Vor knapp vier Jahren wurden die Verträge für ITER unterschrieben, dem "Internationalen Thermonuklearen Experimentierreaktor". Darin soll schwerer Wasserstoff (Deuterium) mit superschwerem Wasserstoff (Tritium) zu Helium verschmolzen werden, wodurch schliesslich elektrische Energie entsteht. Da diese sogenannte Fusion erst bei einer Temperatur von hundert Millionen Grad in Gang kommt, ist eine grosse technische Anlage mit vielen hochkomplizierten Komponenten notwendig. Ein Land allein wäre mit dem Bau eines solchen Reaktors bei weitem überfordert; deshalb kooperiert die Europäische Union (EU) mit sechs weiteren Ländern, nämlich: USA, Russland, Japan, China, Indien und Südkorea. Als Standort hat man das Forschungszentrum Cadarache gewählt, welches in Südfrankreich bei dem wohlbekannten Städtchen Aix-en-Provence liegt.
Pharaonische Grabungen
Inzwischen haben die Bauleute das Areal planiert, auf dem der Iter mit seinen vielen Nebengebäuden stehen soll. Die Dimensionen sind gigantisch. Um die Plattform für die Gebäude zu errichten, wurde Erde vom Gesamtvolumen der Cheopspyramide bewegt. Das Reaktorgelände ist vier Mal so gross wie das eines normalen Atomkraftwerks. Es umfasst 42 Hektar, umgerechnet 60 Fussballfelder. (Auf dieser riesigen Fläche könnte man alle Spiele der derzeitigen Fussballweltmeisterschaft gleichzeitig austragen!).
Im Juli diesen Jahres ist symbolisch der erste Spatenstich geplant. Das 58 Meter hohe Iter-Hauptgebäude wird bald umgeben sein von einer kleinen Stadt an Nebengebäuden für die Technik und die Administration. Dafür werden mehr Eisenverstrebungen benötigt als für den Eiffelturm und eine hundert Kilometer lange Zufahrt zum Mittelmeer soll die An - und Abfahrt der Bauteile ermöglichen.
Iter-Baustelle aus der Luft
Der Faktor Pi
Derzeit herrscht allerdings tiefe Depression bei den Fans der Fusionstechnologie. Obwohl die Baustelle in Cadarache noch nicht ausgehoben ist, blickt man bereits in einen tiefen Abgrund. Das Megaprojekt wird immer teurer und die Termine laufen davon. Fünf Milliarden Euro waren für Iter bei Vertragsabschluss veranschlagt; jetzt, knapp vier Jahre später, schätzen die Projektmanager die Gesamtkosten schon auf 16 Milliarden. Das ist eine Kostensteigerung um den Faktor Pi, die bekannte Kreiszahl von 3,14. Aber damit noch nicht genug: auch die Termine laufen im rasenden Tempo davon. Wurde vorher bereits der Zeitpunkt der Inbetriebnahme von 2015 auf 2019 verschoben, so sollen jetzt die ersten Kernfusionen frühestens im Jahr 2026 zu erwarten sein.
Bei der Lenkungsbehörde Euratom in Brüssel ist man alarmiert und nicht weniger sind es die europäischen Mitgliedsstaaten, welche letztlich für den Grossteil der Finanzierung aufzukommen haben. Euratom trägt 45 Prozent der Gesamtkosten; die sechs übrigen Partner finanzieren je neun Prozent. Bundesforschungsministerin Annette Schavan kritisiert die exorbitanten Kostensteigerungen ganz offen und spricht von "Planungspannen und Missmanagement". Das Projekt Iter steht auf der Kippe. Selbst im Standortland Frankreich redet man vom "Iter-Abenteuer" und befürchtet Rückwirkungen auf die übrigen nationalen Forschungshaushalte in Form von Budgetkürzungen. Sébastian Balibar, Direktor des nationalen Forschungsinstituts CNRS raunt: "Das ist uns schon einmal mit der Internationalen Raumstation ISS passiert. Diese hat 100 Milliarden Euro gekostet und wissenschaftlich absolut nichts gebracht."
Drohender Domino-Effekt
Der Vizechef des Iter-Projekts, Norbert Holtkamp, "hält einen Teil der Kritik für berechtigt." Manches habe man bei früheren Kostenschätzungen "einfach vergessen". Weitere Zusatzkosten seien durch gestiegene Rohstoffe und ein verändertes Design hinzu gekommen. Anders als beim Teilchenbeschleuniger LHC bei CERN - der "nur" drei Milliarden Euro kostete - und wo die beteiligten Länder Bargeld an das Direktorium überweisen, das dann das Projekt ausschreibt, liefern die Iter-Partner jeweils einzelne Komponenten nach Cadarache. Das ist ein logistischer Albtraum, denn nicht immer passen die Teile zusammen und ausserdem führt dieses Management zu teueren Redundanzen. Holtkamp vergleicht es mit dem Bau eines Autos: "Normalerweise sollte man es so machen, dass einer die Reifen fertigt, der Andere den Motor und der Dritte das Chassis; aber bei Iter will jeder lernen, ein ganzes Auto zu bauen."
Alle sieben Partner haben bei Iter Zugriff auf (fast) alle Bauzeichnungen und Dokumente. Am Ende sollen die Puzzleteile ein funktionierendes Ganzes ergeben. Ineffizienz und Doppelarbeit sind bei diesem Regime die zwangsläufige Folge. So verwundert es nicht, dass es in der Kollaboration schon mächtig kriselt. Manche Asiaten werden verdächtigt, ihre Ingenieure vorzugshalber deshalb nach Europa zu schicken, um hier zu lernen und möglichst viele Zeichnungen zu kopieren - für Iter-ähnliche Projekte zuhause! Würde auch nur eines dieser Länder demnächst aus Iter aussteigen, so könnte das einen Domino-Effekt auslösen und das Projekt in Cadarache kollabieren lassen. Denn die übrigbleibenden Länder wären kaum in der Lage (und wohl auch nicht mehr willens) die dann entstehenden Mehrkosten zu schultern.
Bei Vertragsabschluss des Iter proklamierten die Fusionsforscher noch das Ziel, bis mitte dieses Jahrhunderts einen Fusionsreaktor entwickelt zu haben, der wirtschaftlich Strom erzeugen kann. Das wird immer unwahrscheinlicher, wenn man bedenkt, dass nach Iter noch mindestens zwei Demonstrationsanlagen erforderlich sind um dieser Technologie die Baureife zuerkennen zu können. Hinzu kommt noch die Bestrahlungsanlage zur Materialentwicklung. Vermutlich wird sich der Zeitpunkt der Etablierung dieser Technologie bis ins nächste Jahrhundert verschieben. Manche Kritiker sind noch skeptischer und spotten:
"Die Kernfusion ist die Energie der Zukunft - und wird es immer bleiben".