Sonntag, 24. Mai 2009

Vor dem Urknall

Die Menschen sind neugierig und stellen allerhand Fragen. Zum Beispiel: "Was tat Gott, bevor er Himmel und Erde schuf?" Der christliche Kirchenlehrer Augustinus antwortete darauf: "Er machte die Hölle für diejenigen, welche solche Fragen stellen." Damit hatte er wohl eine Zeitlang für Ruhe gesorgt.

Moderne Menschen stellen moderne Fragen. Zum Beispiel: "Was geschah vor dem kosmischen Urknall, bei dem unser Universum entstanden sein soll?" Die Physiker versuchten sich lange Zeit um die Antwort zu drücken, etwa mit dem Hinweis, dass beim Zustand null der Raumzeit solche Fragen "sinnlos" seien. Aber bei einem Publikum, das Relativitäts- und Quantentheorie meistenteils nur rudimentär beherrscht, dringen sie damit nicht durch. Auch fehlt ihnen die Autorität mittelalterlicher Theologen!

Neuerdings "kriselt" es sogar in der Zunft der Astrophysiker. Immer mehr beschäftigen sich wissenschaftlich seriös mit dieser Frage und der junge deutsche theoretische Physiker Martin Bojowald hat sogar ein Buch darüber geschrieben. ("Zurück vor dem Urknall", Fischer-Verlag.) Er ist führend bei der Erforschung der sog. Schleifen-Quantengravitation, welches ein geeignetes mathematisches Hilfsmittel zur Erforschung des Urknalls sein könnte.

Die Hypothese des Urknalls beruht bekanntlich auf einer einfachen astronomischen Beobachtung: die Sterne und Galaxien im Universum bewegen sich voneinander weg. Wenn man - gedanklich - diesen Trend umkehrt, so müssen sie vor 13,7 Milliarden Jahren eng zusammengeballt gewesen sein. Nach Einsteins Gleichungen sogar in einem winzigen Punkt unendlicher Dichte, genannt die Urknall-Singularität. Aber hiermit fängt auch das Dilemma an, denn eine unendliche Dichte gibt es nicht - also muss an den Gleichungen dieses genialen Physikers doch etwas nicht stimmen.

Der Physiker Bojowald "korrigiert" Einsteins Vorstellungen, indem er Raum und Zeit, kurz "Raumzeit" genannt, nicht als ein "Kontinuum" ansieht, also etwas Stetiges, Lückenloses, Zusammenhängendes, sondern als ein Gewebe winziger "Raumzeitatome". Seine Raumzeit ist also nicht glatt, sondern "körnig". Allerdings sind diese Raumzeitatome (verglichen mit gewöhnlichen Materieatomen) sehr viel kleiner und machen sich erst unmittelbar vor der genannten Singularität - in der sog. Planckdimension - bemerkbar.

Und da passiert etwas Bedeutsames und Neuartiges. Das oben angesprochene und implodierende Weltall verdichtet sich nämlich nicht bis zu einen "Punkt", sondern wird kurz vorher abgebremst - und sogar wieder abgestossen. Es beginnt zu expandieren und bildet ein neues Weltall. Diesen Vorgang nennen die Kosmologen "Rückprall", im Gegensatz zum früheren Bild des Urknalls. (Englisch: big bounce statt big bang).

Bleibt noch die Frage, woher die Gegenkraft zu der gigantischen Anziehungskraft der Gravitation kommt? Nun, es ist die Gravitation selbst. Sobald die atomare Struktur der Raumzeit wirksam wird, ändert sich auch das Vorzeichen der Gravitation. Aus der ursprünglichen Anziehungskraft wird nun eine Abstossungskraft, was den erwähnten Rückprall einleitet und ein neues Universum via Expansion enstehen lässt.

Zum Verständnis seiner Schleifen-Quantengravitation benutzt Bojowald ein simples Bild aus dem Alltag. Stellen wir uns den Raum als einen Schwamm vor und die Masse bzw. die Energie als Wasser. Der porenreiche Schwamm vermag Wasser aufzunehmen, aber nur bis zu einer bestimmten Menge. Wenn er vollgesogen ist, kann er nichts mehr absorbieren, sondern er stösst das Wasser sogar ab. Genau so ist ein atomarer Quantenraum porös und hat nur endlich viel Stauraum für die Implosionsenergie. Werden die Energiedichten allzu gross, dann kommen Abstossungskräfte ins Spiel. Im Gegensatz dazu vermag der kontinuierliche Raum von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie unbegrenzt viel Energie zu speichern und gerät deshalb auf das mathematisch schiefe Bild der Punktsingularität.

Anfangs war Bojowald der Meinung, dass wir von unserem Universum aus auf die Zustände vor dem Rückprall schliessen könnten - so wie wir die Wege zweier Billardkugeln vor einem Zusammenstoss aus ihren Bahnen nach dem Stoss rekonstruieren können. Mit "Fernrohren", welche Neutrinos oder Gravitationswellen nutzen, erschien es wahrscheinlich, durch das Schlüsselloch der Rückprallfläche unser Universum vor dem Rückprall zu beobachten.

Aber das scheint (derzeit) noch nicht möglich zu sein. Chaotische Quantenfluktuationen, eine Art Turbulenz im kleinsten Mikrobereich, "verschmieren" das Bild und vernichten fast alle Spuren seiner Vorgeschichte. Mutter Natur schlägt eben für jedes Universum ein neues Blatt auf. Bojowald beschreibt das elegisch so:

"Unser Universum leidet an tragischer Vergesslichkeit".

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