Sonntag, 21. März 2010

Geschichten um Maier-Leibnitz

Ungeachtet der vielen Kollegen im Physik-Department der Münchener Technischen Hochschule (TH, später TU) blieb Professor Maier-Leibnitz doch zeitlebens die Nr. 1. Das hatte zu tun mit seiner wissenschaftlichen Kompetenz und seiner Ausstrahlung, die gepaart war mit Menschlichkeit und natürlicher Bescheidenheit. Er war durch eine lange und harte Schule gegangen. In Göttingen studierte er bei dem Nobelpreisträger James Franck, in Heidelberg habilitierte er sich im Umkreis der Physikheroen Bothe, Geiger und Gentner. Mit 41 Jahren wurde er 1952 an den Lehrstuhl für technische Physik der TH berufen. Spät, verglichen mit heutigen Karrieren, aber auch bedingt durch die Kriegsumstände. Er hatte umfassende Kenntnisse auf den Gebieten der Atom- und Kernphysik, aber auch alle Apparaturen zur Kernstrahlenmessung konnte er selbst bauen - angefangen vom Proportionalzählrohr, über die Impulsverstärker, Untersetzer, Koinzidenzanlagen u.a.m. Sogar im Glimmerspalten für die Fenster der Zählrohre und Ionisationskammern war er ein Meister.

Heinz Maier-Leibnitz als Habilitand in Heidelberg in den 30er Jahren

Kein Wunder, dass er auch von seinen Schülern, den Diplomanden und Doktoranden, viel verlangte. Insbesondere bei der Diplomarbeit sah er darauf, dass sie zügig zuende gebracht wurde. Einige seiner Sprüche sind mir heute noch in Erinnerung, wie etwa "jeder darf Fehler machen, aber nicht zweimal denselben", oder "wer etwas Neues finden will, ist immer überfordert", oder "niemand hat das Recht, sein Talent zu verschleudern". Von der 40-Stunden-Woche für Forscher hielt er wenig; regelmässig konnte man noch spätabends - und auch an den Wochenenden - Licht in vielen Labors sehen. Aber er hatte auch Verständnis dafür, dass wir mittags Schafkopf spielten oder einen zünftigen Skat klopften.

Selbst gelegentliche (milde) Scherze auf seine Kosten nahm er hin. So hatte mein heutiger Rotter Stammtischbruder Peter F. als damaliger Doktorand eine zeitlang die Unsitte angenommen, sich bei telefonischen Anrufen mit "Maier-Leibnitz" zu melden, wobei er dessen leise flüsternde Stimme perfekt nachzuahmen vermochte. Natürlich kamen die Anrufer regelmässig mächtig ins Stottern und entschuldigten sich ob des Fehlanrufs - was Peter diebisch freute. Schliesslich kam es, wie es kommen musste: wieder einmal klingelte das Telefon, Peter meldete sich mit "Maier-Leibnitz", aber, oh Schreck, die ihm bekannte Stimme sagte trocken: "hier auch", um kommentarlos mit der Frage fortzufahren: "ist der Alefeld da?". Der Doktorand F. war verwirrt und hat von Stund an sein Hobby eingestellt.

Besprechungen über administrative Angelegenheiten waren bei Maier-Leibnitz geprägt durch äusserste Knappheit. Meist ging er zum Büro seines Stellvertreters, steckte den Kopf durch die Tür und sagte: "Herr Riehl, wir müssen in der und der Frage eine Entscheidung treffen. Wollen wir es so oder so machen?" Riehl nickte bei einer der vorgeschlagenen Alternativen mit dem Kopf, oder fügte ein "jawohl" hinzu, falls er gerade in redseliger Stimmung war. Daraufhin ging die Tür wieder zu, die "Besprechung" war zu Ende. Falls es sich um eine Beschaffung handelte, schrieb die hinter ML (sein Spitzname) stehende Sekretärin Paula Moehnle sogleich den Bestellschein aus, der Pedell wurde in die Stadt geschickt und kam kurze Zeit darauf mit dem gekauften Gegenstand zurück.

Für seine Doktoranden empfand Maier-Leibnitz (bei aller wissenschaftlicher Strenge) viel menschliches Verantwortungsgefühl, wenn es um deren späteres Fortkommen ging. Eine kuriose Episode mag das verdeutlichen. Einer von MLs Doktoranden, der eine hervorragende Arbeit vorgelegt hatte, wurde im Rigorosum mündlich examiniert. Die Prüfung fiel katastrophal aus, der Kandidat wusste fast nichts. Die Zensur "cum rite" war gerade noch vertretbar; das Dreierkollegium wusste anfangs nicht was man tun sollte. Da erklärte Maier-Leibnitz, der Prüfling sei ihm als sehr guter Physiker bekannt, eine Benotung entsprechend der mündlichen Leistung würde ein völlig falsches Bild über den Kandidaten abgeben, man solle den Fall als "Sonderfall" ansehen und eine sehr gute Benotung beschliessen. Nach einiger Zeit liessen sich Vorsitzender und Beisitzer dazu überreden, der Prüfling wurde wieder herein geholt und ihm der Kommissionsbeschluss "sehr gut" mitgeteilt. Nun geschah das Schreckliche. Mit vor Entrüstung bebender Stimme weigerte sich der Kandidat, diese Benotung anzunehmen, denn seine Prüfungsleistung sei miserabel gewesen. Es ergab sich die groteske Situation, dass die drei Professoren ihre ganze Überredungskunst aufwenden mussten, um den Prüfling zur Annahme des Beschlusses zu veranlassen - was schliesslich doch noch gelang. Es ist wohl einmalig in der Hochschulgeschichte, dass um eine Benotung mit verkehrten Rollen gestritten wurde.

Immer wieder versuchten Physikerkollegen, die auf Besuch weilten, die "Geheimnisse" von Maier-Leibnitz zu ergründen. Einige vermuteten, dass sich Maier-Leibnitz für sein Institut stets nur die allerbesten Mitarbeiter ausgesucht habe. Er verneinte und erwiderte: "Ein Institut kann nicht nur aus lauter Spitzenwissenschaftlern bestehen. Es muss eine natürliche Schichtung von Intelligenz und anderen Fähigkeiten geben. Erst das erzeugt die Atmosphäre, aus der heraus gute Arbeit entsteht". - Ein anderer Kollege vermutete, dass wohl alle im Institut regelmässig die "Physical Review" lesen würden, um den aktuellen Stand der Forschung überblicken zu können. ML erwiderte darauf, dass dies für ihn nicht gelte; er läse diese Zeitschrift vorallem deswegen, um zu erfahren, was man nicht unbedingt tun solle. (Später gestand er allerdings, dass er die Lambsche Arbeit über die rückstossfreien Prozesse doch besser hätte lesen sollen). - Maier-Leibnitz hat in seinem Leben viele Ehrungen und Auszeichnungen erhalten. Bei einer solchen Gelegenheit fragte ihn ein gratulierender Kollege, ob er davon nicht schon genug habe und derlei Dekorierungen eventuell als überflüssig ansähe. ML meinte dazu:"Sehen Sie, Sie kennen meine Verdienste, ich kenne sie auch, aber die anderen... dafür ist sowas doch ganz gut!"

Jedes Jahr, zumeist im Februar, war Institutsfasching angesagt. Die Räume wurden dekoriert, die Tanzfläche hergerichtet und alle erschienen in fantasievollen Kostümen - auch der ML mit Familie. Seine Frau Rita, leicht füllig und von mütterlicher Ausstrahlung, war ungemein beliebt im Institut und die drei Teenager-Töchter Christine, Dorothee und Elisabeth wurden natürlich hofiert. Wir Jüngeren machten uns einen Spass daraus, sie - fiktiv - mit passenden Assistenten zu "verheiraten". Tasso S. war dabei unser Lieblingsopfer. Die spätere Realität sah andere Ehepartner für die drei vor; sie kamen nicht aus der Physikersphäre.

Leider starb Rita allzu früh, ein schwerer Schlag für Maier-Leibnitz und seine Familie. Verständlicherweise heiratete er wieder, aber, dass Elisabeth Noelle-Neumann 1979 die Auserwählte war, hat uns alle perplex gemacht. Die Gründerin des Instituts für Demoskopie in Allensbach und apostrophiert als die "Pythia vom Bodensee" war in vielen das pure Gegenteil seiner verstorbenen Frau. Noelle-Neumann, fünf Jahre jünger als ML, war eine Karrierefrau par excellence, sie suchte das Licht der Öffentlichkeit und insbesondere den Kontakt mit den Mächtigen. Schon im Dritten Reich, als Leiterin eines Nationalsozialistischen Studentenbunds, lernte sie - nach eigenem Bekunden - Adolf Hitler kennen, der sie auf dem Obersalzberg willkommen hiess. Sie schrieb für die NS-Zeitung "Das Reich" und Propagandaminister Josef Goebbels berief sie 1942 sogar zu seiner Adjutantin, wobei nur eine längere Erkrankung sie daran hinderte, dieses Amt anzutreten.

Frau Noelle, in erster Ehe mit dem Journalisten Neumann verheiratet, stellte bald Rhetorikdefizite bei ihrem neuen Ehemann fest. Kein Wunder, denn Maier-Leibnitz war kein Kathederstar wie Gerlach oder Pohl in Göttingen. Sein Vortrag war stockend und durch lange Pausen unterbrochen. Trotzdem erreichte er die Studenten, denn man konnte dadurch an seinen Gedankengängen teilhaben. Aber Frau Noelle veranlasste ihren Ehemann zum Verfassen einer 50-seitigen Abhandlung über Rhetorik, die 1984 in der Schriftenreihe der Bayerischen Akademie erschien. Sie scheint kein Bestseller gewesen zu sein, denn sieben Jahre später beklagte sich Frau Noelle in einem Taschenbuch zu Ehren von ML wie folgt: "Diese Abhandlung erwartet noch immer die Resonanz der wissenschaftlichen Welt". Wie sagen die Angelsachsen: "Those who can, do...".


Elisabeth Noelle-Neumann und Heinz Maier-Leibnitz in den 80er Jahren

Die Diktion der Frau Noelle kam weniger aus dem Herzen - wie bei der verstorbenen Ehefrau Rita - sondern entsprach eher der Wortwahl einer Promi und VIP. Dafür liefert sie selbst den Beweis in einem weiteren Taschenbuch, das nach dem Tod von Maier-Leibnitz erschienen ist. Originalton Noelle: "In der Zeit der grossen Erschöpfung des letzten Lebensjahres - oft klagte er : "Ich kann nicht mehr denken" - tröstete ich ihn wieder und wieder: "Du warst ein Fürst und du bist ein Fürst".

Im letzten Lebensjahr von Maier-Leibnitz kam der Präsident der TU München auf die Idee, seinem verdienten Professor den "Ehrenring" (eine Art Siegelring) als höchste Auszeichnung der Universität zu verleihen. Volle 17 Jahre waren verstrichen seit der Emeritierung von ML (1983); man hätte diese Dekoration, bei Gott, früher vornehmen können. (Zwischenzeitlich hatte ML den Verdienstorden Pour le Mérite, das Grosse Bundesverdienstkreuz, ein Dutzend weiterer Medaillen und mehrere Ehrendoktorate erhalten). Aber im Sommer 2000 beschloss das Präsidium der TU, dass Maier-Leibnitz beim dies academicus, am 7. Dezember, auch ihren hochwertvollen Ring erhalten solle. Indes, es war zu spät, der Schwerkranke konnte die Reise (von Allensbach) nach München nicht mehr antreten. So schickte man Paul Kienle, einen Schüler von Maier-Leibnitz (mit der Amtskette des Präsidenten!) ans Krankenbett. Die "Zeremonie" wurde fotografisch festgehalten. Die Reaktion des Totkranken auf die Dekoration beschreibt Frau Noelle so: "Als ihm der Ehrenring angesteckt war, war es, als ob eine Erlösung über sein Gesicht ging".


Paul Kienle überreicht Maier-Leibnitz den Ehrenring der Technischen Universität München

Einen Tag später, am 16. Dezember 2000, ist Professor Heinz Maier-Leibnitz gestorben.

1 Kommentar:

  1. Willi, diesen Artikel habe ich mit grossem Interesse gelesen. Er ist sehr gut geschrieben.
    A.P.

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