Sonntag, 26. September 2010

Spion an der Wiederaufarbeitungsanlage

Reiner Paul Fülle war ein junger Mann in den Zwanzigern, als er anfang der sechziger Jahre am Reaktor FR 2 als Kaufmann und Buchhalter für den Materialsektor eingestellt wurde. Aufgrund seines freundlichen Wesens war er allgemein beliebt. Er betätigte sich in der Sportgruppe und bei Betriebsausflügen übernahm er gerne organisatorische Aufgaben. Was damals niemand wusste oder auch nur geahnt hätte: Fülle war seit 1964 Spion bei dem Ostberliner Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Gegen Geld lieferte er Informationen aus seinem Arbeitsgebiet an die "Stasi" in der DDR, welche damals noch schlicht "Ostzone" genannt wurde.

Die Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe (WAK)

Am FR 2 gab es für Fülle nicht so viel zu berichten; das änderte sich als im Kernforschungszentrum die Anlage zur Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen (WAK) gebaut wurde. Im Jahr 1968 wechselte er dorthin, wo er u. a. für die kaufmännische Verwaltung der Kernbrennstoffe Uran und Plutonium zuständig war. Dieses Gebiet interessierte seine östlichen Auftraggeber weitaus mehr, weil man das aus abgebrannten Brennelementen gewonnene Plutonium als Bombenmaterial ausschlachten konnte nach dem Motto: zehn Kilogramm Plutonium entspricht einer Atombombe, für deren Bau man die Bundesrepublik verdächtigte. Und tatsächlich waren die aus verschiedenen deutschen Kernkraftwerken abgetrennten Mengen erheblich, wie aus der Tabelle ersichtlich ist. Freilich wurde von der DDR-Propoganda verschwiegen, dass diese Materialien unter strenger Aufsicht von Euratom und IAEA standen.

Uran- und Plutoniumdurchsatz an der WAK (1971-79)

Etwa zehn Jahre betrieb Reiner Fülle seinen Zweitjob bei der WAK, wofür er reichlich Agentenlohn bezog. Anfang 1979 jedoch wurde er enttarnt, als ein ehemaliger hochrangiger Mitarbeiter des MfS, der Oberleutnant Werner Stiller, in den Westen übertrat und eine ganze Reihe in der Bundesrepublik arbeitende Ostspione auffliegen liess. Fülle war einer von ihnen. An einem winterkalten Januartag 1979 wurde er vom Bundeskriminalamt (BKA) in Karlsruhe verhaftet und mit dem Auto zum Untersuchungsgefängnis in die Riefstahlstrasse gebracht. Als der (allein bewachende) BKA-Mann beim Aussteigen auf der völlig vereisten Strasse ins Rutschen kam und hinfiel, nutzte Fülle seine Chance: er sprang geistesgegenwärtig aus dem Wagen und rannte dem hilflos mit den Beinen am Boden rudernden Polizisten davon.

Eingang zur Kunstakademie Karlsruhe

Später erzählte der Glatteisspion - wie ihn fortan die Zeitungen nannten - dass er sich nach dem Vorfall zwei Tage in der Karlsruher Kunstakademie versteckt gehalten hatte, die in der Nähe des Gefängnisses gelegen ist. Als die Polizei ihre Sofortfahndung aufgegeben hatte, lief er zu Fuss ins 20 Kilometer entfernte Baden-Baden. Dort gab es zur damaligen Zeit noch eine sowjetische Militärmission, welche den Flüchtling aufnahm und einige Tage versteckt hielt. Von dort gelangte er in einer Holzkiste mit Luftlöchern - welche als Diplomatengepäck getarnt war - zum Grenzübergang Herleshausen und schliesslich nach Thüringen in die DDR.

Im sog. Arbeiter- und Bauernstaat wurde Fülle vom Spionagechef Markus Wolf höchstpersönlich empfangen, mit Orden überhäuft und im ganzen Land als "Held" herumgereicht. Aber mit der Zeit fing er an sich zu langweilen. Das Leben in der DDR behagte ihm nicht sonderlich und bald gelang es dem westdeutschen Geheimdienst BND ihn "umzudrehen". Fülle spionierte in seinem Gastland fortan zum Segen der Bundesrepublik. Als ihm die Lage nach zwei Jahren dann doch zu brenzlich wurde, überredete er seine Freunde aus Pullach, ihn nach Westberlin zu schleusen. Den Vaterländischen Orden in Gold, welchen der Stasi-Minister Erich Mielke ihm einst überreicht hatte, versenkte er vor seiner Flucht im Mülleimer seiner Wohnung.

Im Westen wurde er aufgrund seiner geheimdienstlichen Tätigkeit für die DDR zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, wovon ihm ein Grossteil zur Bewährung erlassen wurde. Leider gibt es von Werner Paul Fülle seitdem keine Spur mehr. Ich würde gerne mit ihm ein Bier trinken; vielleicht holt ihn dieser Blog aus der Versenkung.

1 Kommentar:

  1. Baden-Baden ist ca. 50 km und nicht nur 20 km von Karlsruhe entfernt.

    AntwortenLöschen