Nachschnüffeln, bespitzeln und spionieren scheinen immer mehr gängige Praxis zu werden. Die Presse berichtet darüber, dass die Deutsche Bank ihre eigenen Führungskräfte von einer Detektei überprüfen liess, dass Bahn und Telekom in hunderttausenden von Stammdaten der Mitarbeiter schnüffelten und, dass LIDL die Mitarbeiter per Videokamera überwachte. Kölner Piloten sollen sogar in ihrer eigenen Wohnung observiert worden sein. Auch der Staat will da nicht zurückstehen. Innenminister Schäuble kündigte schon mal an, die Festplatten verdächtiger Subjekte mit seinen behördlichen "Trojanern" durchsuchen zu lassen.
Und das Überraschende ist: kaum jemand ist von diesen Meldungen überrascht, kaum jemand - ausser die direkt Betroffenen - juckt es. Welch ein Unterschied zu dem allgemeinen Aufstand bei der Volkszählung 1983! Die Bundesregierung musste den Zensus bekanntlich abblasen, weil das Bundesverfassungsgericht das "Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung" verletzt sah. Heute fahren die Kameraautos von Google ungehindert durch die Strassen und über Google Earth kann man jedem in der westlichen Welt ungehindert auf sein Grundstück schauen.
Wie sehr sich das Bewusstsein beim Thema Unverletzlichkeit der Wohnung und persönliche Datensicherheit in den letzten dreissig Jahren gewandelt hat, wird besonders am "Fall Traube" deutlich. Zur Erinnerung: Dr. Klaus Traube war in den siebziger Jahren ein bekannter Atommanager, der u. a. Geschäftsführer der Firma Interatom für den Bau des Kernkraftwerks Kalkar war. Er hatte sich in terroristischen Kreisen bewegt - ohne selbst Terrorist zu sein - war ins Zielfeld des Verfassungsschutzes gekommen und wurde daraufhin von seinen Arbeitgeber Siemens entlassen.
Wenn man die schier unglaublichen Ereignisse der sogenannten "Traube-Affäre" Revue passieren lässt, dann sollte man sich zuerst folgendes vor Augen halten: es war während des Kalten Kriegs, als die terroristische Vereinigung um Baader und Meinhof, genannt die BM-Bande, bereits ihre Untaten verübt hatte und nur wenige Monate vor den Morden an dem Generalbundesanwalt Buback, dem Bankier Ponto und dem Arbeitgeberpräsident Schleyer. Polizei, Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst waren in ständiger Alarmbereitschaft. Zu jener Zeit der sog. "Rote-Arme-Fraktion" (RAF), mitte 1975, war es deshalb nichts Ungewöhnliches, dass einige Beamte des Kölner Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) eine Frankfurter Rechtsanwältin observierten, die als "notorisch links" galt, Kontakte zu Baader und anderen BM-Leuten hatte und vornehmlich Genossen des Terrorumfeldes verteidigte. Zum Klientel dieser Anwältin Inge Hornischer gehörte auch Wilfried Böse, der später als Geiselnehmer im afrikanischen Entebbe auftauchte und dort von den Israelis erschossen wurde. Damals schien Hornischer mit einem jüngeren Mann namens Hans-Joachim Klein liiert zu sein, der ebenfalls der terroristischen Szene zuzurechnen war.
Bei ihren Observationen stellten die Verfassungsschützer zu ihrer grossen Überraschung fest, dass der Atommanager Klaus Traube ebenfalls zum Freundeskreis der Anwältin gehörte. Hornischer, Klein und Traube machten gemeinsam Urlaub im (damals noch kommunistischen ) Jugoslawien und trafen sich mehrmals in Traubes Haus bei Köln. Bei einer dieser Gelegenheiten brachte Klein ein Gewehr mit und veranstaltete vor Traubes Haus ein wildes Scheibenschiessen. Die Beamten des BfV konnten sich keinen Reim darauf machen, wie Menschen von so unterschiedlichen Lebenszuschnitt befreundet sein konnten. Mehr als alles andere beunruhigte sie, dass Traube umfassende Anlagenkenntnisse bei Atomkraftwerken hatte und bei Kalkar auch für hunderte von Kilogramm Plutonium mitverantwortlich war.
Im Dezember 1975 überschlugen sich die Ereignisse. Terroristen überfielen die Wiener Opec-Konferenz, wobei es zu einer Schiesserei mit drei Toten kam. Als einer der Mittäter - nach dem Überfall von seinen Komplizen ausgeflogen - entpuppte sich Hans-Joachim Klein, der noch Monate zuvor im Haus von Traube ein Wochenende verbracht hatte. Traube behauptete dem BfV gegenüber, dass er von dem Opec-Überfall nichts gewusst habe, musste aber zugeben, dass er früher kurzzeitig Mitglied der kommunistischen Partei gewesen war und in den letzten Jahren drei Mal seinen Ausweis verlustig meldete. Aufgrund des Restverdachts beschlossen die Verfassungsschützer eine sogenannte Grosse Lauschoperation einzuleiten.
Spezialisten des BfV drangen, als Traube beim Schifahren in St. Moritz war, in dessen Haus ein und brachten an der Rückseite des Schreibtisches einen batteriebetriebenen Sender, eine sogenannte "Wanze" an. Gleichzeitig fotografierten sie die Wohnung und stellten zu ihrer Überraschung fest, dass sich im Obergeschoss ein Matratzenlager für ca. zehn Personen befand. Die Assoziation zum "Volksgefängnis" der Berliner Lorentz-Entführer drängte sich auf. Daraufhin wurde der Arbeitgeber Siemens benachrichtigt, der einigermassen entsetzt war und Traube auf der Stelle entliess. Der Öffentlichkeit gegenüber wurde von einer "schweren Erkrankung" Traubes gemunkelt.
Auch mir erschien diese Version glaubhaft, seinen Dauerstress mit dem Schnellbrüterprojekt SNR3oo/Kalkar konnte ich nachempfinden. Da ich Traube gut kannte, schrieb ich ihm zu jener Zeit einen kleinen Brief, in welchem ich mein Mitgefühl ausdrückte und die Erwartung, dass er bald wieder zurückkehren könne. Er antwortete freundlich, ging auf den Grund seiner Absenz aber nicht ein und schloss mit der Floskel "dass schon alles wieder gut gehen wird."
Von diesem Lauschangriff wäre wohl nichts bekannt geworden und Traube würde vermutlich heute noch in stiller Abgeschiedenheit seine Abfindung geniessen, wenn es nicht zu einem weiteren Vorfall gekommen wäre. Dem Journalisten und früheren Mitarbeiter des BfV, Hans Georg Faust, gelang es nämlich, die Akten zum Fall Traube zu stehlen und an den "Spiegel" weiterzuleiten. Dieses Nachrichtenmagazin brachte ein Jahr später, im März 1977, eine umfangreiche Titelgeschichte unter der Überschrift "Lauschangriff auf Bürger T." heraus. Die geschilderten Ereignisse wurden nicht bestritten, aber als Hauptübeltäter der ganzen Affäre wurden der damalige FDP-Bundesinnenminister Werner Maihofer und der BfV-Präsident Richard Maier dargestellt. Ihnen wurde nichts weniger als Verfassungsbruch vorgeworfen, nämlich der Verstoss gegen Artikel 13 des Grundgesetzes. Dieser besagt, dass die Wohnung unverletzlich ist und Durchsuchungen vom Richter angeordnet werden müssen. Bei "Gefahr im Verzug" können diese Anordnungen auch andere Organe treffen, wie der Staatsanwalt oder die Polizei - aber eben nicht das Bundesamt für Verfassungsschutz. Das Eindringen in Traubes Wohnung, samt Setzen der Wanze, verstiess also formal gegen die Verfassung.
Der Innenminister geriet unter starken Beschuss und verwies darauf, dass seine Beamten wegen der fast täglichen RAF-Untaten unter Handlungszwang standen. Egal, unter dem publizistischen Trommelfeuer des Spiegels musste der liberale Maihofer (und mit ihm der BfV-Chef Maier) abdanken. Maihofer wurde durch seinen (linksliberalen) Staatssekretär Gerhart Baum ersetzt.
Längst im Ruhestand, wurde Baum vom Aufsichtsrat der Deutschen Telekom und der Deutschen Bahn mit der Aufarbeitung der kürzlichen Daten-und Spitzelskandale beauftragt. In der Spiegelnummer 24/2009 beklagt er sich in einem mehrseitigen Interview wortreich über die "totale Überwachung durch die moderne Kommunikationstechnologie". Und sagte weiter: "die Freiheitsrechte sind heute viel gefährdeter als damals - zur Zeit der RAF".
Die nachgewachsene Generation der Spiegelleser rührt dies offensichtlich wenig. In der folgenden Zeitschriftennummer gab es keine einzige Leserbriefreaktion zu seinen Äusserungen.
"Keinen juckt es"? Zum Glück tut es das doch, und das Sammelbecken der Gejuckten ist die Piratenpartei.
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