Dienstag, 25. November 2008

Chicago und Genf im Wettlauf

Die Inbetriebnahme des Large Hadron Collider (LHC) am CERN bei Genf wünschte er sich als krönenden Abschluss: der französische Gerneraldirektor Robert Aymar, dessen Amtszeit mit Ablauf des Jahres 2008 enden wird. Die Protonenpakete durch den 27 Kilometer langen Beschleunigerring zu fädeln, gilt als das "experimentum crucis". Dessen Gelingen würde die 20-jährige Planungszeit und die 8-jährige Bauzeit des LHC symbolisch beenden und die lang ersehnte Experimentierphase eröffnen.

Am 10. September 2008 gab der Projektleiter Lyn Evans grünes Licht für diese Prozedur. Zur Feier des Tages trug er ostentativ Jeans und ein kurzärmliges Hemd. (Sonst erscheint er regelmässig in Shorts und T-Shirt zur Arbeit). Und das Vorhaben gelang. Tausende fein justierter Magnete bogen und fokussierten den Protonenstrahl derart exakt, dass er auf dem langen Parcours nirgendwo gegen eine Wand stiess. Und als am Nachmittag die Protonenpakete auch sicher durch das zweite Strahlrohr liefen - diesmal entgegen dem Uhrzeigersinn - gab es bei den Tausenden von Mitarbeitern kein Halten mehr. Man lag sich in den Armen und Champagner war angesagt. Die Erfolgsmeldung ging über alle Ticker und für den 21. Oktober wurden die Vertreter aller am CERN beteiligten Länder zur Feier der offiziellen "LHC-Inauguration" eingeladen. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte spontan zu und wurde sogar mit der Festrede geehrt - vor 2000 geladenen Gästen. Immerhin ist Deutschland der grösste Partner bei CERN und finanziert satte 20 % des Jahresbudgets von 650 Millionen Euro. (Trotzdem ist Deutsch, im Gegensatz zu Englisch und Französisch, nicht Projektsprache. Warum eigentlicht nicht?)

In den folgenden Tagen wurde der Probebetrieb fortgesetzt, aber am 19. September - einem Freitag, wer würde da nicht abergläubisch werden - passierte das Unfassbare. Die Messgeräte registrierten Arges und ausgesandte Suchtrupps in Schutzanzügen stellten bald im Sektor 3-4 des Tunnels schlimme Zerstörungen fest. Mehrere Tonnen flüssiges Helium waren aus einem Leck entwichen und dabei verdampft. Dutzende von Dipol- und Quadrupolmagnete, tonnenschwer und bis zu 15 Metern lang, lagen verschmort und aus ihren Verankerungen gerissen umher. Viele der vorher hochreinen Bereiche waren mit einer Art Russ bedeckt. Die Ursache dieses Störfalls war schnell gefunden: eine defekte elektrische Verbindung zwischen zwei Magneten produzierte einen Spannungsabfall und kurz darauf einen elektrischen Lichtbogen, der den Heliumkryostaten durchschlug und die genannten Kollateralschäden verursachte. ( Die früheren LHC-Versuche hatte man mit geringerer Leistung gefahren, weswegen die Anlage wohl gerade noch gehalten hatte).

An eine Fortsetzung der Inbetriebnahmeversuche ist unter diesen Umständen nicht mehr zu denken. Die Reparatur des LHC wird ein Jahr oder auch länger dauern; der (zusätzliche) Kostenaufwand wird derzeit auf 20 Mio Euro abgeschätzt. Das ist insbes. deswegen schlimm, weil das CERN bereits jetzt wegen diverser anderer Kostenüberschreitungen verschuldet ist. In drei Jahren will man diese Kredite aus dem normalen Budget zurückzahlen. Eine grosse Aufgabe für den Chief Finance Officer, dessen Karriere beim KfK in Karlsruhe begonnen hat.

Noch schlimmer ist der psychologische Schock bei den Mitarbeitern, insbesondere den Experimentatoren. Diesen läuft nämlich kostbare Zeit davon. Sie wollten die Riesenmaschine u.a.dafür nutzen, um ein geheimnisvolles Teilchen aufzustöbern, das sog. Higgs-Teilchen. Es ist benannt nach dem schottischen Physiker Peter Higgs, der es vor gut 40 Jahren postuliert hat und welches den bislang bekannten 24 Kernteilchen ihre Masse verleiht. Ein geradezu charismatisches Teilchen; wer es als Erster findet, dem ist der Nobelpreis sicher - neben Peter Higgs, der mittlerweile auch schon 80 Jahre alt geworden ist.

Aber die Genfer Physiker sind nicht allein. Sie stehen im Wettlauf mit ihren Kollegen am Fermilab in Chicago. Diese besitzen mit dem Tevatron zwar nur einen leistungsschwächeren Beschleuniger, der aber den Vorteil hat, dass er gut läuft. Und die amerikanische Regierung hat kürzlich auch noch Finanzmittel bis zum Jahr 2010 bereitgestellt. Bis dorthin können die US-Physiker noch viel Strahlzeit akkumulieren und, wer weiss, vielleicht stossen sie bei der Analyse ihrer Datenberge schon bald auf das mysteriöse Higgs-Boson - während in Genf noch dekontaminiert und geschlossert wird.

Anzeichen für eine baldige Entdeckung dieses Partikels gibt es schon seit einiger Zeit. Immer wieder breschen einzelne Physiker des Fermilabs mit privaten Blogs vor, in denen sie interessante und neuartige Versuchsergebnisse veröffentlichen. So scheint es ziemlich sicher zu sein, dass die Higgs-Teilchen eine Masse unterhalb von 170 GeV besitzen. Solche Vorveröffentlichungen sind eigentlich gegen den Ehrenkodex der Wissenschaft und deshalb versucht das Management des Fermilabs sie zu unterbinden. In Genf setzt man die sog. Standardabweichung auf 5 sigma fest, d.h. eine zufällige Fluktuation hätte dann nur noch die geringe Wahrscheinlichkeit von 0.0001 Prozent. Man wird sehen, wie dieser Wettlauf ausgeht; die nächsten Monate und Jahre werden spannend.

An der Einweihungsfeier am 21. Oktober hielt Chefmanager Aymar eisern fest, auch wenn der Beschleuniger unter den Füssen der geladenen Gäste still lag. Der kurze Festakt fand auf der Frankreich zugehörigen Seite des CERN-Geländes, in einer vorher leergefegten, gleichwohl festlich dekorierten Werkhalle statt. Wohlgesichert durch die französische Polizei!

Viele der CERN-Forscher aber waren sichtbar verärgert, weil ihrer Meinung nach der Beschleuniger überstürzt in Betrieb genommen wurde und es dadurch zu der folgenschweren Panne gekommen ist. In mehreren Schweizer Zeitungen (u.a. Tribune de Geneve, Sonntag) wird der scheidenden Generaldirektor unverblümt harter Kritik unterzogen. Ein zu ehrgeiziger Terminplan habe zu übertriebenem Zeitdruck geführt, dem die Qualitätskontrolle zum Opfer fiel. Oder: er habe sich vor seinem Abgang noch ein persönliches Denkmal setzen wollen. Auch sein autoritärer Führungstil (mit dem er bereits als ehemaliger ITER-Projektleiter angeeckt ist) und sein nichtkommunikatives Verhalten kam bei den Professoren und Forschern des Experimentierbetriebs denkbar schlecht an. Diese trifft der zeitliche Rückschlag beim LHC ganz besonders, da viele Anstellungsverträge befristet sind und demnächst auslaufen. Im Kern sieht man das Problem darin, dass Aymar zu wenig Sachkenntnis auf dem Beschleunigergebiet mitbrachte und das Projekt mit zu grossem persönlichen Ehrgeiz betrieben hat.

Bundeskanzlerin Merkel liess sich übrigens für die Inaugurationsparty entschuldigen, womit sie wieder einmal ihr politisches Sensorium bewies. Ihren Part übernahm die Forschungsministerin Annette Schawan. Sie stellte auch Aymars Nachfolger, den Deutschen Rolf-Dieter Heuer vor, der CERN ab Januar 2009 als Generaldirektor leiten wird. Er ist damit erst der zweite Deutsche in dieser Funktion, fast genau 20 Jahre nach Herwig Schopper. Viele erwarten von Heuer, dass er als ehemaliger DESY-Forscher mehr Sachkunde einbringt und den autoritären Führungsstil seines Vorgängers abschafft.

Apropos: Bereits zu Schoppers Zeiten fanden die ersten Workshops zur Planung des heute fertiggestellten Large Hadron Collider statt. Soviel zu den Zeitkonstanten in diesem schwierigen Gewerbe.

1 Kommentar:

  1. Es wäre gut zu wissen, wie die anderen Staaten die radioaktiven Abfälle lagern. Vieleicht ist das Problem in Japan noch grösser als bei uns, wegen tektonischer Verschiebung?

    AntwortenLöschen