Ab nach Farm Hall
Im Gefolge der kämpfenden (französischen) Truppen kam eine Spezialeinheit des amerikanischen Geheimdienstes an, die schon 1943 aufgestellt worden war und seitdem alle Erkenntnisse über das deutsche Uranprogramm per Spionage sammelte. Durch einen Trick veranlasste sie Wirtz und C.-F. v. Weizsäcker ihnen das Versteck der Uran- und Schwerwasservorräte mitzuteilen: mit dem Hinweis, "dass diese Materialien gebraucht werden, wenn die Deutschen ihre Forschungen anderswo wieder aufnehmen würden".
Die Amerikaner graben das bei Haigerloch versteckte Uran aus
Im Sommer 1945 wurden die wichtigsten Mitglieder des (west-)deutschen Atomprogramms sistiert, nämlich Werner Heisenberg, Otto Hahn, Max v. Laue, Walter Gerlach, Kurt Diebner, Erich Bagge, Paul Harteck, Horst Korsching sowie Karl Wirtz und Carl-Friedrich von Weizsäcker. Diese Zehn verbrachte man nach England und internierte sie in Farm Hall einem Landhaus nördlich von London. Vorher hatte der amerikanische Geheimdienst noch versichert, dass er ihre in Deutschland verbleibenden Familien, insbes. die Frauen, vor den gefürchteten Übergriffen der Marokkaner schützen würde, was auch eingehalten wurde.
In Farm Hall waren die Forscher "special guests" und konnten sich frei bewegen. Was sie nicht wussten war, dass der Geheimdienst vorher alle Räume bis hin zu den Toiletten mit Abhörmikrofonen bestückt hatte, um die Gespräche der Physiker und damit ihren "trend of thoughts" verfolgen zu können. Daraus entstand ein 212-seitiges Wortprotokoll, das 1992 für die Öffentlichkeit freigegeben wurde.
Das Landhaus Farm Hall (Federzeichnung von Bagge)
Ein besonderer Tag war der 6. August 1945. Die Gruppe befand sich im Aufenthaltsraum, als im Radio der Abwurf der ersten Atombombe auf Hieroshima bekannt gegeben wurde. Erstaunlich war, dass gerade Heisenberg zuerst nicht an eine nukleare Reaktion glauben wollte, sondern eine "Hochdruckbombe auf chemischer Basis" vermutete. Aber die weiteren Meldungen machten klar, dass es sich wirklich um eine Uranbombe gehandelt hatte. Sofort stellte sich die Frage nach der Herkunft des Uran 235. Gerlach vermutete, dass es über magnetische Separation gewonnen worden war; Wirtz, der erfahrene Physikochemiker, tippte auf Diffusion und lag damit richtig. Ganz geknickt und nahe am Suizid war Otto Hahn. Er empfand persönliche Schuld in Verbindung mit der von ihm entdeckten Kernspaltung. Man richtete eine Nachtwache ein, um sicherzustellen, dass Hahn sich nichts antun würde.
Die siegreichen Verlierer
Nach dem Abwurf der zweiten Atombombe auf Nagasaki klärte sich die technische Diskussion. Heisenberg musste zugeben, dass er mit seiner Chemiebombe daneben lag. Hektisch unternahm er - nur mit Bleistift und Papier - eine Anzahl von Rechnungen und überraschte seine Kollegen mit einem "Kolloquiumsvortrag" - der natürlich auch abgehört wurde - und bei dem er die kritische Masse der Bomben auf ca. 50 Kilogramm Spaltstoff bezifferte, womit er um den Faktor 5 zu hoch lag. "Gott sei Dank, wir konnten die Bombe nicht bauen", war seine Aussage.
Carl-Friedrich v. Weizsäcker, politisch clever wie alle im Clan der Weizsäckers, strickte diesen Gedanken weiter. Er hatte als Erster erkannt, dass sich der technische Rückstand der Deutschen in einen moralischen Vorsprung verwandeln liess, wenn es gelang, unzureichendes Können als Indiz für fehlendes Wollen auszugeben. Fortan hiess es, dass die entscheidenden Personen der deutschen Atomforschung die Bombe einfach nicht gewollt hätten - wäre es anders gewesen, dann hätten sie es auch geschafft. Aus diesem Argument ergab sich zudem die Chance als Nazi-Gegner, ja sogar als Widerständler zu erscheinen, was zumindest Gerlach und Diebner nie waren.
In der Nachkriegszeit beherrschten Heisenberg und Weizsäcker mit ihrer apologetischen Darstellung die öffentliche Diskussion. Die anderen schwiegen; wahrscheinlich hatten sie erkannt, wie vorteilhaft es ist, etwas, das man nicht können soll, auch nicht gewollt zu haben. Ihr bekanntestes Dokument ist die "Erklärung der Göttinger Achzehn" aus dem Jahr 1957, das eine atomare Aufrüstung der Bundeswehr ablehnte, gleichzeitig aber dafür plädierte, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern.
Anfang1946 war die Internierung zu Ende und die Zehn wurden zu ihren Familien nach (West-) Deutschland entlassen. Zuvor, im November 1945, erhielt der noch in Farm Hall gefangen gehaltene Otto Hahn den Nobelpreis für Chemie des Jahres 1944. Die schwedische Kommission hatte alle Bedenken beiseite gerückt und nur die wissenschaftliche Grosstat von Hahn bewertet.
Leider hat sie dabei die Verdienste von Lise Meitner übersehen.
Postscriptum:
Etwa zur gleichen Zeit wurden Wernher v. Braun und seine hundert Mitarbeiter mit grossen Ehren in den USA empfangen und in Huntsville, Alabama, zur Fortführung ihrer Arbeiten ermuntert. Zuvor waren bei der Produktion der Raketen in unterirdischen Konzentrationslägern (wie Dora in Thüringen) tausende von jüdischen Zwangsarbeitern umgekommen. Beim Abschuss der V1- und V2-Waffen kamen mehr als 20.000 britische Zivilisten ums Leben.
Spricht hier etwa jemand von Moral?
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