35h;
    aktuell: schnellste ICE Verbindung 2:21h, 1934, 2:50h mit Dampf, 1935: 2:35h elektrisch.

    Übrigens kostet das Jahrhundertprojekt Stuttgart 21 das Land Baden-Württemberg in einem einzigen Jahr weniger, als Baden-Württemberg in den Länder-Finanzausgleich einzahlt.
    Die Neubaustrecke reduziert die Fahrzeiten beträchtlich. Stuttgart Ulm um ½ h.

    Inzwischen sind die jährlichen Subventionen für Wind und PV größer, als Stuttgart 21 insgesamt.
    Gruß Ulrich

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