Wenn ein Atomreaktor innerhalb von nur vier Jahren gebaut wird, dann ist das keine schlechte Leistung. Das war beim Forschungsreaktor 2 (genannt FR 2) im Kernforschungszentrum Karlsruhe der Fall, welcher zwischen 1957 und 61 geplant, errichtet und in Betrieb gesetzt worden ist. Es war der erste "selbstgebaute" Kernreaktor Deutschlands, mit einer Leistung von 12 Megawatt. Sein Vorgänger, der FR 1, an dem sich während des 2. Weltkriegs eine Gruppe um Professor Heisenberg am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin versuchte, wurde bekanntlich nie kritisch, insbesondere weil es an Schwerem Wasser fehlte.
Reaktor FR2
Das Interesse der Bevölkerung zur Besichtigung dieses "Wunderwerks" war riesengross und durch keinerlei Furcht gedämpft. Der Bundespräsident, die Bonner und Stuttgarter Minister und eine Reihe von Bischöfen aus Freiburg und Köln waren die ersten, welche den FR 2 in Augenschein nehmen durften. Für das übrige Volk gab es Besichtigungen, bei denen die Wissenschaftler und Ingenieure die Besuchergruppen durch den Reaktor zu führen hatten.
Eine Sonderführung, mit anschliessendem Essen im Casino, wurde dem Karlsruher Rotary Club gewährt. Möglicherweise hing diese Vergünstigung damit zusammen, dass einer der damaligen Vorstände am Kernforschungszentrum gleichzeitig Präsident der Rotarier war. Die "Ehre" - am eigentlich arbeitsfreien Samstag - diese Gruppe durch den Reaktor zu schleusen, war mir, einem der Jüngeren, zuteil geworden.
Nun, anfangs lief alles nach Plan ab. Zur Einführung hielt ich der kleinen Gruppe von ca. fünfzehn Mann - Frauen getrauten sich damals noch nicht in einen Atommeiler - einen kurzen Vortrag in der Schaltwarte und anschliessend begaben wir uns in die sog. Rotunde, wo sich der eigentliche Reaktor mit den vielen Experimenten befand. Dediziert ermahnte ich alle, auf keinen Fall die Versuchsobjekte zu berühren, da diese radioaktiv kontaminiert sein konnten. Zur Sicherheit bat ich einige Ingenieure mich beim Besichtigungsrundgang zu unterstützen und ein wachsames Auge auf die Gruppe zu haben.
Scheinbar verlief auch alles nach Schema F. Nach einer guten Stunde war die Tour zu Ende. Während die Gruppe über den Strahlenmonitor am Ausgang den Reaktor verliess, rief ich vereinbarungsgemäss den Casinochef an; er wollte, á la saison, Schwetzinger Spargel auftischen und seinen hohen Gästen a point servieren.
Experimentieraufbauten in der Rotunde
Und dann - nach dem Telefonat - passierte es: der Strahlenmonitor heulte auf, als ein Mitglied meiner Gruppe darüber schritt. Der ältere Herr, ich sehe ihn heute noch vor mir, war ca. sechzig Jahre alt und in dunkelblaues Tuch gekleidet. Er hatte sich offensichtlich, trotz all unserer Vorsichtsmassnahmen radioaktiv kontaminiert; die gemessenen Werte lagen weit über dem Durchschnitt der Umgebungsstrahlung. Eine peinlich Sache für mich, dem verantwortlichen Besucherführer und Anlass zur Angst bei der Gruppe, wie ich aus den verstörten Gesichtern entnehmen konnte. Ich ordnete Verstärkung bein Strahlenschutzdienst an und liess mit speziellen Handmonitoren nachmessen, denn immerhin bestand die Möglichkeit, dass der Ausgangsmonitor defekt sein konnte. Aber alle Messungen zeigten das gleiche Ergebnis: unser Gast strahlte stark, hatte sich wohl beim Rundgang durch Berühren einer Strahlenprobe kontaminiert.
Im Wissen, dass dieser Vorfall am nächsten Tag die Schlagzeile der regionalen "Badischen Neuesten Nachrichten" abgeben würde, versuchten die Strahlenexperten den Ort der Verstrahlung einzugrenzen. Das gelang, die Messgeräte schlugen besonders stark beim linken Ellenbogen des Rotariers aus. Wir baten ihn sein Jackett auzuziehen, denn die Quelle der Srahlung musste nach unseren Messungen im Ärmelstoff versteckt sein. Zu unserer Verwunderung zögerte der alte Herr; stattdessen zeigte er auf seinen Ellenbogen und murmelte etwas von Heilerde. Wow, das war es! Unser Besucher hatte, wie er uns etwas verschämt eingestand, seinen Arm (unter Hemd und Jakett) mit Heilerde eingepackt um damit sein Rheumaleiden zu lindern und vielleicht zu kurieren. Heilerde, das ist bekannt, enthält eine Vielzahl von Mineralien, darunter auch solche von radioaktiver Provenienz. Dekontaminieren war angesichts dieses medizinischen Befunds nicht angebracht; wir schleusten den Gast durch den Ausgang und wünschten ihm, dass seine Heilpraktikerkur anschlagen möge.
Hand- und Fussmonitor am Ausgang
Beim anschliessenden Essen im Casino war dieser Vorfall natürlich das Topthema. Unsere genau messenden Apparate, die sogar bei Heilerde anschlugen erregten allseitige Bewunderung und trugen - zumindest bei dieser Gruppe - zur Akzeptanz der Kernenergie bei.
Lediglich der Küchenchef war erkennbar sauer auf mich. Seine Spargelstangen hatte er, wegen meines Telefonats - zu früh in das Salzwasser gelegt.
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