Sonntag, 18. Mai 2008

Reichholf - das enfant terrible der Klimatologen

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht unsere Klimapäpste (Grassl, Latif etc.) das TV-Publikum verängstigen, indem sie verkünden, dass die Globaltemperaturen "in noch nie dagewesenem Umfang" und mit "einzigartiger Geschwindigkeit" ansteigen würden. Dabei sind die Mitteltemperaturen bei uns in den vergangenen 100 Jahren gerade mal um gut ein halbes Grad gestiegen. Am Ende der letzten Eiszeit waren es im gleichen Zeitraum volle 7 Grad Celsius.

Josef H. Reichholf weist in seinem Buch "Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends" (S. Fischer Verlag) auf diese Diskrepanzen hin, beleuchtet darin das vergangene Jahrtausend, also etwa ab der Zeit Karls des Grossen bis zur Gegenwart. Das ist zwar nur ein Wimpernschlag der gesamten Erdgeschichte, aber eine Periode über die bereits viele klimatische Aufzeichnungen vorliegen. In diesem kurzen Zeitabschnitt gab es die mittelalterliche Warmzeit mit ausgeprägten Maxima um die Jahre 1000 und 1200 n. Chr. , sowie eine kleine Eiszeit, welche mit der Neuzeit um 1500 begann und zwei weitere Minima um 1700 und 1850 hatte. Bezeichnend ist, dass keines der Klimamodelle unserer sogenannten Experten in der Lage ist, diese Temperaturvariationen rechnerisch nachzuvollziehen.

Reichholfs Kernthese ist, dass die für Mitteleuropa aus den Jahresmittelwerten errechnete Temperaturzunahme von, wie gesagt, gut einem halben Grad lediglich ein Hundertstel der gewöhnlichen, ganz normalen Schwankung ausmacht, welche im Jahreslauf auftritt. Diese Jahresspanne von etwa 50 Grad reicht von hochsommerlichen +35 Grad Celsius im Schatten bis zum winterlichen Frost von -15 Grad und darunter. Die winzige Änderung von einem guten halben Grad würde niemand wahrnehmen, wenn sie sich nicht konkret in milderen Wintern ausdrücken würde, die nun etwas häufiger kommen. Kalte Winter sind aber auch in der Zukunft nicht ausgeschlossen, ebensowenig wie heisse Sommer einfach eine Folge dieser Erwärmung sein müssen . Die tageszeitlichen und jahreszeitlichen Schwankungen und ihr Ausmass sind für die Natur und für die Nutzungsansprüche der Menschen viel wichtiger als das statistische Mittel. Auf der Zeitachse der vergangenen 1000 Jahre können die 30 Jahre "signifikanter Klimaveränderung" für die weitere Zukunft eine ähnlich bedeutungslose Abweichung sein, wie die Serie extrem kalter Winter im 16. Jahrhundert.

Über gut 300 Seiten beschreibt Reichholf wie die europäischen (und zum Teil auch asiatischen) Menschen die Klimagegebenheiten und Klimaveränderungen während der vergangenen 1000 Jahre bewältigt haben. Die Wechselwirkung von Naturgeschichte und politisch-sozialer Geschichte wird in vielen Facetten dargelegt und zeigt, dass der Autor nicht nur ein gelernter Biologe (mit Lehrbefugnis an beiden Münchener Universitäten) ist sondern, dass er auch über ein stupendes historisches Wissen verfügt. Er verweist, zum Beispiel, auf die Wikinger, die Grönland in ihren Besitz nahmen, das zur damaligen Warmzeit (800 - 1100 n. Chr.) eisfrei war und sich sogar für die Viehwirtschaft und den Ackerbau eignete. Mit "Grünland" als Basis hielten die berühmten Seeräuber Erik der Rote und Leif Erikson ganz Nordeuropa in Schach, gründeten Kolonien in der Normandie, im heutigen England und sogar in der Ukraine. Darüberhinaus ist erwiesen, dass sie die Küste Nordamerikas sowie des kanadischen Neufundlands erreichten.

Mit Beginn der Neuzeit wurde es deutlich kälter in Mitteleuropa. Der holländische Maler Pieter Breughel zeigt auf seinen Gemälden, dass sogar die früher wintermilden Niederlande von Schnee und Eis bedeckt waren. Schlittschuhläufer vergnügten sich auf völlig zugefrorenen Grachten, dick verhüllt in wärmender Kleidung. Die "warme Stube" kam auf, als Kombination von Küche, Esszimmer und Aufenthaltsraum; der Kachelofen wurde zum bevorzugten Ort im Haus. Sogar das "Himmelbett" hielt Einzug in einfache Wohnverhältnisse, weil die Abschirmung des Bettes durch Vorhänge die Eigenwärme der Schläfer besser zusammen hielt. Zugleich verminderte man die Höhe der Wohnräume so sehr, dass sich die Menschen darin gebückt bewegen mussten - welch ein Gegensatz zu den hohen Räumen des vorausgegangenen warmen Mittelalters. Aber auch die Sommer waren in dieser "kleinen Eiszeit" nicht üppig: von 1860 bis in die ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinein waren die Sommer überwiegend schlecht, in manchen Gegenden sogar katastrophal.

Ein weiteres Buch des gleichen Autors Reichholf ist ebenfalls zu empfehlen. Es erschien vor wenigen Tagen unter dem Titel "Stabile Ungleichgewichte" im Verlag Suhrkamp. Hierin unterzieht er die klassischen Prinzipien der "Nachhaltigkeit" sowie des "natürlichen Gleichgewichts" einer kritischen Analyse und nimmt die "Ökomodellbauer" ins Visier. Das Prinzip der Nachhaltigkeit, ein ökologisches Leitmotiv seit dem Umweltgipfel von Rio de Janeiro im Jahr 1992 ("sustainable development") taugt seiner Meinung nach in der Praxis nicht viel. Schon ein so einfaches System wie der Wald ist über ein bis zwei Jahrhunderte seines Wachstums nicht wirklich nachhaltig zu bewirtschaften. Unstetigkeiten ergeben sich, wenn der Holzbedarf kurzfristig sehr gross wird, oder wenn, ebenfalls kurzfristig, unerwartet viel Holz anfällt, sei es durch Käferbefall oder Sturmwurf. Auch die übrige Landwirtschaft produziert im Jahreslauf nicht nachhaltig, denn Hilfsstoffe, wie Kunstdünger und Energie müssten in der Bilanz verrechnet werden. Aber wie?

Ebenso hört sich das Prinzip vom Gleichgewicht in der Natur gut an, lässt sich aber in den seltensten Fällen verwirklichen. Überlässt man ein Ökosystem sich selbst, so stellt sich fast immer entweder Nährstoffmangel oder Nährstoffüberschuss ein. Zum Beispiel im Bodensee, wo die Abwässer der Randgemeinden über Jahrhunderte den See gut düngten und eine reichhaltige Felchenfischerei gedeihen liessen. Seit der Installierung der Abwasserringleitung freuen sich die Stuttgarter über gutes Trinkwasser, die Fischer jedoch beklagen den drastischen Rückgang der Felchen. Wie soll hier ein "Gleichgewicht" aussehen - und wer wagt es, ein solches vorzuschlagen? Reichholf fordert deshalb von dem Wunschbild des natürlichen Gleichgewichts Abschied zu nehmen, denn die Natur perpetuiert sich schon selbst, aber auf immer wieder neu aufgebauten Ungleichgewichten. Die Zukunft liegt nach R. zwischen der statischen Starre des Gleichgewichts und der blinden Gläubigkeit an die Machbarkeit von allem. Die Natur braucht immer wieder Ungleichgewichte, damit Neues entstehen kann.

Aus künstlich erzwungenen Gleichgewichten heraus entsteht keine bessere Welt und es werden keine Reformen zustande kommen. Auch der Mensch wäre in der Monotonie eines globalen Gleichgewichts nicht entstanden, sondern es bedurfte der Variation und Selektion über viele Jahrmillionen hinweg.

Wie nennen es Evolution.

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